Taylor wusste wenig über den jungen Mann, der ihn und Sergeant Patricia Duncan als Constable unterstützen sollte. Lediglich, dass Holmes aus Liverpool stammte und in den vergangenen drei Jahren seine Ausbildung als Polizist absolviert hatte.
Der Chief Inspector fuhr die Mansfield Road entlang und sah schon von weitem die flackernden Blaulichter der Streifenwagen und Ambulanzen. Etwa dreihundert Meter vom Haus entfernt hatten uniformierte Beamte damit begonnen, die Straße durch Bänder abzusperren und die Schaulustigen – Taylor fragte sich, wo die um halb drei Uhr morgens alle herkamen – vom Tatort fernzuhalten.
Er hielt einem der Uniformierten seinen Dienstausweis entgegen, und der Constable hob das Absperrband so weit, dass Taylors BMW hindurchfahren konnte. Unmittelbar vor dem von einer hüfthohen Mauer umsäumten Grundstück versuchte ein weiterer Constable gerade, einen Mann mit Kamera daran zu hindern, zum Tatort zu gelangen.
»Hey, Sie. Was haben Sie hier zu suchen?«, heischte Taylor den Mann an, und dieser ließ vor Schreck seine Kamera fallen. Der dunkelhäutige Constable griff danach, ehe der Besitzer des Fotoapparates dies tun konnte.
»Was soll das? Das ist Polizeiwillkür. Ich bin Pressevertreter und habe ein Recht, hier zu berichten«, maulte der Mann und wurde so rüde von dem Uniformierten zurückgestoßen, dass er gegen Taylor stolperte und sich danach beim Chief Inspector über die grobe Behandlung zu beschweren begann.
Taylor erkannte ihn. Wallace Smith gehörte zur besonders aufdringlichen Sorte Fotoreporter, die ihre Bilder an die meistbietende Zeitung verkaufte.
»Wenn Sie nicht innerhalb von dreißig Sekunden hinter der Absperrung sind, Smith, werde ich Sie wegen Widerstand gegen Polizeibeamte festnehmen und anklagen. Und jetzt verschwinden Sie.«
Smith sah Taylor angewidert an und wollte erneut nach seinem Fotoapparat greifen.
»Holen Sie sich den morgen früh auf dem Revier ab«, sagte Taylor streng.
»Sie meinen heute früh«, raunte Smith und verzog sich langsam.
»Ich sagte morgen früh, Smith. Und wenn Sie sich nicht ein wenig schneller bewegen, schaffen Sie den Weg bis zur Absperrung nicht in dreißig Sekunden«, rief Taylor ihm hinterher, und Smith begann, schneller zu laufen.
»Sie kennen den Vogel demnach?«, fragte der Constable und reichte Taylor die Hand.
Taylor hatte dem Uniformierten bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Jetzt standen sie sich jedoch direkt gegenüber, und Taylor betrachtete ihn aufmerksam. Seine Stimme hatte er nicht sofort wiedererkannt, jetzt wusste er allerdings, wen er hier vor sich hatte. Dass es sich um einen Farbigen handelte, wunderte ihn nur insofern, als dass die Anzahl dunkelhäutiger Einwohner in den ländlichen Grafschaften Englands immer noch eher die Ausnahme war. Das hing in erster Linie mit dem immer noch vorherrschenden Kolonialbild der alteingesessenen Bevölkerung zusammen.
»Geoffrey Holmes, Sir. Wir hatten vorhin telefoniert.« Geoffrey grinste breit und reichte Taylor die Hand.
»Ich hatte mir unser erstes Treffen zwar etwas ruhiger gewünscht, aber so erfahren Sie direkt, wie Polizeiarbeit hier funktioniert. Sie haben die Ausbildung vor drei Wochen abgeschlossen, Holmes?«, fragte Taylor und legte dem jungen Constable die Hand freundschaftlich auf die Schulter.
»Ja, Sir. Und ich glaube, zur Polizei zu gehen, war die richtige Entscheidung. Außerdem wurde mir gesagt, einen besseren Chief Inspector als Sie würde ich kaum finden können.« Geoffrey grinste immer noch.
Taylor rollte mit den Augen. Entweder war Geoffrey Holmes tatsächlich eine Frohnatur, oder er musste dem Jungen seine aufgesetzte Fröhlichkeit schnellstens abgewöhnen. Er grinste, als er daran dachte, wie er auf Patricia Duncan wirken würde.
»Also gut. Was haben wir hier?« Taylor blickte zum Haus. Im Garten waren etliche in weißen Schutzanzügen steckende Mitarbeiter der Spurensicherung dabei, im Licht der Scheinwerfer Hinweise zu finden.
»Sie sprachen am Telefon von zwei Toten, Holmes«, sagte Taylor und ging auf dem gepflasterten Weg zum Haus, wobei er einem der Kriminaltechniker einen fragenden Blick zuwarf.
»Sie können den Weg nutzen, Sir. Wir machen jetzt erst einmal vor dem Haus weiter und anschließend hinten.«
Taylor nickte dankbar und wandte sich wieder Geoffrey zu.
»Ja, Sir. Madeleine und Ian Cooper …«, antwortete Geoffrey auf Taylors vorherige Frage.
»Ian Cooper? Von der Whiskybrennerei Bornshill?«
Geoffrey räusperte sich. »Äh, ja, Sir. Und der Mörder der beiden wartet in der Küche auf Sie.«
»Der Mörder?« Taylor blieb stehen und sah Geoffrey entgeistert an. »Wollen Sie sagen, dass jemand zwei Menschen tötet und sich dann von der Polizei am Tatort festnehmen lässt?«
Geoffrey lächelte. »Ganz so war es nicht, Sir. Ein Spaziergänger, der mit seinem Hund hier vorbeikam, hörte zwei Schüsse und rief die Polizei. Die Constables Hastings und Porter waren als Erste am Tatort. Da die Haustür verschlossen war, sind sie durch den Garten und kamen so direkt ins Wohnzimmer, wo sie die Leichen und Mr. Palmer vorfanden. Sam Palmer saß auf dem Stuhl gegenüber der Opfer und schlief. Er hatte die Pistole in seiner Hand. Daraufhin …«
»Palmer schlief?«, fragte Taylor ungläubig und ging zielstrebig auf das Haus zu.
»Ja, Sir. So haben die Kollegen ihn vorgefunden. Daraufhin alarmierten sie die Spurensicherung und uns. Die beiden kannten mich von meinem letzten Lehrgang, weshalb sie mich anriefen.«
Ein weiterer Mitarbeiter der Spurensicherung nahm soeben Fingerabdrücke von der Haustür.
»Wo ist die Küche, Holmes?«, fragte Chief Inspector Taylor, ehe er rechts bereits durch die offene Tür Sam Palmer in der Küche wie ein Häufchen Elend auf einem Stuhl sitzen sah.
Vier uniformierte Beamte standen um den Tatverdächtigen.
»Ich werde mir zunächst den Tatort ansehen«, entschied Taylor und wurde von Geoffrey ins Wohnzimmer geführt.
»Was ist mit dem Zeugen?« Taylor drehte sich zu Geoffrey und sah, wie dieser in seinem Block blätterte.
»Daniel Pitcher. Er ist fünfundsiebzig, aber sehr rüstig. Ein Kriegsveteran. Hat mich erstmal über seine militärischen Verdienste aufgeklärt, bevor ich eine vernünftige Aussage von ihm bekam. Gesehen hat er offensichtlich nichts. Nur zwei Schüsse gehört. Und ja, Sir, er war sofort sicher, dass es Schüsse waren.«
Taylor stand in der Eingangshalle und drehte sich langsam um die eigene Achse. Es grenzte für ihn an ein Wunder, dass in dieser Gegend ausgerechnet zur Tatzeit jemand vorbeigekommen war und die Schüsse gehört hatte.
»Gut, dass Mr. Pitcher zur Stelle war.«
»Er geht jeden Abend um dieselbe Zeit hier vorbei, Sir. Immer um dreiundzwanzig Uhr fünfundvierzig«, sagte Geoffrey wie beiläufig.
»Aha«, sagte Taylor lediglich und trat in das Wohnzimmer.
Der große Raum war übersichtlich eingerichtet. In der Mitte stand ein gewaltiger Tisch, an dem zwölf Personen Platz gefunden hätten. An den Wänden hingen Porträts, die nach Taylors Geschmack besser in einem dunklen Keller aufgehoben wären. Einige Kommoden und ein großer Sekretär rundeten das Bild ab.
»Wer hat die Terrassentür geöffnet?«, fragte Taylor, als ihm bei seinem Eintritt in den Raum ein kühler Luftzug entgegenwehte.
»Die war schon offen, Sir«, antwortete Geoffrey, der sich dicht hinter ihm hielt. »Weshalb die beiden uniformierten Kollegen ja auch so einfach hier eintreten konnten.«
Der Chief Inspector ging näher an den Tisch, blieb aber einige Schritte davor stehen. Drei Mitarbeiter der Spurensicherung waren dabei, Fotos zu machen und Fingerabdrücke festzuhalten.
Madeleine und Ian Cooper saßen auf ihren Stühlen. Ihre Gesichter wirkten friedlich, als würden sie schlafen. Lediglich das Loch mitten in der Stirn und das Blut, das aus der Wunde ausgetreten und über das Gesicht gelaufen war, gaben Auskunft über ihren wahren Gesundheitszustand.
»Es muss schnell gegangen sein. Sie wirkten nicht so, als hätten sie zu fliehen versucht«, bemerkte Taylor.
»Der Notarzt hat die Schussverletzung als Todesursache bestätigt«, ergänzte Geoffrey und trat zwei Schritte auf den Tisch zu. Taylor hielt ihn zurück.
»Vorsichtig, Holmes. Lassen Sie die Spurensicherung in Ruhe ihre Arbeit machen.« Dann wandte er sich an einen der weiß gekleideten Männer.
»Es gibt keine Austrittswunde?« Die Frage war an Peter Hartman, den Leiter der technischen Abteilung gerichtet.
Hartman sah auf und schüttelte den Kopf. »Nein, das Projektil ist noch im Schädel. Das ist bei dem kleinen Kaliber der Waffe nicht ungewöhnlich. Die Kugel ist frontal in den Kopf eingetreten. Aber alles andere können dir der Coroner und der Pathologe sagen.« Dann wandte er sich wieder seiner Arbeit zu, und Taylor sah sich den Raum aufmerksam an.
»Ich will von dem ganzen Zimmer Fotos. Von jedem Bild, von jedem Schrank, von jedem Glas. Alles.«
Hartman schaute erneut hoch. »Suchst du irgendwas Spezielles?«
Taylor schüttelte den Kopf. »Kann ich dir erst sagen, wenn ich die Fotos sehe. Ich hab jedenfalls ein merkwürdiges Bauchgefühl.«
»Vielleicht sollten Sie etwas essen, Sir«, warf Geoffrey ein, und Taylor verzog das Gesicht.
»Also, wo ist unser Tatverdächtiger?« Taylor wandte sich vom Tatort ab und schritt zielstrebig auf die Küche zu. Als er eintrat, reichte ein weiterer uniformierter Beamter dem Chief Inspector einen Klarsichtbeutel, in dem sich eine Pistole befand. Taylor las den Namen Lake auf der linken Brustseite.
»Die Tatwaffe, Sir. Eine Colt 1911. Damit hat Palmer die tödlichen Schüsse auf das Ehepaar Cooper abgefeuert«, sagte der Constable sichtlich stolz, ehe er offenbar Taylors finsteren Blick registrierte. »Im Magazin fehlen vier Kugeln. Möglicherweise hat Palmer zuvor Schießübungen mit der Waffe gemacht«, fuhr er ungerührt fort.
»Gute Arbeit, Constable Lake. Damit haben Sie der Polizei, den Kronanwälten und dem Gericht die Arbeit abgenommen. Sollen wir Mr. Palmer sofort ins Gefängnis stecken? Oder wollen wir erst einmal unsere Arbeit machen?« Taylor betrachtete den Jungen, der kaum älter als zwanzig war und höchstwahrscheinlich die Polizeischule gerade erst beendet hatte.
Der Constable blickte betreten zu Boden und trat einige Schritte beiseite, um seinen ursprünglichen Posten wiederaufzunehmen.
»Gut«, sagte Taylor, mehr zu sich selbst, und wandte sich an den Tatverdächtigen. »Ich bin Chief Inspector Henry Taylor. Haben Sie bereits einen Anwalt verständigt?«
Palmer hatte das Wortgefecht zwischen Taylor und dem Constable offenbar ignoriert. Er blickte auf seine Hände, die zittrig auf der Tischplatte lagen. Jetzt allerdings sah er auf und betrachtete Taylor mit geröteten Augen. Dann schüttelte er langsam den Kopf.
Taylor zog sich einen Stuhl heran, nahm gegenüber von Sam Palmer Platz und holte ein Notizbuch aus seiner Jackentasche hervor.
»Ist eine Blutprobe genommen worden?« Taylor hatte sich an Geoffrey gewandt, der dies bejahte.
»Können wir uns hier unterhalten, Mr. Palmer?«
Palmer nickte stumm und knetete seine Finger ineinander.
»Ich werde Sie jetzt als Tatverdächtigen vernehmen, Sir. Sie haben das Recht, die Aussage zu …«
»Ich habe ihn bereits über seine Rechte belehrt, Sir«, sagte Geoffrey ruhig.
»Was ist passiert?«, fragte Palmer leise und dehnte seine Worte, als falle ihm das Sprechen schwer.
»Ich hatte gehofft, dass Sie mir das erzählen würden. Woran erinnern Sie sich?«
Palmer schien nachzudenken. Sein Blick schweifte im Raum umher und blieb dann auf einer leeren Stelle an der Wand hängen. »Wir haben uns getroffen. Ich und die Coopers. Wie jeden ersten Dienstag im Monat. Sie kamen ein paar Minuten später als geplant. Ian hatte noch in der Firma zu tun. Aber sie waren gut gelaunt. Wir haben über die Eröffnung unserer neuen Filiale gesprochen, und Madeleine freute sich schon drauf.« Er machte eine Pause und bewegte seine Hände auf der Tischplatte, als würde er etwas glattstreichen.
»Wann sind die Coopers bei Ihnen angekommen?«
»Um halb neun. Normalerweise kamen sie immer schon um acht Uhr. Aber diesmal wurde Ian noch in der Destillerie aufgehalten.«
»Wer wusste davon, dass Sie sich hier regelmäßig trafen?«
Palmer sah verwirrt auf seine Hände, die jetzt ruhig auf dem Tisch lagen. »Könnte ich vielleicht etwas Wasser bekommen, bitte?«
»Geoffrey«, bat Taylor, und Geoffrey öffnete einige Schränke, ehe er ein Glas gefunden hatte. Er füllte es an der Spüle und reichte es Palmer, der gierig trank.
»Also, wer wusste, dass Sie sich hier jeden Monat trafen?«, hakte Taylor nach.
Palmer schüttelte den Kopf. »Ian und Madeleine kommen … kamen ja nicht nur einmal im Monat. Sie waren manchmal zwei, drei Mal in der Woche hier.«
»Wo ist Ihre Frau, Mr. Palmer?«, fragte Taylor, dem in diesem Augenblick erst bewusstwurde, dass jemand fehlte, der doch hätte hier sein sollen.
»Isabel ist bei einer Freundin in Esenshire. Das macht sie ebenfalls jeden ersten Dienstag im Monat. Sie bereitet uns Limonade und Sandwiches zu und fährt dann.« Er starrte Taylor erschrocken an. »Was ist mit Isabel?«
Aus dem Augenwinkel sah Taylor, wie Geoffrey den Kopf schüttelte. »Im Haus ist sonst niemand mehr, Sir«, sagte dieser leise.
»Wir haben sie noch nicht erreichen können«, antwortete Taylor, und Palmer schien sich ein wenig zu entspannen.
»Erzählen Sie weiter. Wie verlief der Rest des Abends?«
»Wir sprachen über die neue Filiale in Paris. In zwei Wochen ist Eröffnung. Madeleine war enttäuscht, als ich ihr sagte, es wäre ein reines Lebensmittelgeschäft. Exotisch und exklusiv, ja, aber ohne Modebereich. Wir tranken und aßen. Dann habe ich den Cognac geholt.«
»Und dann, Sir?«
»Dann wurde alles plötzlich schwarz vor meinen Augen. Als ich wieder zu mir kam, stand die Polizei vor mir, und ich sah, dass Ian und Madeleine … Sie sind tot, nicht wahr?«
Taylor registrierte die Monotonie in Palmers Stimme. Der Unternehmer wirkte auf ihn nicht wie jemand, der kurz zuvor kaltblütig zwei Menschen getötet hatte.
Taylor nickte seinem Constable zu, dann sagte er zu Palmer: »Wir werden Sie jetzt mitnehmen müssen, Sir. Sie stehen im Verdacht, Madeleine und Ian Cooper getötet zu haben. Woher stammt die Waffe, Mr. Palmer?«
Palmer blickte wie ein gehetztes Tier zwischen Taylor und Geoffrey hin und her. Seine Augen waren getrübt, und sein Gesicht hatte sich aschgrau verfärbt.
Taylor stand auf und wandte sich an Geoffrey: »Lassen Sie Palmer ins Krankenhaus bringen. Ich will, dass er gründlich untersucht wird. Irgendetwas stimmt mit dem Mann nicht.«
»Ja, Sir«, sagte Geoffrey und wandte sich bereits um, als Taylor ihm noch einen weiteren Auftrag gab: »Und lassen Sie ihn zu keinem Zeitpunkt unbeobachtet, Holmes.«
Geoffrey nickte. »Natürlich, Sir.«