Es war bereits nach zehn Uhr, als Taylor sein Frühstück beendet hatte. Die Atmosphäre rund um den Küchentisch war an diesem Morgen gespenstisch, niemand hatte gewagt, den anderen anzusehen oder mehr als nur das Nötigste zu sprechen. Was diese Stimmung ausgelöst hatte, wusste der Chief Inspector nicht, und auch er hatte nicht versucht, die angespannte Situation zu entschärfen. Jetzt saß er allein an seinem Platz und starrte aus dem Fenster auf den Kirschlorbeer, den er eigentlich längst hätte schneiden wollen.
Das Klingeln an der Haustür und Felix‘ Stimme, die »Ich geh schon«, rief, rissen ihn aus seinen melancholischen Gedanken, die er nicht greifen konnte.
»Hallo, Felix. Wie geht es dir und Julia?«, hörte Taylor die Stimme von Patricia Duncan, die wenige Augenblicke später ihren Kopf durch die Küchentür steckte.
»Guten Morgen, Sir«, sagte sie, ohne den Raum zu betreten.
»Guten Morgen, Sergeant. Kommen Sie doch herein«, begrüßte er sie und winkte sie zu sich. »Möchten Sie einen Kaffee?«
»Danke, Sir. Andrew und ich haben schon gefrühstückt, und zu viel Kaffee bekommt mir nicht. Ich war aber gerade im Büro und habe interessante Neuigkeiten.« Patricia trat näher und setzte sich auf den Platz, der am nächsten zur Tür war.
»Jetzt machen Sie es nicht so spannend. Was haben Sie an einem Sonntag so früh herausbekommen?«
»Sie wollten doch wissen, ob es möglicherweise eine gemeinsame Quelle für die KO-Tropfen gibt.«
Taylor blickte hilfesuchend die Decke ab. Warum musste diese Frau ihn immer mit ihren Erkenntnissen auf die Folter spannen? Er atmete tief durch und lächelte sie an. Insgeheim war das eine der Charaktereigenschaften, die er an ihr so mochte. »Und?«
»Vielleicht kann Julia uns in dieser Angelegenheit weiterhelfen. Ich meine, wie viel Kontakt ihre Mutter Catherine zu ihrem Schwager Sam Palmer hat.«
Diese Information traf Taylor mit solcher Wucht, dass er für einen Augenblick vergaß zu atmen. Nach Luft schnappend stand er auf und stieß an den Tisch, auf dem seine Kaffeetasche leise klirrte.
»Julia?«, rief Taylor laut und bemerkte im selben Augenblick, dass seine Stimme schroff und zornig klang. Es tat ihm leid. Er ging zur Küchentür und sah Julia bereits kommen.
»Hast du einen kleinen Augenblick für uns?«, sagte er leise und lächelte sie an.
Was auch immer Julia Whitfield in seinem Gesicht ablas, es war nichts, das ihr offensichtlich Sorgen bereitete. »Natürlich, Sir. Soll Felix auch dabei sein?«
Es war Patricia, die antwortete und den Kopf schüttelte. »Ich denke, der wird uns nicht helfen können.«
»Wobei kann ich denn helfen?«, fragte die junge Frau und setzte sich neben Patricia.
»Sam Palmer«, sagte Taylor lediglich, nachdem auch er wieder saß.
»Was ist mit Onkel Sam?«
»Wir wussten nicht, dass ihr miteinander verwandt seid.«
»Oh. Wäre das wichtig gewesen für Ihre Ermittlungen?«
Taylor musste ein Schmunzeln unterdrücken. Julia verhielt sich wie eine wichtige Zeugin, die nur zugibt, was sowieso zu beweisen ist. Nur saß hier seine mögliche Schwiegertochter vor ihm.
»Wir wissen nicht, ob es wichtig ist. Aber es gibt Fragen, die du uns möglicherweise beantworten kannst. Wie viel Kontakt hatten deine Eltern, vor allem deine Mutter zu Sam Palmer?«
Julia stützte ihre Arme auf den Tisch und lehnte ihr Kinn auf die Fingerspitzen. »Ich glaube, in den letzten Jahren kaum. Mum hat ein paarmal im Jahr mit Tante Isabel telefoniert, aber richtig Kontakt, das weiß ich nicht. Zumal meine Situation zu Hause … na ja, Sie wissen ja, was bei uns los war.«
»Wann hast du denn Sam oder Isabel Palmer zuletzt gesehen?«, fragte Patricia.
»Gesehen? Also, Sie meinen jetzt persönlich, nicht im Fernsehen oder so?«
»Genau.«
»Puh, das ist schon ganz schön lange her. Ich glaube, auf Onkel Sams fünfzigstem Geburtstag. Das muss jetzt so fünf, sechs Jahre her sein.«
»Weißt du, wann deine Mutter zuletzt mit deiner Tante Isabel telefoniert hat?«
Julia schüttelte den Kopf. »Ich wohne schon länger nicht mehr bei ihr. Aber das können Ihre Leute doch sicher rauskriegen, oder?«
»Schon mal überlegt, zur Polizei zu gehen?«, fragte Patricia und legte ihr lächelnd eine Hand freundschaftlich auf den Arm. »Danke, Julia. Du hast uns jedenfalls sehr geholfen.«
»Wirklich?«
»Ja, wirklich.«
Geoffrey hatte verschiedene Zeitungen mitgebracht, die alle auf Taylors Schreibtisch lagen und nur eine Schlagzeile kannten.
»Guten Morgen, Sir. Guten Morgen, Patricia«, sagte er, als Patricia und Taylor gemeinsam das Büro betraten.
»Morgen, Geoffrey. Konntest du dich von Claire losreißen?«, stichelte sie und setzte sich an ihren Schreibtisch.
»Wie du siehst, Sergeant«, sagte er und schluckte sämtliche Bemerkungen, die ihm auf der Zunge lagen, herunter. Er war der Neue und er musste sich seinen Platz hier hart erarbeiten.
»Haben Sie schon einen Blick in diese Presseerzeugnisse geworfen, Holmes?«, fragte Taylor ihn, und sein Blick flog scheinbar flüchtig über die Schlagzeilen, ehe er die Zeitungen auf einen Haufen stapelte und Geoffrey mit einem freundlichen Nicken bedachte.
»Nein, Sir. Dazu bin ich noch nicht gekommen. Aber ich denke, die übrige Presse verfügt auch nicht über Insiderwissen.«
»Sie haben mit Claire gesprochen?«
»Ich weiß, dass Claire nichts verwendet, was Sie nicht erlauben, Sir. Aber für diesen McFadden kann ich nicht garantieren. Ich habe die Sorge, dass das auf mich …«
Taylor unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Keine Angst, Constable. Ich übernehme für alles die volle Verantwortung. Und was McFadden angeht, brauchen Sie sich, denke ich, auch keine Sorgen zu machen.«
»Aber warum tun Sie das, Sir?«
»Was meinen Sie, Holmes? Der regionalen Presse Informationen zuspielen, die wir vorerst nicht veröffentlicht haben wollen? Das kann ich Ihnen genau sagen. McFadden hat uns in den letzten Monaten einige Male mit Informationen versorgt, die wir nicht so ohne weiteres bekommen hätten. Sie wissen schon: Quid pro quo.«
»Da spielen Sie mit, Sir?«, rief Geoffrey überrascht. Er hatte Taylor anders eingeschätzt. Dass er ein gutes Verhältnis zur Presse hatte und sich ihrer sogar bediente, war für ihn neu. Und warf ein völlig anderes Bild auf seine Beziehung zu Claire.
»Es gibt in der Provinz mehr als ein Dutzend Zeitungen, teilweise mit winzigen Auflagen. Der Harlington Echo ist aber die einzige, die in der ganzen Provinz Esenshire erscheint und die ich guten Gewissen als seriös bezeichnen würde, Holmes.« Taylor machte eine kurze Pause und sah Geoffrey tief in die Augen. »Was Ihre nächste Frage betrifft, Constable; trennen Sie weiterhin Beruf und Beziehung. Es wird für Sie und Claire am unschädlichsten sein.«
»Ja, Sir«, erwiderte Geoffrey, ohne die Angelegenheit weiter zu vertiefen.
Patricia hatte den Dialog der beiden verfolgt und schmunzelte. Geoffrey hatte keine Ahnung, welcher gehässige Kommentar ihr wieder auf den Lippen lag, und war froh, dass sie ebenfalls das Thema wechselte.
»Welche Relevanz hat denn nun die Verwandtschaft von Catherine Whitfield mit Isabel Palmer, Sir?«, fragte sie stattdessen, und Geoffrey glaubte, sich verhört zu haben. Ihn durchfuhr ein Schauer, als ob jemand Eiswasser in seinen Nacken geschüttet hätte.
»Was hast du gerade gesagt?«
Patricia grinste breit und lehnte sich zurück. »Ich habe heute früh zufällig festgestellt, dass Catherine Whitfield und Isabel Palmer denselben Geburtsnamen haben. Nun sind weder Hunter noch Walsh seltene Namen. Wenn aber zwei Menschen in derselben Grafschaft als Hunter-Walsh auf die Welt kommen … Jedenfalls hab ich mir das Geburtsregister genauer angesehen und bin auf dieselben Eltern gestoßen.«
Geoffrey atmete tief durch. Er hatte beide Akten ebenfalls eingesehen, und es war ihm nicht aufgefallen. Jetzt stand er wieder als blutiger Anfänger da, und Patricia heimste die Lorbeeren ein. Vermutlich würde sie ihm das ebenfalls noch lange Zeit vorwerfen.
»Mach dir nichts draus, Geoff. Unser DCI hat es auch nicht bemerkt«, sagte sie und zwinkerte ihm verschwörerisch zu. Geoffrey glaubte, sich verhört zu haben. Er blickte zu Taylor, der so tat, als habe er Patricias Kommentar nicht gehört und sich stattdessen mit den Sonntagszeitungen beschäftigte.
»Schön, dann wollen wir mal weitermachen«, fuhr Taylor fort, als habe es die Unterhaltung zwischen Geoffrey und Patricia nicht gegeben. »Patricia, Sie finden heraus, ob bei Whitfield Pharma GHB verwendet wird und ob möglicherweise davon etwas fehlt. Geoffrey, Sie machen der Spurensicherung Dampf. Wir müssen endlich wissen, woher die Waffe stammt, mit der die Coopers erschossen wurden.«
»Was machen Sie, Sir?«, fragte Patricia, den Telefonhörer bereits in der Hand, während Taylor aufstand und sein Sakko anzog.
»Ich habe eine Mail von Forester bekommen. Faraday ist der zuständige Staatsanwalt im Mordfall Cooper und Ramsey.«
»Sie machen Witze, Sir«, sagte Patricia und legte den Hörer langsam wieder auf.
»Er hält sich nicht für befangen. Sam Palmer ist der Hauptverdächtige, und mit ihm hatte Faraday keinen Kontakt.«
»Aber er …«
»Ich weiß, Holmes. Der Staatsanwalt schläft mit der Frau unseres Hauptverdächtigen. Aber Faraday sieht das offenbar anders, und niemand scheint ihn daran zu hindern.«
»Und Sie wollen ihm jetzt ausreden, den Fall zu vertreten, Sir?«, fragte Patricia, während sich Geoffreys Puls beschleunigte und er feuchte Hände bekam bei dem Gedanken, längere Zeit allein mit ihr in einem Büro zu sein.
Reiß dich zusammen, du Idiot, schalt er sich und atmete mehrfach bewusst tief ein und aus. Taylor und Patricia schienen davon nichts mitzubekommen. Zumindest verhielten sie sich ihm gegenüber unauffällig und als Taylor das Büro verlassen hatte, griff Patricia erneut zum Telefonhörer. Sie beachtete ihn gar nicht, ließ sich nicht zu einer boshaften Bemerkung hinreißen und warf auch keine Gegenstände nach ihm. Er kam sich vor wie ein paranoider Spinner.
Schließlich erwachte er aus seiner Trance, nahm den Hörer ab und wählte die Nummer der Spurensicherung. Es dauerte beinahe eine Minute, ehe am anderen Ende der Leitung das Gespräch angenommen wurde.
»Spurensicherung, Harrington«, meldete sich eine Frauenstimme, und es gelang Geoffrey sogar, ein Gesicht zu diesem Namen zu assoziieren. Die kleine, mollige Frau Anfang dreißig hatte ihm am vergangenen Dienstag einiges über die gewöhnlichen Abläufe bei einem Gewaltverbrechen erklärt.
»Geoffrey Holmes. Guten Morgen, Miss Harrington.«
»Oh, hallo, Geoffrey. Siezen wir uns wieder? Oder hast du lediglich meinen Namen aus deinem Gedächtnis gestrichen?«, antwortete sie und lachte dabei fröhlich in den Hörer.
»Natürlich nicht, Kelly«, sagte er und war froh, dass ihm ihr Vorname soeben wieder eingefallen war. »Ich war mir nur nicht … Ach, vergiss es einfach. Ich ruf wegen der Waffe an, mit der die beiden Coopers erschossen wurden. Habt ihr schon was Neues?«
»Kommt drauf an, was du noch nicht weißt«, sagte sie, und Geoffrey hörte das Rascheln von Papier und das Klackern der Computertastatur. »Also, dass es sich bei der Colt 1911 um die Tatwaffe handelt, haben wir euch schon bestätigt. Fingerabdrücke und Schmauchspuren sind eindeutig Sam Palmer zuzuordnen. Dass er einen Schalldämpfer benutzt hat, wisst ihr ebenfalls. Der Schalldämpfer ist bislang nirgendwo aufgetaucht. Die Schüsse auf die beiden Opfer und die Schüsse in die Wand sind von unterschiedlichen Positionen aus abgegeben worden.«
Geoffrey machte eine entsprechende Notiz. Ehe er seine Rückfrage stellen konnte, sprach Harrington weiter. »Die Schüsse in die Wand wurden aus etwa demselben Abstand abgefeuert wie bei den Coopers. Also, rund einen Meter. Aber ich glaube, das hatten wir Taylor auch schon geschrieben.«
Sie machte eine kurze Pause, und Geoffrey nutzte die Gelegenheit, um die Fragen zu stellen, die Taylor ihm aufgetragen hatte. »Wisst ihr schon was über die Waffe selbst? Woher sie stammt? Auf wen ist sie registriert?«
Wieder das Tippen auf Computertasten. »Die Abfrage der zentralen Datenbank dauert im Augenblick sehr lange. Aber du hast Glück, wir haben die Antwort vor ein paar Minuten erhalten.« Sie machte eine Pause, und Geoffrey hörte, wie sie mit den Fingern auf der Tischplatte trommelte. Wäre er nicht so extrem angespannt und würde sich wegen Patricias Reaktion auf alles, was er tat und sagte, selber stressen, er hätte sie an dieser Stelle zurechtgewiesen. So aber wartete er geduldig, bis sie ihm verkündete, auf wen die Waffe …
»Ian Cooper«, verkündete Kelly Harrington, und Geoffrey fühlte sich, als habe jemand einen Ziegelstein gegen seine Brust geworfen. Er bekam keine Luft mehr und schnappte aufgeregt wie ein Karpfen an Land. Patricia blickte auf, und er bemerkte ihr sorgenvolles Gesicht. Bevor sie jedoch aufspringen und zu ihm eilen konnte, hatte er sich wieder gefasst und atmete wieder ruhig und gleichmäßig durch.
»Alles in Ordnung bei dir, Geoffrey? Du klangst, als würdest du …«, begann Harrington.
»Alles in Ordnung, mach dir keine Gedanken«, sagte Geoffrey in den Telefonhörer, sah aber weiterhin Patricia an und nickte ihr lächelnd zu.
»Gut«, fuhr Harrington fort. »Also, die Pistole ist auf Ian Cooper registriert. Er hat vor zwölf Jahren eine entsprechende Besitzkarte erworben. Außerdem besitzt er noch vier Jagdgewehre und zwei Schrotflinten. Keine der Waffen ist je in polizeilichen Ermittlungen aufgetaucht oder als vermisst gemeldet worden.«
»Dann hat er also seine eigene Waffe mitgebracht, und Sam Palmer hat ihn und seine Frau damit erschossen«, sagte Geoffrey tonlos und schrieb einige Bemerkungen dazu auf seinen Block.
»Was wurde er?«, fragte Patricia sichtlich perplex.
Geoffrey lächelte schüchtern und zuckte mit den Schultern.
»Danke für die Information, Kelly. Schickst du den Bericht an Taylor?«
»Schon passiert, Geoffrey. War nett, mal wieder mit dir zu plaudern«, verabschiedete sie sich, und Geoffrey legte auf.
»Sollen wir Taylor anrufen? Oder warten wir mit dieser Information, bis er wieder zurück ist?«