Zu sagen, die Stimmung auf dem Rückweg sei eigenartig, wäre stark untertrieben gewesen. Jo machte keinerlei Anstalten, sie auch nur zufällig zu berühren, sondern hatte die Hände wieder in den Jackentaschen vergraben. Wilma ging – jetzt an der Leine – zwischen ihnen, und Alva war sich einigermaßen sicher, Jo hatte es mit Absicht so eingerichtet, um Abstand zu ihr zu halten.
Warum aber grinste er sie dann immer wieder so an?
Statt am Strand entlang gingen sie an der Uferpromenade zurück. Jo machte Wilma los und deutete mit einem Kopfnicken auf die ehemalige Eisdiele. »Wird das das Café, das deine Cousine eröffnet?«
»Woher weißt du das?«
»Weil du mir das mal geschrieben hast.« Er knuffte sie kumpelhaft mit dem Ellbogen. So viel also zu ihrem Gefühl, auf dem Hausberg sei etwas zwischen ihnen passiert.
Sie erinnerte sich nicht mal daran, ihm von Linneas Café geschrieben zu haben.
Durch die mit weißem Seidenpapier zugeklebten Scheiben schien Licht. Aus einem Impuls heraus – oder vielleicht auch, um diesem eigenartigen Kribbeln zu entfliehen, was Jo wohl doch nicht spürte – klopfte sie an die Scheibe.
»Ist offen!« Von außen kaum zu hören, und Alva war genau in dem Moment an der Tür, in dem diese von innen geöffnet wurde. »Hey, Lieblingscousine. Du hättest einfach reinkommen können.« Linneas Jeans, Sweatshirt und Sneakers waren mit hellgelber Farbe bekleckert, die glatten, schwarzen Haare bedeckte ein – ebenfalls mit Farbspritzern versehenes – Basecap.
»Ich war nicht so schnell. Ich wollte auch bloß schnell Hallo sagen und Jo ein bisschen mehr von Lillehamn zeigen.«
»Alva Fremdenführer.« Linnea nickte Jo zu. »Du bist der Typ von der Jacht, oder? Ich hab dich neulich gesehen.«
»Ja.« Sein Lächeln wirkte ein bisschen gezwungen. »Man kann in diesem Ort schlecht was geheim halten.«
»Stimmt«, sagte Linnea so unbekümmert, wie Alva es normalerweise gesagt hätte, müsste sie nicht ihre verwirrten Gefühle sortieren. »Ich werde mich nie daran gewöhnen. Und meine Cousine hat dich unter ihre Fittiche genommen?«
»Ich zeige ihm bloß die Umgebung«, sagte Alva unbehaglich. ›Unter die Fittiche genommen‹ klang wesentlich zu sehr nach Mutterhenne.
»Klar. Wollt ihr reinkommen? Es ist aber alles voller Farbe.«
Alva warf Jo einen fragenden Blick zu, und gleichzeitig sahen sie zu Wilma. »Nein. Ein anderes Mal.«
»Wo kommt deine Cousine her?«, fragte Jo auf dem Heimweg.
Früher hatte sich Linnea mit ihrem ostasiatischen Aussehen einen Spaß daraus gemacht, auf diese Frage wilde Geschichten von Inuit-Vorfahren zu erfinden. Bei der Erinnerung daran unterdrückte Alva ein Grinsen. »Aus Bergen. Wieso?«
»Weil sie gesagt hat, sie würde sich nie dran gewöhnen, wie es hier zugeht.«
»Ist, glaube ich, auch nicht einfach, wenn man aus der Stadt kommt, oder?«
Er hob die Schultern. »Überall gibt es Vor- und Nachteile.«
Zwei Stunden später, nachdem sie Wilma gewaschen und frottiert hatten, wurde Alva klar, wie wenig durchdacht ihr Angebot gewesen war, Jo bei sich waschen zu lassen – oder vielleicht hatte ihr vernebeltes Hirn die eher offensichtliche Erkenntnis bisher einfach nicht zugelassen: Jo, der ihre Waschmaschine benutzte, bedeutete auch Jo in ihrer Wohnung. Ohne Jacke, ohne Schuhe und nachdem sie sehr nah nebeneinander über Brit Janssons Weide gegangen waren. Ab und zu hatten die Außenseiten ihrer kleinen Finger sich berührt. Jo in ihrer Wohnung in einem eng anliegenden Longsleeve, das nicht nur das Eisblau seiner Augen spiegelte, sondern auch noch jeden einzelnen Muskelstrang seines Oberkörpers zur Geltung brachte. Von denen es im Übrigen beunruhigend viele gab.
Alva hatte die Zeit, die Jo brauchte, um seine Wäsche zu holen, sich frisch zu machen und umzuziehen, genutzt, um selbst schnell zu duschen und das Bad wenigstens oberflächlich zu putzen. Dann war sie zehn Minuten lang kopflos durch die Wohnung gelaufen und hatte darüber nachgedacht, ob sie ihm etwas zu trinken anbieten sollte und wenn, dann was, und was ihre Einrichtung wohl über sie aussagte. Jetzt stand sie hier, bewegungsunfähig, atemlos, und grinste ihn wie hypnotisiert an, als er mit seiner IKEA-Tasche in der Hand in Richtung ihrer Badezimmertür nickte. »Da rein?«
»Ja.«
»Muss ich was Besonderes beachten?«
»Nein.« Draußen war er ihr nicht so groß vorgekommen, doch jetzt hatte sie das Gefühl, er würde ihren ganzen Flur dominieren mit seinen bestimmt eins neunzig voller Muskeln und Sehnen und Augen in der Farbe von gefrorenem Nordmeer.
Als er ins Bad ging, stieß er beinahe an den Türrahmen.
»Einfach Sparprogramm, Temperatur einstellen und anschalten«, sagte sie zu seinem Rücken. Ihre sportversessenen Brüder hatten durchaus auch Rückenmuskeln. Es war nicht so, dass sie noch nie welche gesehen hatte. Und sie war Ärztin. Sie war vertraut damit, wie ein menschlicher Körper aussah. Ein trainierter menschlicher Körper in diesem Fall. Mit einem – das war ihr bisher nicht in dem Maße aufgefallen – ziemlich knackigen Hintern in der Jeans noch dazu.
Genau, Alva, zischelte ihre innere Stimme. Willst du nicht noch offensichtlicher hinstarren? Stell’s dir kurz mal andersherum vor. Wie fändest du es, wenn er dich so ansehen würde?
Sie riss sich los. »Willst du was trinken? Ich habe Bier, Himbeersaft und Wasser. Das Bier ist direkt hier aus Lillehamn.« Um nicht wieder zu starren, ging sie in ihre zum Wohnzimmer hin offene Küche.
»Ein Wasser, bitte.« Die Waschmaschine wurde geschlossen, kurz darauf begann die Trommel sich zu drehen, dann tauchte Jo aus dem Flur auf. »Es gibt eine Brauerei in dieser Weltstadt?«
»Mach dich nur lustig, Städter. Es gibt hier alles, was man braucht. Und im Frontstage brauen sie selbst, ja. Warst du noch nie dort?«
Er schüttelte den Kopf.
»Warum nicht? Das ist der Treffpunkt von Lillehamn.« Sie holte für sich eine Flasche von Jariks Craftbier aus dem Kühlschrank und füllte für Jo ein Glas mit Wasser. Dann kam sie sich blöd vor, stellte das Bier zurück und nahm sich auch ein Wasser.
»Keine Ahnung. Vielleicht, weil es der Treffpunkt von Lillehamn ist.«
»Du magst Menschen nicht sehr, oder?« Sie reicht ihm eins der Gläser.
»Ich mag Menschen an sich. Es ist nur so, dass …« Der Satz verebbte. Wilma hatte sich neben Alvas Sofa zu einem leise schnarchenden Fellknäuel zusammengerollt. Doch als Alva und Jo jetzt näher kamen, hob sie den Kopf und klopfte mit dem Schwanz auf den Boden. Jo hockte sich neben sie, in einer so geschmeidigen Bewegung, wie Alva es bisher nur bei Krister vor seinem Unfall gesehen hatte. »Ich hab einfach ’ne Menge unschönes Zeug erlebt.«
Alva dachte an die Geschichte seiner Ex-Freundin, die jetzt mit seinem Kollegen zusammen war. Aber was sollte das mit Menschenscheu zu tun haben – wenn es denn Menschenscheu war. Irgendwas sagte ihr, dass der Schmerz tiefer lag. »Tut mir leid, ich wollte nicht neugierig sein. Ich wusste nicht, dass das verbotenes Territorium ist.« Dabei sollte sie sich nun wirklich damit auskennen.
»Ist okay.« Pause. »Mir tut es leid. Ich war unhöflich und nicht sehr freundlich, und das war nicht richtig. Es ist nur … wenn es dir recht ist, würde ich gern über was anderes reden als darüber, warum oder wieso ich noch nicht im Frontstage war, sondern auf diesen denkwürdigen Spaziergang anstoßen.«
Denkwürdig. Er fand ihren Spaziergang denkwürdig. Vielleicht hatte sie sich nicht geirrt. Die Erkenntnis lenkte sie davon ab, dass sie so gut wie nichts über ihn wusste, obwohl sie ihm so viel von sich erzählt hatte. Und selbst wenn sie ihm nicht ihre Lebensgeschichte aufgenötigt hätte, würde sie alles über ihn erfahren wollen, jedes Detail. Wie das halt so war, wenn man … also, wenn man jemanden interessant fand. »Solange du mir versprichst, dass dein dunkles Geheimnis wirklich nichts mit Serienmorden zu tun hat, werde ich es ertragen.« Sie fand selbst, dass der Witz alt wurde.
Er lächelte trotzdem. »Irgendwann erzähle ich es dir.«
Sie gab es zurück. Ihr Glas stieß mit einem leisen Klacken an seins, ziemlich weit unten, sodass ihre Finger sich gerade nicht berührten.
»Auf diesen Tag.«
Sie nickte, nahm einen Schluck und deutete vage zum Sofa, um etwas zu tun zu haben und ihn nicht nur ansehen zu müssen. »Setz dich gern.«
»Danke.«
Doch er tätschelte nur weiter den Hundekopf, offenbar ebenso unsicher wie sie.
Sie starrte auf seine Lippen und versuchte, es nicht zu tun. Ein Schluck Wasser. Das Geräusch war ihr unangenehm. »Ich … soll ich Musik anschalten?«
»Klar, warum nicht?«
»Was hörst du gern?«
»Alles Mögliche.«
»Das hab ich nicht in der Playlist.« Vor allem war das Problem an ›alles Mögliche‹, dass so ziemlich jedes Lied auf Gottes schöner Erde einen irgendwie verfänglichen Text hatte. Herrje.
Sie schaltete das Radio an. 1FM verriet wenigstens nicht zu viel über ihren Gemütszustand.
Alva drückte auf Play und stellte die Lautstärke so ein, dass die Musik blöde Schluckgeräusche übertönen würde, aber der Text nicht allzu deutlich war. Dann merkte sie, dass Jo immer noch bei Wilma hockte und sie selbst immer noch herumstand, als wüsste sie nicht, wohin mit sich. Was ungefähr der Wahrheit entsprach.
Sie klemmte sich auf die Sofakante, mit genügend Abstand zu Jo. Wobei, vielleicht war es gar nicht schlimm, wenn er mitbekam, dass sie ziemlich dringend genau da weitermachen wollte, wo sie das vorhin eben nicht getan hatten.
Sie hatte schon erfahren, dass sie mit Jo auf die angenehme Art schweigen konnte. Dies hier allerdings war eher die ratlose.
Jo streichelte Wilma, Alva drehte ihr Glas in den Händen. Worüber hatten sie sich auf ihrem Spaziergang unterhalten? »Was du vorhin gesagt hast, dass du selten aus der Stadt rausgekommen bist … das ist eher ungewöhnlich.«
Er hob die Schultern und verlor nicht einmal dabei das Gleichgewicht. »Wo ich herkomme, war es eher normal. Meine Mutter war alleinerziehend, wir hatten kein Sommerhaus oder so was. Und wir sind im Winter nicht zum Skilaufen ins Fjell gefahren.« Etwas lag hinter diesen Worten. Etwas, das ganz klar sagte: bis hierher und nicht weiter. Sie hätte die Frage nicht stellen sollen.
»Wo kommst du her? Vom Tonfall her würde ich sagen, Ostnorwegen.«
Er nickte. »Oslo.«
»Dann hattet ihr immerhin den Oslofjord und die schöne Innenstadt, wenn schon keinen Wasserfall.«
Amüsierte Resignation. »Kein Oslofjord, wo ich aufgewachsen bin. Da gab es Beton und Straßen und den 7-eleven an der Ecke neben der Tunnelbahn-Station.«
Sosehr sie es versuchte, sie konnte sich keine Kindheit vorstellen, in der es keinen Wald gegeben hatte, kein Ferienhaus wie ihres auf Selerøy, keine Berge und keine Bootsausflüge. »Was hast du den ganzen Tag gemacht?«
»Was man halt tut. Fernsehen, mit Kumpels abhängen, sich schlagen, Sport machen. Viel Sport.« Wieder das Ungesagte, das hinter den Worten schwebte. »Der Mann, dem der 7-eleven gehörte, hieß Hans. Er war ungefähr hundert Jahre alt und schimpfte den ganzen Tag. Als wir klein waren, haben mein Kumpel Zayed und ich da immer dieses Brausepulver in den Plastikfläschchen gekauft, die aussahen wie Früchte. Manchmal auch geklaut, wenn das Geld gerade wieder knapp war, wie eigentlich immer. Wir kamen uns total unauffällig vor. Erst viel später habe ich herausgefunden, dass Hans nicht so unaufmerksam war, wie ich dachte. Er war schon in Ordnung, Hans.«
Er grinste bei der Erinnerung, aber dahinter war immer noch dieses Durchgang-verboten-Schild, von dem Alva noch nicht einschätzen konnte, wo genau es stand – und was es schützte. Also sprach sie über sich, nichtssagende Sätze, nur um nicht wieder zu schweigen. »Ich mochte das Brausepulver mit Erdbeergeschmack. Aber ich hätte sie im Leben nicht gestohlen.« Bevor der KiWi in Lillehamn gebaut worden war, hatte es nur einen Tante-Emma-Laden gegeben.
»Nie?«
»Nein.«
Jo hatte sich zu ihr umgewandt. Jetzt saß er mit angewinkelten Knien seitlich vor dem Sofa und hatte einen Arm darauf abgelegt, sodass seine Hand beinahe ihr Bein berührte. »Hast du überhaupt nie was geklaut?«
Sie bemühte sich, nicht seine Hand anzusehen, aber eine halbe Sekunde genügte, um jedes Detail aufzunehmen: die hervortretenden Adern auf dem großen Handrücken, die langen, sehnigen Finger. »Nein. Wohl als einziges Kind der Welt, das ist mir klar.«
»Wirklich nie?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Warum nicht?«
»Wie, warum nicht?«
Es wäre wesentlich einfacher gewesen, über eine Antwort auf seine Frage nachzudenken, wenn sich nicht ein Teil ihres Hirns schon wieder höchst engagiert darauf gestürzt hätte, seine Lippen zu studieren. »Ja, warum nicht? Bist du einfach ein guter Mensch, hattest du Angst vor der Hölle, warst du in den Sohn der Ladeninhaber verknallt?«
Sie kicherte. Sie ki-cher-te.
Sie fixierte Sehnen auf Handrücken, wurde hypnotisiert von Lippen und kicherte. Und sie konnte nicht mal nach Hause gehen, um sich in Sicherheit zu bringen.
Jo wartete auf ihre Antwort.
»Ich schätze, ich wollte meinem Vater keinen zusätzlichen Ärger aufhalsen.«
»Ich wittere ein wiederkehrendes Thema.«
»Du bist bestechend scharfsinnig.«
»Also kein heißer Schwarm?«
»Nein.«
Zwischen seinen Fingerspitzen und der Außenseite ihres Oberschenkels waren nur ein paar Millimeter. Ein paar Millimeter und Magnus und Jos Ex-Freundin und ein ganzes Leben, in dem Alva vom Rand aus zugesehen und aufgepasst hatte, dass alle versorgt waren.
Wenn Jo wenigstens neben ihr gesessen hätte, auf gleicher Höhe, nicht dort unten vor dem Sofa, wo er sie aus der denkbar ungünstigsten Perspektive sah. Doch er betrachtete nicht ihre kein bisschen definierte Kinnlinie, sondern seine Hand auf dem Sofa. Vielleicht auch ihr Bein oder gar nichts. Und sie betrachtete sein Gesicht von schräg oben. Die Stirn war entspannt, die steile Falte an der Nasenwurzel glatt. Die Haut auf der Oberseite seiner Lider sah weich aus.
Jo öffnete den Mund, atmete ein.
Alvas Herz schlug zu laut.
Jo schloss den Mund wieder.
»Was ist?«, fragte sie.
Er sah auf. »Danke, dass ich hier waschen kann.«
»Kein Problem.«
»Ich fange an, Lillehamn zu mögen.«
Alva nickte und lächelte. Lillehamn zu mögen. »Es ist ein schöner Ort.« Die Musik steigerte sich zum Crescendo.
»Mit schönen Menschen.« Er hatte das leise gesagt, in die lauter werdenden Bässe hinein. Wahrscheinlich hatte sie ihn falsch verstanden. Er fasste nach ihrer Hand.
»Welches Wäscheprogramm hast du jetzt eigentlich genommen?« Fußboden, tu dich auf. Sofort.
»Und dann?« Hanne wippte im Gehen auf und ab, um die kleine Marit zu beruhigen, die in der Babytrage vor sich hin muckelte. Alva hatte ihre Freundin zufällig auf der Straße getroffen, als sie Jo hinterhergesehen und Hanne ihre große Tochter von einem Freund abgeholt hatte. Spontan hatte sie beschlossen, Hanne, Ella und das Baby ein Stück nach Hause zu begleiten.
»Dann bin ich Idiotin aufgestanden, als hätte er nicht meine Hand genommen, sondern einen Knallfrosch unter meinem Hintern entzündet, und habe Chips geholt und Tee gekocht. Dann haben wir geredet, zwei Stunden lang, über nichts«, sagte sie.
Hanne seufzte. »Ach, meine Alva.«
»Was stimmt mit mir nicht, sag mal? Wir haben uns auf dem Berg fast geküsst. Wieso reagiere ich so panisch?«
»Weil irgendein Teil deines Unterbewusstseins Magnus immer noch nicht verdaut hat. Aber es muss lernen, dass nicht alle Männer so sind wie dein Ex.«
»Verrätst du mir auch, wie ich es davon überzeuge?«
»Kannst du bewusst gegensteuern, wenn du merkst, dass eine Panikreaktion in den Startlöchern steht? – Warte da vorn an der Straße, Ella!«
Ella war mit dem Fahrrad vorgefahren, aber manchmal vergaß sie noch, an der Kreuzung am Ende der Kongchristiansgate anzuhalten.
Alva hob die Schultern.
»Also erübrigt sich die Frage, ob ihr euch geküsst habt, vermutlich.«
»Leider ja. Falls ich da nichts falsch gedeutet habe und auf dem Berg wirklich was zwischen uns war, habe ich es wohl ruiniert.«
»Unwahrscheinlich. Wie lange, sagtest du, hat er in deiner Wohnung gesessen?«
»Seine Wäsche lief. Vermutlich wollte er nicht, dass ich seine Unterhosen in den Trockner werfen muss.« Ihr Selbstschutzinstinkt nickte wohlwollend. »Ich mache mir auch nichts vor; ich spiele wohl kaum in seiner Liga. Hast du seinen Körper gesehen? Hast du gesehen, wie er sich bewegt? Das ist jetzt nicht gerade der Typ Mann, der auf kurze Knubbelfrauen abf-«
»Ella, warte!« Hanne lief hinter ihrer Tochter her, aber mit dem protestierenden Baby vor dem Bauch war sie nicht sehr schnell. Stattdessen rannte Alva los und fing ihr Patenkind ein, bevor es auf die Straße rollen konnte, selbst wenn dort nur alle halbe Stunde ein Auto fuhr.
»Sorry«, sagte Hanne, als sie herangekommen war, »was wolltest du sagen?«
»War nicht wichtig.«
»Vielleicht möchte ich es dennoch hören?«
»Es war bloß … ich habe gesagt, dass große, trainierte Typen wie Jo in der Regel nicht auf kleine, dicke Frauen stehen.«
»O Gott, Schwester, du solltest wirklich an deiner Selbstwahrnehmung arbeiten.«
»Ich weiß, meine Lieblingsfreundin behauptet das.«
»Süße, würdest du mir bitte vertrauen, wenn ich dir sage, dass er ebenso scharf auf dich ist wie du auf ihn?«
»Ich bin überhaupt nicht –«
»Mama, was heißt das, ›scharf auf dich‹?«, fragte Ella, so laut, dass es garantiert halb Lillehamn gehört hatte.
Hanne grinste Alva an und wandte sich dann ihrer Tochter zu. »In diesem Fall heißt es, jemanden wirklich zu mögen und gern mit ihm zusammen zu sein.«
»Ach so! Dann bin ich scharf auf Theo. Uuuund auf Luis. Und auf Ida und Sofie. Und auf Elias, aber nur manchmal. Auf wen bist du scharf, Alva?«
»Auf ...«, niemanden, war sie versucht zu sagen. Aber dann hätte sie Ella anlügen müssen, und sie hasste es, wenn man Kinder auf diese Weise verwirrte. »Auf jemanden, den ich kennengelernt habe und den ich sehr nett finde.«
»Wie heißt der?«
Wenn Alva jetzt ›Jo‹ antwortete, würde es morgen ganz Lillehamn wissen. Andererseits hatte ihre Nachbarin von gegenüber Jo aus dem Haus kommen sehen – die Vorstellung, das Geheimnis wahren zu können, war ohnehin utopisch. Doch Ella war schon wieder ganz woanders und verkündete, Elias hätte eine Kornnatter und sie wolle auch eine Schlange haben.
»Wir besprechen das in Ruhe zu Hause. Jetzt möchte ich erst mal mit Alva reden.«
»Schwörst du?«
»Bei meiner Ehre.«
Zufriedengestellt radelte Ella wieder los.
Hanne ließ keine Sekunde verstreichen. »Wir waren dabei, dass du scharf auf ihn bist.«
»Ich bin nicht scharf auf ihn!«
Hanne schnaubte.
»Okay, okay.« Alva senkte die Stimme. »Ich bin einigermaßen verknallt und finde ihn einigermaßen heiß. Aber das ist völlig egal, denn er ist nächsten Monat ohnehin wieder weg.«
»Na und? Was spricht gegen einen Mann für die nächsten drei Wochen? Gesunde sexuelle Grundversorgung hat noch keiner Frau geschadet.«
»Hanne«, zischte Alva und grüßte mit einem Lächeln und einem Kopfnicken in Richtung der alten Dame, die auf der anderen Straßenseite auf ein Kissen gelehnt aus dem Fenster sah. Himmel. Sie wollte noch in die Praxis gehen können, ohne dass der halbe Ort über ihr – nicht vorhandenes – Liebesleben Bescheid wusste.
»Was? Er macht durchaus den Eindruck, dass man mit ihm Spaß haben könnte. Du sagtest es selbst, der Typ ist fit.«
»Da hat er ja wohl auch noch ein Wort mitzureden. Außerdem ticke ich so nicht. Ich will keinen Mann für mal zwischendurch.«
Hanne spitzte die Lippen und deutete einen Kuss an. »Es würde ein bisschen Abenteuer und Zauber in dein Leben bringen, wenn du dich auf ihn einlassen würdest, das wäre alles. Ein bisschen … Wildheit. Und das Leuchten deiner Augen sagt mir alles, was ich zu dem Thema wissen muss.«
»Wildheit, ja?«
»Nenn es, wie du willst. Du bist doch diejenige, die den Dreißigster-Geburtstags-Blues hat, nicht ich.« Hanne blieb stehen. Sie war ernst geworden. »Ich sag dir was. Falls ich Ex-Magnus jemals wiedersehen sollte, haue ich ihm eine rein.«
»Ich bin es, die Jo ausgewichen ist, nicht Magnus.«
»Und warum?« Marit quiekte vor Schreck. Hanne schaukelte sanft auf und nieder und sprach dabei mit absurd singender Stimme weiter. »Weil dieser Volltrottel es geschafft hat, dein Selbstwertgefühl völlig in den Dreck zu treten.«
»Ich bin nicht blöd, Hanne, und ich habe einen Spiegel. Ich weiß, dass ich nicht so aussehe wie … Svea zum Beispiel.«
»Ich schreie dich gleich an. Als wäre man nur liebenswert, wenn man aussieht wie Svea. Du siehst aus wie du, und das ist sehr hübsch.«
Alva schnitt ihrer Freundin eine Grimasse. »Du weißt, was ich meine. Ich bin einfach nicht diejenige, für die sich Männer interessieren, schon gar nicht solche wie Jo. Es ist besser, wenn ich mich da nicht in was reinsteigere. Mit Jo, das ist gut so, wie es ist.«
Hanne schwieg.
»Außerdem will ich nicht ausschließen, dass ich mir einfach nur einbilde, in ihn verknallt zu sein, weil mich dieser blöde Gesellschaftsdruck so nervt. Mit dreißig musst du irgendwie Haus, Mann, Kind und Auto haben.«
»Vergiss die Einbauküche nicht.«
»Haus, Mann, Kind, Auto und Einbauküche. Aber was ist mit den Leuten, die das nicht haben können – oder wollen?« Hanne war damals dabei gewesen, als Alva die Diagnose bekam, nie auf natürlichem Weg Kinder bekommen zu können. Sie hatte Alva auch die Taschentücher gereicht, nachdem das mit Magnus in die Brüche gegangen war. Aber Hanne hatte eben das alles, was Alva nicht hatte. Hanne spürte den Druck nicht.
»Ich glaube nicht, dass das Leuchten in deinen Augen, wenn du von Jo sprichst, irgendwas mit all deinen merkwürdigen Ausflüchten zu tun hat«, sagte Hanne. »Du hast Angst. Aber nicht alle Männer sind wie Magnus. Weißt du noch, was meine Mutter früher immer gesagt hat?«
Alva war sechzehn gewesen und frisch frustriert, weil Kenneth aus der Zwölften sie – natürlich – nicht zur Kenntnis nahm. Und Hannes Mutter hatte Waffeln gebacken und sich zu Alva und Hanne an den Küchentisch gesetzt. »Wisst ihr, meine Süßen, ich kenne ziemlich viele kompetente Mütter, die gute Söhne großziehen. Und irgendwo müssen die sein.«
»Deine Mutter ist eine kluge Frau, sie hat nur übersehen, dass sie meisten davon verheiratet oder mit mir verwandt sind.«
Hanne lächelte fein. »Streite es nur weiter ab. Seht ihr euch morgen?«
»Nein. Bo ist krank, es gibt morgen keine öffentliche Fütterung. Auch so wird es tough genug werden, die Residenten zu bespaßen und die Heuler zu versorgen. Wir brauchen dabei nicht noch Zuschauer.«
»Dann könntest du Jo für Ostern auf die Hütte einladen.«
Beinahe fing Alva an zu husten. »Was?«
Hanne zuckte die Schultern. »Annik hast du damals auch nach Selerøy mitgenommen.«
»Das war ja nun wirklich was anderes. Annik war meine neue Kollegin, ich wollte, dass sie sich in Lillehamn wohlfühlt.«
»Wäre nur fair, wenn Jo sich in Lillehamn auch wohlfühlen würde.«
»Ist klar. Bestimmt hat er richtig viel Lust, mit einer Horde fremder Leute Ostern zu verbringen.«
»Besser als allein im Hafen, oder? Ich gebe dir hiermit die offizielle Erlaubnis, ihn auf unsere Hütte einzuladen.«