Esenshire

Sam Palmer saß zusammengesunken auf dem harten Stuhl des Vernehmungszimmers, das eigentlich ein Besprechungsraum war. Seine Augen waren eingefallen, er wirkte müde und kraftlos. Seit dem letzten Verhör hatte Palmer noch drei Mal zu seinem Anwalt Kontakt gehabt, und Taylor war gespannt, welche Strategie sich der Kaufhausmagnat ausgedacht hatte.

Vermutlich wird er mich anschweigen und die Aussage verweigern, dachte er, als er zusammen mit Geoffrey Holmes und Patricia Duncan das Zimmer betrat. Obgleich Patricia noch bis Sonntag Urlaub hatte, bestand sie darauf, bei dieser Vernehmung dabei zu sein. Taylor fielen keine Einwände ein.

Robin Clark saß neben Palmer, eine Hand auf Palmers Unterarm gelegt. Die Bedeutung dieser Geste konnte Taylor noch nicht zuordnen.

»Ich hoffe, Sie haben endlich handfeste Gründe, meinen Mandanten weiterhin hier festzuhalten, Taylor. Schließlich hat mein Mandant ein Unternehmen zu leiten, falls Ihnen diese Tatsache entgangen sein sollte«, blaffte Clark augenblicklich los und sprang auf wie das HB-Männchen.

»Setzen Sie sich doch bitte wieder, Mr. Clark«, sagte Taylor leise und lächelte. Ehe der Anwalt etwas erwidern konnte, fuhr Taylor, diesmal mit ernster Miene, fort. »Es gibt in der Tat neue Aspekte, über die wir mit Ihrem Mandanten sprechen möchten. Es wäre besser, wenn Sie endlich mit uns reden würden, Mr. Palmer«, wandte sich Taylor an den Verdächtigen.

»Solange wir nicht wissen, was Sie meinem Mandanten jetzt wieder vorwerfen, werden wir überhaupt nichts sagen, Taylor«, quiekte Clark, dessen Stimme immer schneller und höher wurde.

»Bisher haben Sie uns nicht erzählt, woher Sie die Waffe hatten, Mr. Palmer. Inzwischen fragen wir uns zudem, woher Sie das Liquid Ecstasy hatten und was Sie mit dem Schalldämpfer nach den Schüssen gemacht haben.«

Palmers Anwalt war erneut aufgesprungen und stemmte seine Fäuste auf die Tischplatte.

»Setzen Sie sich, Clark. Wenn Sie nichts beizutragen haben, was der Aufklärung dient, halten Sie einfach den Mund.«

Patricia und Geoffrey grinsten breit.

»Schalldämpfer? Liquid Ecstasy? Wovon zum Teufel reden Sie, Chief Inspector?«, fragte Palmer leise, der gedankenverloren am Tisch saß und ins Leere starrte.

»Ich sage Ihnen, was sich abgespielt hat, Mr. Palmer. Sie haben Madeleine und Ian Cooper betäubt und anschließend erschossen. Dann haben Sie die Spuren des Betäubungsmittels und den Schalldämpfer beseitigt, bevor Sie sich selbst betäubt haben, um zu simulieren, damit die Kollegen Sie schlafend vorfinden würden.«

Patricia sah Taylor aus dem Augenwinkel an, und er spürte, dass sie seine Ausführungen nicht unkommentiert stehen lassen wollte. Er gab ihr mit einer beiläufigen Handbewegung zu verstehen, ihn nicht zu unterbrechen.

»Also, Mr. Palmer, woher haben Sie die Waffe, woher stammen die KO-Tropfen, und wohin haben Sie die Beweismittel entsorgt?«

Diesmal ließ sich Clark nicht das Wort verbieten. »Das ist doch Bockmist, Taylor. Was reden Sie hier für einen grenzenlosen Scheiß? Merken Sie eigentlich nicht, dass alles, was Sie hier gerade von sich geben, meinen Mandanten entlastet? Zunächst beschuldigen Sie Mr. Palmer, mit der Waffe, die Sie gefunden haben, seine besten Freunde getötet zu haben, ohne dass er ein Motiv dafür hätte. Und jetzt kommen Sie mit Schalldämpfer und Liquid Ecstasy. Was kommt als nächstes? Soll mein Mandant vielleicht durch die offene Terrassentür geflogen und Ihre angeblichen Beweise im Wald verscharrt haben?«

Taylor lächelte. »Vielen Dank, Mr. Clark. Sie haben uns sehr weitergeholfen. Haben Sie noch etwas zu sagen, Mr. Palmer? Andernfalls würde ich Sie gerne wieder in Ihre Zelle bringen lassen.«

Sam Palmer schwieg weiter und starrte auf seine gefalteten Hände. Taylor gab dem uniformierten Beamten, der die ganze Zeit neben der Tür gewartet hatte, ein Zeichen, den Verdächtigen zurückzubringen.

Titel

Sam Palmer ließ sich die Handschellen anlegen und begleitete Constable Peter Hart in die Tiefgarage, wo der Ford Escort stand. Das Untersuchungsgefängnis lag vier Meilen westlich des Polizeireviers, und Constable Hart würde wieder sechs Minuten brauchen. Palmer setzte sich auf die Rückbank und hielt sich mit den gefesselten Händen am Griff unterm Dach fest.

»Dann wollen wir mal, Mr. Palmer«, sagte Hart freundlich und schloss die Wagentür.

Palmer antworte nicht. Die Anschuldigungen, die dieser unfähige Chief Inspector ihm an den Kopf geworfen hatte, waren an Lächerlichkeit nicht zu überbieten. Glaubte er den Bockmist eigentlich, den er da von sich gab? Gut, er war mit einer Waffe neben sich wachgeworden, und seine besten Freunde saßen ihm tot gegenüber. Bis zu diesem Augenblick hätte er sich womöglich auch für schuldig gehalten. Als Taylor allerdings von Schalldämpfer und … wie hieß dieses Zeug noch? … Das war zu viel für ihn, aber Sam Palmer vertraute Robin Clark. Er würde ihn aus dieser Situation herausholen.

Constable Hart hatte inzwischen die Tiefgarage verlassen und fuhr zügig die Hauptstraße entlang. Allerdings kam er nicht sonderlich weit. Etwa sechshundert Meter weiter hielt er an und drehte sich zu Palmer um. »Vor uns stehen mehrere Polizeiwagen. Ich weiß nicht, was da los ist, aber ich werde jetzt nachsehen. Sie bleiben ruhig im Wagen sitzen und warten auf mich«, sagte der Police Constable und stieg aus.

Palmer konnte der Versuchung, einfach auszusteigen, nicht widerstehen, musste aber wenige Sekunden später feststellen, dass der Polizist die Türen abgesperrt hatte. Jetzt war er bereits wieder auf dem Weg zum Auto, ohne dass Palmer sich nach einer anderen Fluchtmöglichkeit umsehen konnte.

»Es hat da vorne einen Unfall mit einem Kleintransporter gegeben. Nichts Dramatisches, aber die Straße ist wohl länger gesperrt. Wir müssen einen Umweg fahren, ich hoffe, Sie haben Zeit, Sir«, lächelte Hart und wendete den Streifenwagen.

Palmer lag eine Bemerkung auf den Lippen, aber er zog es vor zu schweigen. Dieser Constable schien ihm ein noch größerer Trottel zu sein als Taylor.

Hart fuhr nach Süden und verließ Esenshire zwei Meilen später. Palmer erkannte, dass er anscheinend die südliche Umgehung durch das kleine Waldgebiet nehmen würde, und lächelte. Als der Weg schmaler und die Lichtverhältnisse durch die Laubbäume links und rechts schlechter wurden, begann er plötzlich zu röcheln und fiel wie bewusstlos auf den Rücksitz. Es dauerte einige Augenblicke, ehe der Constable offenbar verstand, dass mit seinem Passagier etwas nicht stimmte und er scharf bremste. Palmer wurde beinahe nach vorne geschleudert, es gelang ihm jedoch noch, sich auf der Rückbank zu halten.

»Scheiße, was ist mit Ihnen, Sir?«, hörte er den Polizisten rufen, als er um das Fahrzeug rannte, um die hintere Tür zu öffnen. Das war der Augenblick, den sich Palmer erhofft hatte. Er hob das linke Bein und schob Hart mit einem sanften Tritt nach hinten. Der Constable stolperte rückwärts, von der Attacke vollkommen überrascht, und stieß mit dem Kopf gegen eine Wurzel.

Palmer kraxelte aus dem Escort und näherte sich dem Polizisten vorsichtig, der bewusstlos neben einer Kastanie lag.

»Scheiße«, entfuhr es Palmer und er tastete nach Harts Puls. Der schien ebenso normal wie dessen Atmung. Palmer entspannte sich wieder und griff in die rechte Uniformtasche, in der Hart den Schlüssel für die Handschellen verstaut hatte. Mühsam befreite er sich von den Fesseln und ließ den Constable dabei nicht aus den Augen.

Er hatte keine Ahnung, was er jetzt tun sollte, dieses Szenario hatte er bis zu seiner plötzlichen Idee, wie er sich befreien konnte, nicht durchgespielt. Hart lag nach wie vor bewusstlos am Boden, und Palmer ging zum Kofferraum des Wagens. Ein Blick auf den Constable bestätigte ihm, dass er recht bequem dort hineinpassen würde.

Zwei Minuten später fuhr Sam Palmer mit seiner Fracht im Heck weiter Richtung Milton Creek. Er ging davon aus, dass sein Verschwinden nicht unbemerkt bleiben und es eine großangelegte Fahndung nach ihm und dem Streifenwagen geben würde.

Aus dem Kofferraum hörte er Geräusche, die ihn wissen ließen, dass Constable Peter Hart wieder bei Bewusstsein war.

Titel

Robin Clark hatte das Polizeirevier schimpfend wie ein Rohrspatz verlassen.

»Das ist doch nicht Ihr Ernst, Sir«, sagte Patricia schließlich, als sie wieder in ihrem Büro saßen und das Ergebnis der Vernehmung Revue passieren lassen wollten.

»Was meinen Sie, Sergeant?«, fragte Taylor neugierig.

»Ich meine den Ablauf der Ermordung von Madeleine und Ian Cooper, Sir. Sie glauben doch nicht wirklich, dass Sam Palmer genau das alles getan hat, um zwei Menschen zu töten, wozu er nicht das geringste Motiv hat?«

Taylor grinste sie prahlerisch an. »Sind Sie fertig, Patricia?«

»Nein, Sir, aber ich werde selbstverständlich schweigen, wenn Sie es wünschen«, schnaubte sie.

Taylor stand auf und stellte sich vor seinen Schreibtisch, so dass er gleichzeitig Geoffrey und sie im Blick hatte. »Hartman und sein Team haben das gesamte Haus auf den Kopf gestellt, sie haben zwei Tresore gefunden und geöffnet, Kellerräume und das Gartenhaus vollständig abgesucht. Ich glaube nicht, dass der Schalldämpfer und das Betäubungsmittel auf dem Grundstück zu finden sein werden. Er hätte also alle Spuren verschwinden lassen, sich selbst betäuben und dann zurück ins Haus gelangen müssen. Ich denke nicht, dass es ihm gelungen wäre, ohne vorher einzuschlafen. Demzufolge glaube ich auch nicht, dass Sam Palmer die tödlichen Schüsse abgegeben hat, aber ich bin davon überzeugt, er weiß, wer es getan hat. Und entweder will er den Mörder schützen oder ihn auf eigene Faust zur Strecke bringen.«

»Das glaube ich nicht, Sir«, wandte Geoffrey ein. Er sah Taylor aufmerksam an.

Taylor verstummte. Sein Blick ruhte erwartungsvoll auf seinem Constable.

»Ich meine, Palmer erweckt in mir nicht den Eindruck, als würde er wirklich wissen, was geschehen ist, und ich halte ihn auch nicht für den Racheengel, der eiskalt einen Feldzug plant. Wie sollte er das auch anstellen, aus der Gefängniszelle heraus?«

»Dann will ich hoffen, dass Sie sich nicht täuschen, Holmes. Kommen wir aber zurück zu den Ungereimtheiten, die mich von Beginn an gestört haben. Unser Zeuge Daniel Pitcher hat zwei Schüsse gehört, die aus dem hinteren Teil des Hauses mit einer Waffe abgefeuert wurden, die einen Schalldämpfer besaß. Er muss über ein ausgezeichnetes Gehör verfügen. Wie laut ist eine Waffe mit Schalldämpfer …?« Taylor machte eine Pause und sah Patricia und Geoffrey herausfordernd an. Geoffrey blickte betreten und scheinbar unwissend auf seinen Schreibtisch.

»Rund siebzig Dezibel«, wusste Patricia. »Das ist ungefähr so, wie ich jetzt gerade spreche«, rief sie wesentlich lauter in den Raum hinein.

Geoffrey starrte sie ungläubig an. »Das soll er gehört haben?«

»Ganz sicher nicht. Ein Schuss mit unserer Tatwaffe hat ungefähr einhundertdreißig Dezibel. Das ist ein Düsenflugzeug in rund fünfzig Metern Entfernung.«

Taylor nickte anerkennend. »Sehr richtig, Sergeant. Lassen Sie Pitcher noch einmal zum Herrenhaus kommen. Und Sie, Geoffrey, besorgen zu unserer Tatwaffe einen Schalldämpfer.«

»Wo soll ich den denn herbekommen, Sir?«, fragte Geoffrey irritiert.

»Frag doch deine Freunde von der IRA«, sagte Patricia, fing sich aber umgehend einen finsteren Blick von Geoffrey ein.

»Es reicht«, sagte Taylor scharf.

»Ja, Sir. Verzeihen Sie«, sagte Patricia leise und griff zum Telefonhörer.