Milton Creek

Patricia sah aus, als hätte sie kaum Schlaf gefunden, und auch Geoffrey wirkte alles andere als wirklich gebrauchsfertig. Taylor, dem selbst eigentlich vier Stunden Schlaf reichten, war es diesmal nur mithilfe von drei Tassen Kaffee in zehn Minuten gelungen, wenigstens ein Gefühl von Einsatzbereitschaft zu entwickeln.

Der Parkplatz war für rund ein Dutzend Fahrzeuge ausgelegt und ein recht beliebter Treffpunkt für Hundehalter auf ihrer Gassirunde oder für Wanderer. Der Mercedes von Nigel Ramsey stand hingegen etwa fünfzig Meter weiter auf einem schmalen Wirtschaftsweg, der lediglich von Reitern oder Forstarbeitern genutzt wurde. Oder, wie in ihrem Fall, von einem Teenagerpärchen, das den Rover von seinem Vater geborgt hatte, um hier heimlich im Wald … Taylor hätte um ein Haar geschmunzelt.

Die beiden Zeugen hatten den Ort nach ihrer Aussage wieder verlassen und Taylor versprochen, am Montag das Protokoll in Esenshire zu unterzeichnen. Taylor gab seinem Sergeant und seinem Constable einen kurzen Überblick über das, was sie vorfinden würden und führte sie den Weg entlang zur Leiche des Unternehmers.

»Was ist mit Ihnen, Constable? Sind Sie gegen einen Betonpfeiler gelaufen?«, fragte Taylor ein wenig mitleidig, als er Geoffrey schmerzverzerrt über den Parkplatz humpeln sah.

»Bettpfosten, Sir«, kam es leise von Patricia, die vergeblich ein Lächeln zu verbergen versuchte, während Geoffrey eine Grimasse zog. Taylor sagte nichts, musste aber seinerseits ein Grinsen unterdrücken. Und immerhin hatten sie hier auch noch einen Toten, der ihnen einen Hauch von Pietät abverlangte. Auch wenn der Chief Inspector im Laufe der vielen Dienstjahre gelernt hatte, mit dem Anblick von getöteten Menschen umzugehen, verursachte der erste Anblick hin und wieder ein Ziehen in der Magengegend.

Patricia stülpte sich, ebenso wie Geoffrey und Taylor, Überzieher über ihre Schuhe, ehe sie den schmalen Pfad betraten. »War es Selbstmord, Sir?«, fragte sie, während sie ihre Latexhandschuhe anzog.

»Schwer zu sagen. Samuel Norris hat noch keine Aussage dazu treffen wollen. Er hält aber auch einen Unfall für möglich.«

»Unfall?«, rief Geoffrey ungläubig. »Ich denke, Ramsey hat eine Plastiktüte über dem Kopf. Oder hat er sich seine Einkäufe zu intensiv angesehen?«

Taylor schüttelte den Kopf und führte sie zu dem Toten. Patricia, die wenige Schritte vor Geoffrey lief und den Mercedes als Erste erreichte, schien Taylors Aussage sofort zu begreifen.

»Ja, nicht auszuschließen, dass das so nicht geplant war«, sagte sie und begrüßte den Pathologen.

Als Geoffrey den Toten erblickte, zuckte er kurz zusammen. Es war kein schöner Anblick. Hinter dem Lenkrad des Wagens saß eine Leiche mit heruntergelassener Hose. Der Kopf war unter einer durchsichtigen Plastiktüte verborgen, wie sie in Supermärkten für den Verkauf von Obst und Gemüse angeboten wurden. Die Haut war bleich, und sein Blick wirkte im höchsten Maße …

»Es ist durchaus eine verbreitete Spielart, den Orgasmus durch Sauerstoffmangel noch intensiver werden zu lassen«, erklärte Norris, der den Gesichtsausdruck des Constable offenbar richtig deutete.

»Sie meinen, er hat, während er starb …?« Geoffrey machte eine eindeutige Handbewegung.

Patricia lachte auf. »Du bist einmalig, Geoffrey. Ja, es sieht so aus, als habe er seinen letzten Fick genossen.«

»Und wer? Ich meine, gibt es Spuren der Dame?«

»Wer sagt denn, dass es eine Frau war?«

»Oh …«

»Solange ich ihn nicht auf dem Tisch habe, werde ich mich nicht an Ihren Spekulationen beteiligen. Außerdem überlasse ich den Anblick gerne auch noch dem Coroner.«

Taylor verdrehte die Augen. Jasmin Stubborn war seit einem halben Jahr zum neuen Coroner für die Provinz Esenshire bestellt worden, und sie lieferte sich seither pausenlos intensive Diskussionen und verbale Scharmützel mit Norris.

»Legen Sie sich wenigstens auf den Todeszeitpunkt fest?«

»Irgendwann gestern Abend zwischen achtzehn und zweiundzwanzig Uhr. Aber Genaues erst …«

»… nach der Obduktion. Schon klar, Norris. Danke.«

Taylor wandte sich ab und ging den Pfad wieder zurück zum Parkplatz. Als er den Waldrand erreichte, kam ihm bereits Jasmin Stubborn entgegen. Mit hochrotem Kopf und schnellen Schritten wäre sie beinahe in Geoffrey hineingelaufen.

»Unser Coroner, schön, dass Sie da sind. Norris wartet bereits auf Sie«, sagte Taylor so laut, dass sie abrupt stehen blieb und irritiert den Kopf schüttelte.

»Oh, tut mir leid, Chief Inspector. Ich habe … ich meine … Ich bin etwas in Gedanken. Wissen Sie schon, wer der Tote ist?«

»Nigel Ramsey. Von Palmer & Ramsey.«

»Ich verstehe. Dann kann es ja diesmal nicht Sam Palmer gewesen sein. Oder haben Sie ihn wieder auf freien Fuß gesetzt?«

Taylor verzog das Gesicht. Als Staatsbedienstete war der Coroner zwar zu absolutem Stillschweigen verpflichtet, aber etwas ihn ihm sträubte sich dagegen, ihr von Palmers Flucht zu erzählen. Schließlich nickte er nur. »Sobald die Leichenschau abgeschlossen ist, soll Hartman sich den Wagen und vor allem den Weg gründlich vornehmen. Irgendwohin muss unser Täter ja verschwunden sein.«

»Dann handelt es sich also Ihrer Ansicht nach um Mord?«, fragte Stubborn und rümpfte dabei die Nase, als habe Taylor bereits seine Analyse abgeschlossen, ohne auf ihren Beitrag gewartet zu haben.

»Nun, das wissen wir noch nicht. Norris wollte sich nicht festlegen. Am besten, Sie machen sich Ihr eigenes Bild. Unstrittig ist aber wohl, dass er nicht allein war, als er starb.«

»Ach so …«, stammelte sie und ging dann Richtung Mercedes.

Patricia, die Taylor zusammen mit Geoffrey gefolgt war, blickte ihr hinterher und schüttelte immer wieder den Kopf. »Was war denn das wieder für ein Auftritt, Sir?«

»Also, Sergeant, was halten Sie von der Sache?«, fragte Taylor, der ihren Einwand ignorierte.

»Wenn er tatsächlich beim Sex und sozusagen aus Versehen getötet wurde, hat es womöglich nichts mit unserem Doppelmord zu tun. Falls er aber ermordet wurde, könnte eine Verbindung zum Tod von Ian und Madeleine Cooper bestehen.«

»Ich würde mich wundern, wenn Ramseys Tod nur ein tragischer Unfall war«, sagte Geoffrey selbstsicher.

Zwei Augenpaare richteten sich auf ihn.

»Ich meine, wenn es tatsächlich ein Sexunfall gewesen sein sollte, und auf den ersten Blick mag es ja so aussehen, warum ist die zweite Person spurlos verschwunden? Und wenn es ihr peinlich war, als Ramseys Gespielin entdeckt zu werden, hätte sie dann nicht später einen anonymen Notruf abgesetzt?«

»Was schließen Sie also daraus, Holmes?«

»Dass Ramsey während des Geschlechtsaktes vorsätzlich getötet wurde und keine Gegenwehr leistete, weil er dachte, es gehört dazu. Bis es zu spät für ihn war.«

Taylor nickte. Sie waren unterdessen weitergegangen und standen wieder an ihren Autos. Auf dem Parkplatz wimmelte es inzwischen von Polizeifahrzeugen, Krankenwagen und den weißen Transportern der Spurensicherung. Hinter der Absperrung zur Straße entdeckte Taylor ein Rudel Pressevertreter, die mit Schreibblöcken, Mikrofonen und Kameras bewaffnet auf ihn zu warten schienen. Er ignorierte die Meute und wandte sich wieder Patricia und Geoffrey zu.

»Was wissen wir bis jetzt über Ramsey? In zwei Stunden treffen wir uns im Büro. Tragen Sie alles zusammen, was Sie über den Mann in Erfahrung bringen können. Sehen Sie sich in seinem Haus um, sprechen Sie mit den Nachbarn, mit seinen Mitarbeitern. Hartman soll später alles auf den Kopf stellen. Wenn es eine Verbindung zur Ermordung der Coopers gibt, werden wir sie finden.«

»Ja, Sir«, sagte Patricia und wollte soeben in ihren Wagen steigen. Sie hielt inne und sah Taylor einen Augenblick irritiert an. »Und was werden Sie jetzt tun, Sir?«

»Ich fahre nach Birmingham und hoffe, dass die Gerichtsmedizin Neues über Whitfield zu berichten hat.« Dann stieg er in den Wagen und fuhr den lautstarken Rufen der Journalisten davon.

Titel

Sam Palmer schreckte hoch, als er den kalten, feuchten Kuss auf seiner Wange spürte. Als er die Augen öffnete, starrten ihn zwei runde, dunkle Löcher an. Er schrie auf und wich vor dem borstigen Ungetüm zurück, das, ebenso erschrocken wie er selbst, grunzend einen Sprung zur Seite vollführte. Während das Wildschwein ihn aus einigem Abstand taxierte, schlug Palmer hart mit Kopf und Rücken gegen den Baum, unter dem er eingeschlafen war.

Er rieb sich den Hinterkopf und versuchte, seinen schmerzenden Körper aufzurichten. Mühsam stemmte er sich in die Horizontale, und erst jetzt hörte er das vielstimmige Grunzen und Scharren um ihn herum. Er zählte auf einen Blick acht Wildschweine, die im Laub nach Essbarem suchten und sich nicht von ihm stören ließen. Das Tier, das ihn geweckt hatte, entfernte sich ebenfalls weiter von ihm, und die Rotte schob sich tiefer in den Wald hinein.

Palmer atmete erleichtert auf. Er hatte keine Erfahrung im Umgang mit Tieren, von wilden Tieren ganz zu schweigen. Er bewegte sich einige Schritte in die entgegengesetzte Richtung. Die Schmerzen in seinen Beinen und im Rücken ließen nach wenigen Metern nach, und Palmer lief zwischen den Bäumen und Farnen weiter geradeaus, ohne sich umzudrehen. Würden sie ihm folgen? Sollte er seine Schritte beschleunigen oder lieber langsam und ohne Eile weitergehen? Er hatte keine Ahnung, wie spät es war. Die Morgendämmerung hatte zwar eingesetzt, aber der dichte Wald ließ nur wenig Licht hindurch, so dass er sich mehr vorwärts tastete, als wirklich zu sehen, wohin er trat.

Ein Ast mit taufeuchten Blättern schlug ihm unsanft ins Gesicht und erinnerte ihn daran, dass der eklige Geschmack auf seiner Zunge dem Durst geschuldet war, den er bislang ignoriert hatte. Er rieb die Feuchtigkeit von den Blättern und leckte sich gierig die Finger. Ein herrlich frischer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus und erinnerte ihn schlagartig daran, weshalb er sich in dieser Situation befand. Er stützte sich mit einer Hand am Stamm des Baumes ab und atmete tief durch. Bis ihm etwas über die Hand krabbelte. Panisch riss Palmer seine Hand zurück und rannte blindlings los. Er stolperte und konnte sich mit letzter Kraft auf den Beinen halten. Die Geräusche, die der Wind erzeugte, schienen mit einem Mal seinen Namen zu rufen. Palmer riss die Arme hoch, hielt sich die Ohren zu und rannte weiter. Erneut blieb er an einer Wurzel hängen, und diesmal gelang es ihm nicht, sein Gleichgewicht zu halten. Er fiel auf die Knie und rutschte einen kleinen Abhang hinunter. Jäh wurde seine Schlitterpartie auf dem feuchten Boden am Stamm eines mächtigen Baumes beendet. Palmer stöhnte auf und blieb regungslos liegen. Der stechende Schmerz in seiner rechten Hüfte ließ so schnell nach, wie er gekommen war.

Das Rauschen in seinen Ohren schwoll an, und Palmer erkannte langsam, dass er in unmittelbarer Nähe zu einem Bach liegen musste. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wohin dieses Gewässer floss, aber es bot ihm die Gelegenheit, mehr als nur ein paar Tropfen Tau zu trinken. Vorsichtig stand er auf. Zwischen den Bäumen drang das Licht der aufgehenden Sonne mehr und mehr hindurch. Es war ein fantastisches Bild, und Palmer verharrte regungslos. Für einen kurzen Augenblick vergaß er seine Situation und betrachtete das Spiel der Farben.

Das Plätschern des Baches verschmolz mit dem Rauschen der Blätter und dem Gesang der Vögel. Palmer sah sich um, und jetzt entdeckte er das kleine Gewässer auch, das sich durch den Wald schlängelte und, wie Palmer vermutete, irgendwo in den Trent floss. Vorsichtig ging er an den Rand des schmalen Baches und kniete sich, beinahe andächtig, nieder. Die kühle Feuchtigkeit belebte seinen müden, geschundenen Körper, und er nahm vorsichtig ein paar Schlucke.

Ein Knacken hinter ihm ließ ihn jäh aufhorchen. Ehe er in die erschrockenen Augen eines Rehs sehen konnte, verlor er die Balance und fiel der Länge nach in den Bach. Aus dem Augenwinkel erkannte er die Umrisse des fliehenden Tieres und fluchte lautstark. Das Wasser war nicht tief, vielleicht zehn, fünfzehn Zentimeter, aber er hatte Mühe, auf den rutschigen Steinen Halt zu finden und so brauchte er eine gefühlte Ewigkeit, bis er auf der anderen Seite des Flüsschens wieder festen Boden unter den Füßen hatte.

Verdammte Scheiße, fluchte er lautstark. Sein Blick glitt abermals durch den Wald, und jetzt erkannte er nicht nur die Lücken zwischen den Bäumen, durch die die Sonne drang, sondern auch eine Straße. Oder hatte er bereits Halluzinationen? Hatte er nicht soeben dort ein Auto fahren sehen?

Vollkommen durchnässt ließ ihn der Wind nun frieren, und ein Zittern erfasste seinen ganzen Körper. Reiß dich zusammen, zischte er, und endlich gelang es seinen Füßen, sich in Bewegung zu setzen. Schritt für Schritt stapfte er zwischen Bäumen, Farnen und Büschen hindurch und näherte sich der Lichtung, auf der er glaubte, ein Auto gesehen zu haben. Und tatsächlich, weitere Fahrzeuge fuhren dort an ihm vorbei. Palmer erkannte einen Kastenwagen der BBC, der mit hoher Geschwindigkeit entlang brauste.

Was die wohl hier wollten? Waren die seinetwegen in der Gegend? War ihm die Polizei näher auf den Fersen, als er befürchtete?

Er wusste die Antwort nicht und blieb im Schutz der Bäume einige Meter von der Straße stehen. Jetzt glaubte er auch zu wissen, wo er sich befand. Wenn seine Annahme stimmte, war er rund drei Meilen von Werdum Market entfernt. Er löste sich aus seinem Versteck und ging zur Straße. Tatsächlich entdeckte er einen Wegweiser. Hastig schritt er voran und lief auf den Holzpfosten mit den beschrifteten Brettern zu.

Werdum Market – 4 Meilen. Palmer atmete erleichtert auf. Schon bald wäre er in Sicherheit. Er würde zu Nigel Ramsey gehen und ihn um Schutz bitten. Er war sicher, dass sein Freund und Partner ihn bei sich verstecken und vor der Polizei beschützen würde.

Unvermittelt hörte er ein Motorengeräusch, eine Hupe und quietschende Bremsen. Dann nichts mehr.