Kristin Lundby hatte schlecht geschlafen, wieder einmal. Und sie befürchtete, dass sie so lange keine ruhige Nacht bekommen würde, bis der Tod von Bengt Olufson aufgeklärt und der Mörder verurteilt war.
Obwohl heute ihr freier Tag war, saß sie um acht Uhr an ihrem Schreibtisch im Kriminalpräsidium und blätterte in den alten Akten, die sie zusammen mit Bengt angelegt hatte. Inzwischen kannte sie beinahe jedes Wort auswendig, konnte jedes Foto, jede Skizze und jede Fahrtroute aus dem Gedächtnis nachzeichnen.
Es half nichts. Sie hatte keinen einzigen Anhaltspunkt. Nichts, was auch nur im Ansatz einen Hinweis brachte. Kristin blätterte zurück und betrachtete die Karte mit den Markierungen, an denen die Lieferwagen mit dem Whisky gestoppt wurden.
Plötzlich sah sie es. Noch bevor sie die Punkte mit einem Stift verbunden hatte, erkannte sie das Zentrum. Ein Komplex aus Lagerhallen und Bürogebäuden. Es war inmitten eines Gewerbegebietes, nicht weit vom Hafen entfernt. Von hier aus bis zur Baustelle der Öresundbrücke waren es nicht einmal zwei Kilometer. Es passte einfach alles zusammen.
Sie nahm ihre Jacke vom Kleiderhaken und machte sich auf den Weg Richtung Norrköping. Rolf Nilsson war vermutlich schon an seinem Arbeitsplatz in der Tankstelle. Sie fuhr den Volvo aus der Tiefgarage und machte sich auf den Weg nach Süden. Es herrschte wenig Verkehr und obwohl es kurz hinter Stockholm zu regnen begann, kam sie schnell durch.
An der Tankstelle war keine Menschenseele zu sehen. Die Zapfsäulen waren ebenso unbeleuchtet wie der Verkaufsraum. Kristin parkte ihren Wagen direkt vor dem Eingang und stieg aus.
»Hallo. Ist hier jemand?«, rief sie laut und lauschte in die Stille, die unregelmäßig vom Motor eines vorbeifahrenden Autos unterbrochen wurde.
Sie ging zum Laden und stutzte. Geschlossen. Das Schild schrie ihr entgegen, dass etwas nicht stimmte. Larissa hatte gesagt, Rolf wäre am Vormittag wieder da, und die Öffnungszeiten unter dem Schild bestätigten ihr, dass die Tankstelle vor einer halben Stunde hätte öffnen sollen.
Kristin lief um das Gebäude, die Waschanlage und zwei entfernt stehende leere Schuppen herum. Nirgendwo Anzeichen dafür, dass hier jemand war. Nichts deutete darauf hin, dass die Tankstelle heute bereits geöffnet hatte und wieder geschlossen wurde.
Besorgt stieg sie ins Auto und fuhr nach Norrköping. Sie hoffte, Rolf wäre vielleicht in seiner Wohnung, und es gäbe eine einfache Erklärung, warum die Tankstelle abgeschlossen war.
Die Sonne lugte hinter den Wolken hervor und prophezeite einen schönen Sonntagvormittag. Der Regen hatte aufgehört, als Kristin das Stadtzentrum erreichte und wenige Minuten später vor dem Haus, in dem Rolf wohnte, stand. Sie stieg aus und wollte bereits auf die Klingel drücken, als ein ihr unbekannter junger Mann eilig die Tür aufriss und hinausstürmte. Kristin konnte im letzten Augenblick zur Seite springen und einem Zusammenstoß entgehen.
Der Mann lief eilig zu einem dunkelblauen Volvo und stieg ein. Der Motor heulte auf, und er fuhr die Straße stadtauswärts. Kristin merkte sich das Kennzeichen, sie würde es später aufschreiben und durch den Computer jagen. Jetzt allerdings war sie froh, Zugang zum Haus zu haben.
Sie ging die Stufen nach oben und stand zum zweiten Mal vor Rolf Nilssons Wohnungstür. Sie klingelte und wartete, drückte den Taster erneut und legte das Ohr an die Tür. Mit einem Auge lugte sie zur Nachbarwohnung, hinter der ebenfalls Stille herrschte.
Sie drückte kräftig gegen die Tür, doch diesmal gab sie nicht nach.
Verdammt, fluchte Kristin stumm. War Rolf daheim gewesen und hatte die Tür diesmal ordentlich verriegelt? Oder hatte sie nach ihrem Besuch einfach die Tür zu sorgfältig geschlossen?
Sie durchwühlte ihre Handtasche nach ihrem Nageletui und fand dabei einen Kassenbon und einen Kugelschreiber. Während sie mit einer Hand das Autokennzeichen notierte, stieß sie mit der anderen gegen das, wonach sie eigentlich gesucht hatte. Sie holte eine Pinzette und einen kleinen Schraubendreher hervor und beugte sich zu dem Türschloss. Mit geübten Fingerbewegungen fuhrwerkte sie am Schloss und stand binnen weniger Sekunden im Flur.
Wozu hat man vier Brüder?, dachte sie grinsend und schloss die Wohnungstür hinter sich zu. In der Wohnung roch es wie am Vortag. Wenn jemand hier gewesen war, hatte er jedenfalls nicht gelüftet.
»Hallo? Rolf? Hier ist Kristin«, rief sie halblaut und öffnete langsam die Tür zum Wohnraum. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte. Vielleicht durchwühlte Schränke, einen leblosen Körper auf dem Boden, irgendeine Form von gewaltsamem Eindringen. Tatsächlich war alles augenscheinlich unverändert.
Kristin wusste nicht, ob sie enttäuscht oder erleichtert sein sollte. Eine innere Unruhe ergriff Besitz von ihr und ließ sie erschaudern. Rolf Nilsson hätte heute früh die Tankstelle aufschließen und seinen Dienst antreten sollen. Was also war geschehen? Sie legte ihre Visitenkarte mit der Bitte, sich umgehend bei ihr zu melden, auf den Küchentisch und verließ die Wohnung leise wieder.