Taylor fuhr durch die Einfahrt und stellte überrascht fest, dass Isabel Palmer offenbar nicht allein zu Hause war. Vor der Garage standen zwei Fahrzeuge, und Taylor war sicher, dass der dunkelrote Bentley Jack Faraday gehörte.
»Dann wollen wir mal, Sergeant«, sagte er zu Patricia und stieg aus. Im Grunde überraschte es ihn nicht, dass Faraday sofort nach seinem Auftritt bei Forester hierher gefahren war. Immerhin galt es für ihn, seine Aussage mit Isabel Palmer abzustimmen.
Die beiden Polizisten gingen zur Haustür, und wenige Augenblicke, nachdem Taylor geläutet hatte, öffnete Isabel Palmer.
»Chief Inspector. Mit Ihnen hatte ich ehrlich gesagt nicht gerechnet«, sagte sie und blickte ihn überrascht an. Gleichzeitig trat sie beiseite und ließ Taylor und Patricia in die Halle des Herrenhauses eintreten.
»Wir haben leider noch ein paar Fragen, Mrs. Palmer und wir wollten Ihnen ersparen, extra nach Esenshire zu fahren.«
Isabel lächelte. »Das ist sehr freundlich von Ihnen. Da haben Sie Glück, dass Sie mich noch antreffen. Ich wollte gerade aufbrechen«, sagte sie, und Taylor erkannte in ihren Augen die Lüge.
»Es dauert nicht lange. Es geht im Grunde auch nur um Ihr Verhältnis zu Ihrer Schwester.«
»Oh, die arme Catherine«, setzte Isabel an, und Taylor glaubte, sie würde jeden Augenblick in künstlich erzwungene Tränen ausbrechen. Das geschah freilich nicht.
»Sie standen sich sehr nahe, nehme ich an?«
»Oh nein, gar nicht.« Sie fasste sich theatralisch mit beiden Händen ans Herz, und ihr Blick jagte Taylor einen kalten Schauer über den Rücken jagte.
»Wann haben Sie Catherine Whitfield das letzte Mal gesehen?«, fragte Patricia, die anscheinend beschlossen hatte, nicht nur als Staffage zu dienen.
Isabel sah sie irritiert an. »Das kann ich Ihnen gar nicht sagen. Warten Sie, Sams fünfzigsten Geburtstag haben wir in großer Runde gefeiert. Er hat darauf bestanden, auch wenn ich keine Lust dazu hatte, aber … Jedenfalls kann ich mich gar nicht erinnern, sie danach gesehen oder gesprochen zu haben. Warum ist das wichtig, Inspector?«
»Sehen Sie, uns machen ein paar Dinge noch Kopfzerbrechen, und wir möchten dem Staatsanwalt eine lückenlose Ermittlungsarbeit übergeben, wenn Ihr Mann sich wegen Mordes verantworten muss.«
»Ja, ja, das verstehe ich. Aber was hat das mit meiner Schwester zu tun?«
»Sehen Sie, Mrs. Palmer, Ian und Madeleine Cooper wurden mit KO-Tropfen betäubt, ehe sie erschossen wurden. Und auch Catherine und Ernest Whitfield starben durch eine Überdosis an Gamma-Hydroxybuttersäure.«
Isabel Palmer schluckte schwer und starrte an Taylor vorbei zur Haustür. Von dort hatte sie jedoch nach Taylors Auffassung keine Hilfe zu erwarten. »Und Sie denken, dass meine Schwester zuerst Madeleine und Ian und dann Ernest und sich getötet hat? Das ist doch lächerlich, Inspector.«
Taylor hätte beinahe gelacht. Aus diesem Blickwinkel hatte er die Situation noch gar nicht betrachtet. »Nein, Mrs. Palmer. Wir wissen, dass Catherine Whitfield die KO-Tropfen hergestellt hat, und vermuten, dass sie Ihnen etwas davon gegeben hat.«
»Ich …«, stammelte Isabel entrüstet. »Ich soll das alles getan haben? Wie kommen Sie denn auf eine solch ungeheuerliche Unterstellung?«
»Sie waren am Dienstag bei Ihrer Freundin Anne Faraday und zwei Stunden später haben Sie sich mit Jack Faraday in dessen Büro getroffen. Mrs. Faraday hat aber nicht erwähnt, dass Sie gegangen sind. Sie hat ausgesagt, Sie hätten zusammen Videofilme geguckt. Vermutlich ist Mrs. Faraday zwischendurch einfach eingeschlafen und konnte sich gar nicht erinnern, dass Sie das Haus verlassen haben.«
Die Farbe in Isabel Palmers Gesicht wechselte von kalkweiß zu dunkelrot und normalisierte sich anschließend wieder. Taylor sah aus dem Augenwinkel, dass Patricia sich kurzzeitig Sorgen um den Gesundheitszustand der Frau zu machen schien.
»Wo ist eigentlich Mr. Faraday, Mrs. Palmer? Vielleicht kann er …« Das Aufheulen eines Motors und das Knirschen von Kies unter den Reifen des Bentley, der vor dem Fenster davonfuhr, ließ ihn kurz innehalten.
»Was wollte Faraday von Ihnen? Haben Sie über Ihr gemeinsames Alibi gesprochen? Aber wozu bräuchten Sie eines, wenn doch Ihr Mann den Mord an Ian und Madeleine Cooper begangen hat?«
Isabel Palmer ließ die Schultern hängen und sah betreten zu Boden. Dann jedoch richtete sie ihren Blick auf Taylor und musterte ihn siegessicher. Taylor war sofort alarmiert. Irgendetwas in ihren Augen warnte ihn vor dem, was sie jetzt sagen würde.
»Sie haben natürlich recht, Chief Inspector. Aber es ist nicht so, wie Sie vielleicht denken. Ich habe tatsächlich zu Catherine seit Jahren keinen Kontakt mehr. Aber ich habe zufällig im Badezimmer ein Fläschchen gefunden und wusste sofort, was Gamma-Hydroxybuttersäure ist.«
Taylor atmete tief durch. »Sie wollen also sagen, Ihr Mann hat KO-Tropfen hier im Haus versteckt?«
Isabel grinste. »Ja, das sage ich Ihnen. Und ja, ich gestehe, dass ich die KO-Tropfen verwendet habe, um unbemerkt zu Jack fahren zu können, ohne dass die gute Anne Fragen stellen würde. Sie schlief tief und fest, als ich aufgebrochen bin.«
»Haben Sie eine Ahnung, woher Ihr Mann die Tropfen hatte?«
»Ich vermute, Catherine hat sie ihm gegeben. Die beiden haben seit langem eine Affäre miteinander, und ich denke, er hat ihr gesagt, dass er so etwas brauchen würde. Wissen Sie, meine Schwester ist … war … ein wahres Genie als Chemikerin.«
Taylor nickte und wandte sich bereits zur Tür. »Danke, Mrs. Palmer. Dann haben wir das auch geklärt.«
»Jetzt müssen wir nur noch die wichtigste Frage beantworten, Sir«, sagte Patricia beiläufig und wollte ebenfalls zur Haustür.
»Die wichtigste Frage?«, echote Isabel.
Taylor drehte sich langsam wieder um. »Ach so, nun, dass betrifft nicht Sie, Mrs. Palmer. Es geht um den Schalldämpfer«, sagte Taylor bewusst lässig und wandte sich bereits wieder zur Tür.
»Was ist mit dem Schalldämpfer?«
Taylor huschte ein Lächeln übers Gesicht, ehe er sich erneut zu Isabel Palmer drehte. »Sehen Sie, Ihr Mann hat diesen Doppelmord äußerst raffiniert eingefädelt. Zuerst hat er das Ehepaar Cooper erschossen, wobei er einen Schalldämpfer auf die Waffe geschraubt hat. Danach nahm er das Bild von der Wand, schraubte den Schalldämpfer ab, öffnete die Terrassentür und wartete, bis Daniel Pitcher mit Lord Nelson vorbeikam. Dieser hörte die beiden lauten Schüsse und rief anschließend die Polizei. Dann hat ihr Mann das Bild wieder aufgehängt …«
»Schief aufgehängt, sonst wäre es mir gar nicht aufgefallen«, ergänzte Patricia beiläufig.
»… schief aufgehängt …«, grinste Taylor und fuhr dann ungerührt fort. »Jetzt musste er nur noch den Schalldämpfer verstecken und sich ebenfalls mit den KO-Tropfen außer Gefecht setzen.«
»Aber Sie haben diesen Schalldämpfer noch nicht gefunden«, schlussfolgerte Isabel und nickte verstehend.
»Genau. Und so lange muss die Anklage gegen Ihren Mann noch warten, Mrs. Palmer«, sagte Patricia.
»Nun, dann will ich hoffen, dass Sie dieses Accessoire bald finden, damit mein Mann für den Rest seines Lebens ins Gefängnis wandert.« Isabel Palmers Gesichtsausdruck ließ Taylor das Blut in den Adern gefrieren.
»Was denken Sie, Sir?«, fragte Patricia, nachdem sie wieder im BMW saßen und über die Einfahrt das Grundstück verließen.
»Sie hat angebissen, Sergeant. Sie haben Ihre Rolle ganz hervorragend gespielt, Patricia.« Taylor lächelte siegessicher.
Ja, Isabel Palmer würde sie zum Versteck des Schalldämpfers führen, und er war überzeugt, dass er sich nicht auf dem Grundstück befand. Ihr musste jedoch während der Schilderung des Tathergangs klargeworden sein, dass er genau dort gefunden werden musste.
»Sie wird uns zu den Beweisstücken bringen. Ich hoffe nur, dass sie uns nicht bis mitten in der Nacht damit warten lässt.«
Patricia blickte an sich hinunter und ließ ihren Blick auf ihrem schlanken Bauch ruhen. Taylor grinste. »Hunger, Sergeant?«
Patricia lächelte. »Zwei Scones und ein Muffin sind nicht das, womit man einen Tag überstehen kann. Und eine Kanne Tee wäre auch nicht verkehrt, Sir.«
Taylor wendete und parkte den Wagen etwa hundert Meter von der Einfahrt zum Herrenhaus. Er holte sein Mobiltelefon hervor und wählte Geoffreys Nummer.
»Ja, Sir«, meldete sich der Police Constable nach wenigen Sekunden.
»Haben Sie Pitcher erreicht, Holmes?«
»Es hat gedauert, Sir. Er war mit dem Hund draußen, aber ich habe mit ihm gesprochen. Halten Sie sich fest, Sir, er hat tatsächlich einen dunkelroten Bentley unter einer Straßenlaterne gesehen, der seiner Meinung nach nicht in die Gegend gehörte. Nach den Schüssen und dem, was danach passierte, habe er allerdings nicht mehr auf den Wagen geachtet. Ich habe noch mit den Kollegen gesprochen, die bei dem Einsatz dabei waren. Niemand hat den Bentley nach dem Eintreffen der Polizei gesehen. Mr. Faradays Angaben können also der Wahrheit entsprechen.«
Taylor blickte nachdenklich die Straße hinunter. Dann betrachtete er die Villa der Palmers, deren Dach hinter der Mauer zu erkennen war. Hatte Faraday tatsächlich die Wahrheit gesagt? War er vor dem Haus stehengeblieben und nach den Schüssen weggefahren? Oder war er hineingegangen und hatte das Ehepaar Cooper getötet und dem schlafenden Sam Palmer die Waffe in die Hand gedrückt? Aber woher hätte er wissen sollen, dass die drei schliefen? Er konnte es drehen und wenden, Jack Faraday hätte diesen Mord nicht begehen können. Jedenfalls nicht ohne Hilfe.
»Sir? Ist alles in Ordnung?« Die Stimme aus dem Telefon riss Taylor wieder in die Realität zurück.
»Kommen Sie her, Holmes. Bringen Sie was zu essen und zu trinken mit und richten Sie sich auf eine lange Observation ein.«
»Observation, Sir? Wen und wo soll ich observieren?«
»Kommen Sie zu Palmers Haus hier in Werdum Market. Sie werden zusammen mit Sergeant Duncan Isabel Palmer beschatten, Holmes«, sagte Taylor und legte auf.
Patricia sah ihn erschrocken an. »Ich soll mit Geoffrey zusammen …?«
Taylor nickte. »Ich weiß, was ich von Ihnen verlange. Von Ihnen beiden. Aber wenn Sie zwei weiterhin in Esenshire bleiben wollen, müssen Sie sich zusammenraufen.«
»Zusammenraufen?« Patricia huschte ein Grinsen übers Gesicht.
Taylor schüttelte den Kopf und grinste ebenfalls. »Schließt euch von mir aus in der Sporthalle ein und prügelt euch, wenn es euch hilft.«