Taylor war direkt von zu Hause aus nach Birmingham gefahren, um mit Neil Watson zu sprechen. Als er auf den Parkplatz von Whitfield Pharma Inc. einbog, erkannte er bereits den Sicherheitschef Wayne Arthur, der mit einer Zigarette in der einen und einem Mobiltelefon in der anderen Hand herumlief und wild gestikulierte.
Taylor stieg aus und ging auf den Eingang zu. Arthur beendete sein Gespräch und trat eilig zu ihm.
»Chief Inspector, was für eine Tragödie«, begrüßt er ihn, während das Telefon in seiner Hand klingelte. »Hier ist seit Donnerstag die Hölle los. Ich weiß gar nicht, wie es jetzt weitergehen wird.«
Er wandte sich von Taylor ab und nahm das Gespräch an. »Ja, Arthur hier«, sagte er und verdeckte dann mit der Hand den Lautsprecher. »Watson erwartet Sie bereits am Empfang, Sir«, sagte er noch zu Taylor und lenkte seine Aufmerksamkeit vollends wieder auf sein Telefon.
Taylor beobachtete den Sicherheitschef noch einige Augenblicke und ging dann durch den Eingang ins Gebäude. Sofort eilte der Empfangschef, Zack Kennedy, in seiner Uniform auf ihn zu. »Mr. Taylor, Sir. Gut, dass Sie da sind. Hier geht gerade alles drunter und drüber«, sagte der junge Mann aufgeregt, und Taylor fragte sich für einen kurzen Moment, was er daran ändern könne.
Die Antwort erfuhr er dann auch prompt. »Wissen Sie schon, wer der Nachfolger von Mr. Whitfield sein wird? Gibt es ein Testament? Wird Miss Julia die Geschäfte weiterführen? Oh, was für eine schreckliche Tragödie, Sir«, klagte Kennedy.
Taylor ignorierte den Gefühlsausbruch des Empfangschefs. Er hatte sich um wichtigere Dinge zu kümmern als um die Nachlassverwaltung eines Pharmakonzerns. Gleichwohl ahnte er, dass er früher oder später darin involviert sein würde.
»Neil Watson erwartet mich«, sagte Taylor, während er den jungen Laborassistenten im Gespräch mit zwei Männern in dunklen Anzügen in der Nähe der Aufzüge entdeckte.
»Ja, ja, natürlich. Mr. Watson erwartet Sie, Sir. Ich sage ihm Bescheid, dass Sie da sind.« Kennedys Stimme wurde schneller und ihr Klang schriller. Taylor nickte und ging dann an Kennedy vorbei auf Watson zu. »Danke, Mr. Kennedy, das wird nicht nötig sein«, rief er über seine Schulter.
Watson hatte den Chief Inspector seinerseits bemerkt und verabschiedete sich von seinen Gesprächspartnern. Er kam Taylor mit ausgestreckter Hand entgegen. »Entschuldigen Sie, dass ich gestern nicht in England war, Sir. Aber die Reise war lange geplant und wichtig.«
»Ich hätte den Sonntag auch gerne entspannter verbracht, Mr. Watson.«
»Familienangelegenheiten, Chief Inspector. Von Entspannung war ich dabei leider meilenweit entfernt«, antwortete er und verzog das Gesicht. Taylor lächelte mitleidig.
»Sie haben gestern Sergeant Duncan erzählt, dass hier im Unternehmen auch Gamma-Hydroxybuttersäure verwendet wird, Mr. Watson.«
»Nun, so einfach ist die Frage nicht zu beantworten, Sir. Am besten, wir gehen nach oben in einen der Besprechungsräume, dann erzähle ich Ihnen, was Sie wissen wollen.«
Taylor nickte und folgte Watson in den Aufzug, aus dem soeben eine Handvoll Männer und Frauen ausstiegen. Watson führte ihn in einen kleinen Raum. Hier gab es lediglich einen runden Tisch, drei Stühle und zwei hässliche Bilder an den weißen Wänden.
»Darf ich fragen, aus welchem Grund Sie sich für den Stoff interessieren?«, fragte Watson, nachdem sie sich gegenübersaßen.
»Er ist in verschiedenen Ermittlungsstadien aufgetaucht. Mehr kann ich Ihnen erst einmal nicht sagen.«
Watson sah Taylor enttäuscht an. »Na gut. Also, was wollen Sie alles wissen?«
»Wofür wird die Substanz hier im Unternehmen verwendet?«
»Nun, ich möchte Sie an dieser Stelle nicht mit einer wissenschaftlichen Analyse über die Herstellung und Veredelung langweilen. Um Ihre Frage also zu beantworten, wir verwenden GHB als Bestandteil von Schmerz- und Schlafmitteln, die hauptsächlich auf dem US-amerikanischen Markt vertrieben werden.«
»Sie verwenden Liquid Ecstasy als Schlafmittel?«, entfuhr es Taylor.
Watson zögerte einen Augenblick. Dann sah er Taylor mit leuchtenden Augen an. »Ah, jetzt verstehe ich, Sir. Nein, das tun wir nicht.« Er machte eine Pause und sah sich in dem leeren Raum um. Enttäuscht wandte er sich wieder an Taylor. »Haben Sie etwas zum Schreiben dabei? Ich würde Ihnen gerne die genauen Zusammensetzungen der beiden Stoffe aufzeichnen, damit Sie sehen, dass wir hier von zwei verschiedenen Dingen sprechen.«
Taylor holte einen Block aus seiner Jacke und riss ein leeres Blatt ab, das er Watson zusammen mit einem Kugelschreiber wortlos über den Tisch schob.
Der junge Laborassistent begann, wilde Formeln und chemische Zusammensetzungen aufzumalen. Taylor sah ihm interessiert zu, verstand jedoch nichts von dem, was er dort erblickte. Als Watson fertig war, gab er Taylor das Blatt zurück.
»Wie Sie erkennen können, ist Gammabutyrolacton ein Teil der Gamma-Hydroxybuttersäure, die Sie als KO-Tropfen kennen. Vereinfacht gesagt, wir extrahieren den Teil der Substanz, den wir für unsere Medikamente benötigen.«
Taylor betrachtete das Blatt neugierig und steckte schließlich den Kugelschreiber wieder ein. »Und was geschieht mit der restlichen Substanz?«
»Er wird vernichtet und als Sondermüll entsorgt, was denken Sie denn?«, sagte Watson und wirkte, als habe Taylor ihn beschuldigt, Drogen an Kinder zu verkaufen.
»Wer hat Zugang dazu?«
»Jeder aus dem Labor, nehme ich an. Die Mittel stehen natürlich nicht einfach so herum, aber prinzipiell hat jeder Labormitarbeiter durch seine Codekarte und seinen Fingerabdruck Zugang dazu.«
»Und außerhalb des Labors? In der Verwaltung? Und was ist mit ehemaligen Mitarbeitern?«
»Augenblick, Sir.« Watson hob beschwichtigend die Hände. »Ich glaube, hier liegt ein Missverständnis vor. Die Substanzen, die hier im Labor verwendet werden, sind kein Liquid Ecstasy. Um daraus KO-Tropfen zu machen, und ich nehme an, darauf läuft Ihre Frage hinaus, benötigt man mehr als nur ein paar Chemiestunden.«
»Vielleicht beantworten Sie mir zuerst mal meine Fragen, Mr. Watson? Also, wer?«
Watson blickte verlegen auf seine Hände und dann hilfesuchend zur Tür, die jedoch geschlossen blieb. »Ich weiß es nicht, Sir. Dass obliegt … oblag einzig Mr. Whitfield«, gab er dann kleinlaut zu.
Taylor atmete tief durch und stand dann langsam auf. »Sie wissen es also nicht? Und wer weiß es? Außer dem toten Ernest Whitfield?«
»Vielleicht kann Wayne Arthur es herausfinden, Sir«, flüsterte Watson.
»Natürlich kann ich Ihnen sagen, wer Zugang zum Labor hat, Sir«, sagte Arthur und tippte einige Befehle in die Tastatur auf seinem Schreibtisch ein.
Taylor und der Sicherheitschef saßen in Arthurs Büro, und während der Chief Inspector auf die Antwort auf seine Frage wartete, betrachtete er die Monitore der Überwachungskameras.
»So, hier haben wir es schon, Chief Inspector«, verkündete Arthur nach wenigen Minuten und drehte den Bildschirm so, dass Taylor einen Blick darauf werfen konnte.
Taylor überflog die Namen, die ihm zum größten Teil vollkommen unbekannt waren. Aber natürlich tauchten auch Personen wie Ernest Whitfield und Neil Watson auf. Als er den Namen eines weiteren Mitglieds der Familie Whitfield las, zuckte Taylor zusammen.
»Was hat Catherine Whitfield im Labor zu suchen?«, fragte er irritiert.
»Mrs. Whitfield hat bis vor sieben Jahren das Labor geleitet und war bis zur Scheidung immer wieder mal aushilfsweise hier tätig. Ich dachte, dass hätten Sie gewusst, Chief Inspector?«
Taylor war wie vor den Kopf gestoßen. Das war während der Ermittlungen im vergangenen Jahr zu keinem Zeitpunkt relevant gewesen. Verdammt.
»Sie hat nach der Scheidung ihre Zugangsberechtigung behalten?«
»Ich glaube, das wurde einfach vergessen«, gab Arthur zerknirscht zu.
»Können Sie feststellen, wann sie zuletzt im Labor war?«, fragte Taylor und ahnte die Antwort, bevor Arthur sie ihm bestätigte.
»Letzte Woche Dienstag. Sie kam um sechs Uhr dreizehn und ging um sieben Uhr neunundzwanzig.« Der Sicherheitschef starrte schreckensbleich auf den Monitor und tippte weitere Befehle in die Tastatur.
»Was hat sie fünfundsiebzig Minuten im Labor gemacht?«
»Ich suche gerade nach den Bändern der Sicherheitskamera.« Arthur wurde noch nervöser und tippte noch hektischer als zuvor.
Taylor warf erneut einen Blick auf die Monitore an der Wand und beobachtete den Flur vor den Aufzügen in der Etage, in der Ernest Whitfield sein Büro gehabt hatte. Er hatte den Firmenchef nicht gemocht, dennoch empfand er Mitleid mit ihm. Sein Reichtum hatte ihm kein Glück gebracht, und seine Art, mit seiner Macht umzugehen, hatte am Ende zu seinem Tod geführt.
»Hier ist das Band«, rief Arthur enthusiastisch, und Taylor wurde aus seinen Gedanken gerissen.
»Sehen Sie, Chief Inspector. Hier ist Catherine Whitfield. Sie betritt das Labor um viertel nach sechs. Die ersten Mitarbeiter kommen in der Regel nicht vor halb acht. Sie war also vermutlich die ganze Zeit vollkommen allein da unten.«
»Und was hat sie da getan?«
Arthur spulte die Aufnahme vor, Taylor sah gebannt auf die Frau auf dem Monitor, die aus verschiedenen Regalen und Schränken Gläser und Flaschen entnahm. Der Chief Inspector hatte keine Ahnung, was genau er dort sah, aber er war sich sicher, dass Catherine Whitfield einen tödlichen Cocktail mixte, der ihren geschiedenen Mann und sie aus dem Leben reißen würde.
Und noch etwas wusste er in diesem Augenblick instinktiv. Es war dieselbe Substanz, die Madeleine und Ian Cooper betäubt hatte.
»Soll ich Watson rufen, Sir? Er kann Ihnen vermutlich genau sagen, was sie dort tut.«
Taylor nickte. »Ja, Wayne, das ist eine gute Idee. Und gibt es hier die Möglichkeit, einen Kaffee zu bekommen?«