Kristin Lundby hatte beinahe zwei Stunden damit verbracht, zu der Adresse zu gelangen, unter der Rolf Nilsson gemeldet war. Das lag allerdings in erster Linie daran, dass sie eine gefühlte Ewigkeit mit der Streifenwagenbesatzung diskutierte, die sie nicht an einer Unfallstelle vorbeilassen wollte. Erst als sie drohte, sich beim Reichspräsidenten persönlich zu beschweren, durfte sie passieren.
Jetzt stand sie vor einem hellblau gestrichenen Wohnhaus und blickte an der Fassade empor. Abgesehen von den unterschiedlichen Farben und der Gestaltung der Balkons sahen all diese Mietskasernen für Kristin gleich aus. Sie fragte sich, ob sie sich in dieser Stadt mit ihren rund fünfundachtzigtausend Einwohnern wohlfühlen würde. Die Stadt war hell und sauber, die Menschen jedoch wirkten eine Spur melancholischer als in Stockholm.
Kristin warf den Gedanken beiseite und fand die Klingel von Rolf Nilssons Wohnung. Sie lag in der ersten Etage des dreistöckigen Hauses. Eine halbe Minute nach ihrem ersten Klingeln versuchte sie es ein zweites Mal und drückte auch auf die anderen Knöpfe. Unmittelbar danach ertönte der Summer der Haustür. Noch bevor die Polizistin das Treppenhaus betreten hatte, wurde sie durch eine alte Frau im Erdgeschoss bereits empfangen.
»Wen suchst du?«, giftete die Alte gereizt und zog ihre Kittelschürze zurecht.
»Ich suche Rolf Nilsson. Er wohnt über dir?«, fragte Kristin und machte sich bereits auf den Weg in die erste Etage. Jetzt trat die alte Frau aus ihrer Wohnung und stellte sich ihr in den Weg. Sie war klein, schlank und roch nach Putzmitteln.
»Und was willst du von Rolf?« Sie sprach so laut, dass ihre Stimme bis in den dritten Stock zu hören sein musste.
Kristin hatte keine Lust, sich eine Ausrede auszudenken, warum sie hier war. Sie zückte ihren Dienstausweis und hielt ihn der Alten unter die Nase. »Weißt du, ob Rolf zu Hause ist?«
Die Nachbarin fuhr zusammen und huschte zurück in die Sicherheit ihrer Wohnung. »Ich weiß gar nichts. Ich sehe nichts, ich höre nichts, ich sage nichts«, blaffte sie und warf schließlich die Tür hinter sich zu.
Kristin musste unwillkürlich lächeln, obwohl ihr nicht der Sinn nach Humor stand. Sie ging in die erste Etage und blieb vor einer der Wohnungstüren stehen. Ihr Blick fiel auf das Schild unter der Schelle. Rolf Nilsson. Sie klingelte und presste ihr Ohr gegen die Tür.
Stille.
Sie klopfte und horchte erneut. Knirschend gab die Tür nach, Kristin fiel taumelnd nach vorn und hielt sich instinktiv mit einer Hand am Türrahmen fest. Sie fand sich in der Diele wieder und griff mit der anderen Hand nach ihrer Waffe.
Verdammt. Ihre Pistole lag im Waffenschrank im Polizeirevier in Stockholm.
Die Wohnung lag im Dunkeln, lediglich die schwache Beleuchtung aus dem Treppenhaus ließ sie schemenhaft eine Kommode, einen Garderobenständer und zwei geschlossene Türen erkennen.
»Hallo, Rolf«, rief sie halblaut und horchte auf mögliche Geräusche, die nicht vorhanden waren.
Kristin fand den Lichtschalter, und eine nackte Glühbirne erhellte den Flur mit ihrem spärlichen Widerschein. Es roch muffig, als sei schon tagelang niemand hier gewesen. Die Wände waren mit weißer Raufaser beklebt. Der dunkelbraune PVC war fleckig, und Kristin hatte das Gefühl, er lag hier schon seit der Fertigstellung des Hauses. Sie ging zur Tür gegenüber dem Eingang und klopfte. Dann öffnete sie und fand sich in einem geräumigen Badezimmer wieder. Ihr Blick schweifte über die Toilette und die Dusche zum Waschbecken. Ein Handtuch hing an einem Haken, und eine Zahnbürste lag auf der Ablage über dem Waschtisch. Weitere Hinweise, dass hier jemand wohnte, gab es nicht. Die Polizistin drehte sich herum und riss die zweite Tür auf. Der Wohnraum war bis auf einen Kleiderschrank, eine verschlissene Couch und einen Fernseher ebenfalls leer. Sie öffnete den Schrank. Zwei Hemden, eine Hose, Unterwäsche und ein Overall der Tankstelle. Alles ordentlich zusammengefaltet auf drei Regalbrettern verteilt. Im hinteren Teil des Zimmers führte eine Tür in eine winzige Küche. Kristin erkannte von ihrer Position einen Tisch und an der Wand dahinter eine Kochzeile. Der Geruch, der ihr im Flur begegnet war, hatte von der gesamten Wohnung Besitz ergriffen.
Sollte Rolf Nilsson tatsächlich hier wohnen, war er sehr genügsam. Sie griff zu ihrem Mobiltelefon und wollte gerade die Spurensicherung anfordern, als ihr einfiel, dass dies hier weder ihre Stadt war, und noch wichtiger, dass sie keinen Anlass vorweisen konnte, der ihre Anwesenheit hätte rechtfertigen können.
»Verfluchter Mist«, schimpfte sie und trollte sich aus der Wohnung. Als sie wieder im Treppenhaus stand, schüttelte sie fassungslos den Kopf und verharrte für einen Augenblick. Nach allem, was sie über Rolf wusste, passte die spartanische Einrichtung zu ihm, aber dennoch war Kristin betroffen. Wie konnte ein Mensch nur so leben? Sie hatte nirgendwo persönliche Gegenstände wahrgenommen. Keine Fotos an den Wänden, keine Erinnerungsstücke auf der Fensterbank.
Hatte er noch eine Wohnung, von der sie nichts wusste? Wo er nicht offiziell gemeldet war? Vielleicht irgendwo auf einem Campingplatz?
Kristin zuckte mit den Schultern und hatte den ersten Treppenabsatz bereits hinter sich, als sie erneut innehielt. Dann rannte sie die Stufen wieder hinauf, bis sie im dritten Stock ankam und tief durchatmete. Sie musste unbedingt mehr Sport treiben, schwor sie sich, und klopfte gegen die rechte Tür.
Gerade, als sie sich der anderen Seite zuwenden wollte, öffnete sich die Wohnungstür einen kleinen Spalt, und ein blasser, spindeldürrer Mann, von der Wollmütze bis zu den Schuhen in Schwarz gekleidet, blickte sie ängstlich an.
»Ja?« Ein heiseres Flüstern.
Sie holte erneut ihren Dienstausweis hervor und hielt ihn vor das Gesicht des Mannes. »Kristin Lundby. Kriminalpolizei Stockholm. Ich bin auf der Suche nach Rolf Nilsson. Er ist offensichtlich nicht zu Hause. Hast du eine Ahnung, wo ich ihn finden kann?«
»Polizei?« Das Flüstern wurde zu einem heiseren Piepston.
»Es geht um eine Zeugenaussage. Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest.« Ihr Blick fiel auf das Namensschild. Magnus Winter. Kristin beschloss, ihn durch den Computer laufen zu lassen.
»Ich weiß nicht. Ich rede nicht mit den Menschen hier im Haus.«
Was für eine beschissene, einsame Welt ist das geworden, dachte sie und wollte ihm weitere Fragen stellen, als er die Tür wieder schloss und sich hörbar von ihr entfernte.
Sie bezweifelte, dass irgendjemand ihr sagen konnte, wo sie Rolf finden würde.