Der Schneeregen prasselte seit morgens um fünf schon auf die Fensterluke über Jos Bett, wo er den Tropfen beim Zerplatzen zusehen konnte, auf das Oberdeck, auf die ganze Welt. Kaum vorstellbar, dass er gestern noch mit Alva im Sonnenschein bei dem Wasserfall gewesen war. Es prasselte, floss, tropfte. Jo war sicher, dass er nicht mal das Steingebäude am Hafen sehen würde, wo er Wilma gefunden hatte.
Die FYF ruckte und schlug, als hätte sie allmählich genug davon, hier vertäut zu liegen und mit wenigen Zentimeter Spielraum von den Wellen geschüttelt zu werden. Jo auch. Sein Magen war nicht begeistert von dem stetigen Heben, Rucken, Senken. An diesen Teil hatte er nicht gedacht, als er die Idee mit dem Boot gehabt hatte, sondern nur daran, dass er auf dem Meer weg von allem sein und dabei genug zu tun haben würde, um nicht zu viel nachzudenken. Und dann hatte er diese Jacht aufgetrieben, und Kjersti hatte den Sponsoring-Deal mit SkanJersey aus dem Hut gezaubert. Es war eine Kurzschlusshandlung gewesen, nicht mehr. Aber immerhin hatte sie ihn nach Lillehamn gebracht.
Er checkte die Anzahl der neuen Abonnenten von N’Core (zufriedenstellend) und textete Kjersti, dass er ihre Meinung zu der neuen Windpark-Aktie brauchte. Danach war ihm endgültig schlecht. Seegang und das Fixieren naher Gegenstände zusammen waren eindeutig nicht gut.
Wilma stand winselnd und breitbeinig Balance haltend vor dem Bett. Vermutlich hatte er die Wahl zwischen genau zwei Möglichkeiten: in den Regen hinauszugehen oder sehr bald Hundekotze wegzuwischen. Wozu er sich hinunterbeugen müsste. Nicht gut.
»Ich komme, Wilma.«
Er schob sich von dem dreieckigen Bett im Bug, bis er mit den Fußspitzen den Boden ertasten konnte.
Wilma stupste ihn an und fiepte.
»Geh schon mal zur Tür. Wie soll ich mich anziehen, wenn du mir dabei zwischen den Beinen rumläufst?«
Der Hund verstand die Problematik nicht.
Jo angelte seine Jeans von der Bank in der Essecke. Er musste sich hinsetzen, um sie anziehen zu können, einbeiniges Stehen war vollkommen ausgeschlossen.
Bevor er in den Weltuntergang hinausging, hüllte er sich von Kopf bis Fuß in die teuren SkanJersey-Segelklamotten, die bisher unbenutzt im Spind neben dem Klo gehangen hatten, und schwitzte schon, als er den Reißverschluss der Jacke über dem Kinn schloss. Aber wenigstens von außen nass werden würde er in den Klamotten nicht. Automatisch griff er nach dem Telefon auf der Anrichte, bevor er das Boot verließ, stellte fest, dass der Akku leer war, und ließ es auf dem Charger.
Der Schneeregen hatte das Deck rutschig gemacht. Wilma winselte.
»Na, los. Nur ein paar Schritte.« Es gelang ihm, von dem schwankenden Boot auf den Steg zu springen und abzufedern.
Wilma stand breitbeinig und panisch auf dem sich hebenden und senkenden Deck. Jo sah sich schon ins eisige Hafenbecken springen, um sie zu retten und irgendwie mit ihr zum Ufer zu paddeln.
»Komm, Wilma. Du schaffst das.«
Fiepen antwortete ihm.
»Zwei Sekunden Mut. Komm.«
Endlich sprang sie, schlitterte, jaulte, und es gelang ihm gerade so, sie abzufangen, bevor sie auf der gegenüberliegenden Seite des Stegs tatsächlich ins Meer rutschte. Aber fallen konnte er, und er fing Wilma ein, damit sie es eben nicht tat.
Als große, nasse Flocken klatschte ihm der Niederschlag ins Gesicht, während er an der Wasserkante entlangstapfte. Es war großartig. Jo strich die Kapuze zurück und ließ sich nass regnen. Wilma zeigte dafür keinerlei Verständnis, sie weigerte sich, weiter als hundert Meter zu gehen. Sobald er Anstalten machte, wieder in ihre Richtung zu kommen, lief sie zurück zum Boot, ohne sich auch nur nach ihm umzudrehen. Neben der Jacht blieb sie stehen.
Gegen seinen Willen musste Jo lachen. »Sonst geht’s noch?«
Sie klemmte den Schwanz zwischen die Hinterbeine und sprang aufs Deck, sobald Jo herangekommen war.
»Du bist echt ein kleiner Schisser.«
Er trocknete sie ab und legte ihr eine alte Zeitschrift zum Zerfetzen auf die Sitzbank. Ein Blick auf sein Smartphone zeigte ihm, dass ein kabelloser Charger auf einem schwankenden Boot keine besonders kluge Idee war. Irgendwo in einer der unteren Schubladen hatte er noch ein Ladekabel. Auch das Hinunterbeugen gehörte, nun, nicht zu den besten Einfällen aller Zeiten.
Ob Wilma mitkam oder nicht – er brauchte frische Luft und Bewegung.
Draußen hatte der Schneeregen noch zugelegt. Eisig biss er Jo in die Wangen und brannte ihm auf der Stirn. Der Wind heulte, Wellen krachten ans Ufer, Gischt spritzte hoch. Und Jo war ein Teil dieser grandiosen Lebendigkeit. Eine Gruppe Silbermöwen stob auf, als er sich näherte. Eine zischte so dicht über seinem Kopf hinweg, dass er die gelben Augen und den leicht geöffneten, gekrümmten Schnabel sehen konnte, bevor er unwillkürlich den Kopf einzog. Er hatte nicht gewusst, dass Möwen so groß waren.
Er stieg über die mit im Regen leuchtend grünem Moos bewachsenen Steine am Ende des Strands, sah sich um und fand zwischen ein paar nackten Büschen den Trampelpfad über die Schafweide. Die Schafe, die am Vortag so neugierig gewesen waren, standen mit gesenkten Köpfen unter einer Kiefer eng beieinander. Vermutlich war er ein bisschen seltsam, dass er freiwillig hier draußen im Regen herumlief, aber je nasser ihm die Haare am Kopf klebten und je kälter seine Nasenspitze wurde, desto wacher fühlte er sich.
Aber wach oder nicht – es half ihm nicht, was die Sache mit Alva anging. Vielleicht war es ganz gut, dass nichts weiter zwischen ihnen passiert war, als er dort gewaschen hatte. Also, nichts bis auf die Tatsache, dass er ihr die Hälfte der Zeit auf diese hinreißenden Lippen gesehen hatte, um zu vermeiden, dass sein Blick sich zu anderen berückenden Körperteilen verirrte, und die andere Hälfte über recht viel Unsinn geredet hatte. Schließlich war von Anfang an der Plan gewesen, hier keinerlei Bindungen einzugehen. Jetzt musste er sich nur noch selbst dran halten und nicht zulassen, dass sie ihn zu sehr unter ihre Fittiche nahm. Der Begriff passte so zur Reaktion seines Körpers allein auf den Gedanken an Alva, dass er lachen musste.
Der Seegang hatte nachgelassen, als Jo zwei Stunden später das Schiebeluk hochschob. Wie es aussah, hatte Wilma nichts Verbotenes gefressen – was möglicherweise daran lag, dass er langsam lernte, nichts liegen zu lassen. Dafür war das Sportmagazin jetzt vollends zerfetzt. Nun, darum war es nicht besonders schade.
Mit dem trommelnden Regen und dem in den Wanten klirrenden Wind war es unsagbar laut in der Kajüte, während er seine Kleidung zum Abtropfen in die Dusche hängte. Sein Spiegelbild zeigte ihm einen Typen mit roter Nase und nassen Strähnen. Der Typ grinste.
Sein Telefon war aufgeladen und dennoch jammervoll dunkel. Alva hatte nicht geschrieben. Gut, genau genommen hatte er auch nicht geschrieben, und unter erwachsenen Menschen sollten Spielchen unnötig sein. Ein bisschen erbärmlich, wie erlösend der Gedanke war, dass Alva bei ihren Robben zu tun hatte. Ihr Schweigen hatte nichts damit zu tun, dass sie ihn nicht mochte. Keine Bindungen eingehen. So viel dazu.
Vor einem halben Jahr noch hätte er jeden ausgelacht, der sich anstellte wie er jetzt. Erschreckend, wie viel von seinem Selbstbewusstsein und vielleicht sogar seiner geistigen Gesundheit anscheinend an Aki Lundahl, Star-Rechtsaußen, gehangen hatte.
Erst jetzt merkte er, wie hungrig er war. Im Klappschrank über dem Herd waren Zwiebeln, Nudeln, Stockfisch, Bohnen, Röstzwiebeln. Eine halbe Tüte Rosmarin-Chips. Fürs Erste nahm er die Chips. Richtig kochen konnte er dann immer noch.
Ein Königreich für eine Badewanne. Alva war nicht nur von oben bis unten nass und unterkühlt, sondern musste auch dringend den Fischgestank aus der Nase bekommen, der heute irgendwie schlimmer zu sein schien als sonst. Nur Nina, die Tierpflegerin Silje und sie waren da gewesen. Sie hatten jedes Gehege gereinigt, jeden Fisch persönlich verfüttert, jeden Heuler gewogen. Inzwischen war Nina sicher, dass Hope durchkommen würde. Es war ein guter Tag gewesen.
Nach einer ausgiebigen Dusche schlüpfte Alva in ihren Pyjama und setzte sich mit Socken, Decke, Teetasse und Buch aufs Sofa. Und mit ihrem auf lautlos geschalteten Smartphone. Was hatte sie schon zu verlieren, wenn sie Jo schrieb und er sie nicht wiedersehen wollte?
Sie las ein paar Seiten, blickte aus Versehen aufs Smartphone, trank Tee und formulierte im Hinterkopf Nachrichten an Jo. Natürlich sah sie nur zufällig gerade in Richtung Display, als es zu blinken begann. Beim Anblick von Jos Namen machte ihr Herz einen Satz.
Wie geht’s den Robben?
Sie wusste nicht, warum die Frage sie beinahe enttäuschte. Es war doch aufmerksam, dass er sich daran erinnerte, wo sie ihren Sonntag verbracht hatte.
Gut. Und Wilma?
Wilma ist fit. Sie hat hier nur faul rumgelegen. Ich war beim Wasserfall. Heute ohne dass jemand verloren geht.
Und auch ohne dass sich jemand beinahe küsste. Vor gerade vierundzwanzig Stunden hatte Jo auf diesem Sofa gesessen. Sie hatten erzählt und gelacht.
Hört sich gut an, könnte sie schreiben. Oder: Super. Oder irgendwas anderes Nichtssagendes. Aber nichts von dem war das, was sie wirklich beschäftigte: dass sie an Jo dachte. Nicht erst seit gestern, aber seit gestern ziemlich ununterbrochen – zumindest, wenn sie sich gestattete, es zu bemerken.
Sie dachte an seine großen Hände mit den langen Fingern und den fein gezeichneten Adern auf dem Handrücken. An seine Lippen. An die Fältchen in seinen Augenwinkeln, wenn er lächelte. Daran, dass sie sich bei ihm angenommen fühlte. Und … okay, auch an seinen Hintern.
Smule hat nach dir gefragt.
War er sehr enttäuscht?
Alva lachte. Während sie noch über irgendeine nicht vollkommen geistlose Antwort sinnierte, traf die nächste Nachricht von Jo ein.
Ich habe nachgedacht, als ich auf euren Hausberg gelaufen bin. Ich glaube, ich würde das Frontstage gern kennenlernen.
Obwohl dort ganz Lillehamn versammelt sein könnte?
Ich hab kein Problem mit Menschen. Du?
Überhaupt keins. Willst du jetzt sofort hin?
Hab gleich noch eine Telefonkonferenz. Passt es dir morgen?
Was für eine Telefonkonferenz hast du am Sonntagabend?, wollte sie schreiben, ließ es aber. Sie konnte ihn im Frontstage fragen, falls es ihr wichtig genug war. Okay, falls sie bis dahin vor sich selbst zugab, neugierig wie ein Oktopus zu sein.
Sie überschlug schnell ihren Zeitplan. Morgen, am Montag, war Team-Meeting, und danach hatte sie Nina versprochen, bei der Abendfütterung zu helfen. Dienstag war Bo hoffentlich wieder gesund, aber sicher hatte er es nicht sagen können. Und Krister hatte den Besuch irgendeines Finanzexperten für Dienstag auf den Plan geschrieben, mit dem er ein paar Praxiserneuerungen durchrechnen wollte – jetzt, da in Fuglesang die Konkurrenz wuchs. Alva fand Espens Weigerung, einfach mit Madalena zu sprechen, nach wie vor kindisch, aber nun, sie wusste nicht, was zwischen den beiden wirklich schiefgelaufen war.
Schließlich schlug sie Jo den Mittwoch vor. Es dauerte ganze siebzehn Sekunden, bis er antwortete:
Ich freue mich.
Am Montag hatte der Dauerregen aufgehört, und die Arbeit bei den Robben machte gleich doppelt Spaß. Ein paar Tage noch, und man würde spüren können, dass der Frühling kam.
»Wir können Ginger und Fred am Mittwoch auswildern«, sagte Nina. »Bist du dabei? Bo ist die Woche noch außer Gefecht.«
Ginger und Fred waren zwei junge Kegelrobben, die ersten, die in diesem Jahr nach einem Sturm in Sola am Strand gefunden worden waren. »Klar«, sagte sie. Auswilderungen gehörten zu den schönsten Momenten mit den Robben. Zu spät fiel ihr ein, dass sie abends mit Jo verabredet war, wo sie auf keinen Fall erschöpft und verzottelt auftauchen wollte. Es sei denn …
»Kann ich jemanden mitbringen?«
»Wenn er anpacken kann«, sagte Nina nur.
Alva wusste selbst nicht, was sie davon abhielt, einfach bei Jo ans Boot zu klopfen, um ihn zu fragen, ob er mitkommen wollte. Es war nicht so, dass sie ihn nicht sehen wollte, ganz im Gegenteil. Warum also? Wovor bei allen gestreiften Robben hatte sie Angst?
Nachdem sie zu Hause ausgiebig geduscht und sich einen Tee gekocht hatte, nahm sie ihr Telefon und öffnete Jos Chatfenster. Süße, würdest du mir bitte vertrauen, wenn ich dir sage, dass er ebenso scharf auf dich ist wie du auf ihn?, klang Hannes Stimme in ihrem Kopf. Es wurde Zeit, das Zögern aufzugeben.
Am Mittwoch traute sich die Sonne endlich richtig hinter den Wolken hervor. Alvas Atem kondensierte auf dem Weg zur Praxis immer noch vor ihr in der Luft, aber die Luft roch nach Frühling. Der Regen, der das Land die letzten Tage über mit einem dichten Grauschleier nach dem anderen überzogen hatte, war verschwunden, und zurückgeblieben war nur üppige Feuchtigkeit, die die Farben der Krokusse und Forsythien umso mehr zur Geltung brachte.
Den Vormittag über gelang es Alva halbwegs zu verdrängen, dass sie aufgeregt war, aber mittags fragte Svea: »Hast du heute noch was vor?«, während sie nebeneinander ihre Schuhe anzogen, um zu Jamal zu gehen.
»Wir wildern heute Ginger und Fred aus«, was nicht der Grund war, dass ihr Herz Purzelbäume schlug. »Und danach will ich ins Frontstage.«
»Allein?«
»Mit einem Bekannten. Warum?«
»Nur so. Du lächelst den ganzen Vormittag schon vor dich hin, und ich dachte, bestimmt freust du dich darauf, später einen … Bekannten zu treffen.«
»Ich freue mich auf Ginger und Fred. Auswildern macht mich immer glücklich.«
»Alva Solberg.« Selbst wenn Svea über das ganze Gesicht grinste wie jetzt, war sie noch umwerfend schön. »Wer von uns beiden ist in Lillehamn aufgewachsen, du oder ich? Glaubst du nicht, es hat sich längst rumgesprochen, dass du mit dem Typen, der jedes Wochenende deine Robbenshow ansieht, was am Laufen hast?«
»Wir haben nichts am Laufen.«
Svea richtete sich auf. »Dann hat mir Brit Jansson beim Blutabnehmen wohl Lügen erzählt, als sie meinte, sie hätte dich mit einem großen, breitschultrigen Mann den Hausberg hinaufwandern sehen.«
Alva öffnete den Mund.
»Und Lotta Eriksson hat beobachtet, wie du dich am Hafen nicht trennen konntest.«
Wieder versuchte Alva, dazwischenzukommen, aber Svea hatte so viel Spaß an der Sache, dass sie trotz Alvas Luftholen einfach weitersprach. »Und Rose –«
»Was hast du jetzt wieder mit Rose zu tun?«
»Rose ist Marius’ Tante, hast du das vergessen?«
Klar. Marius, der einzige männliche Auszubildende der Praxis, arbeitete meist mit Svea im Labor. Und er war auch der Neffe von Alvas Nachbarin Rose. Manchmal machte dieser Ort sie wahnsinnig.
»Jedenfalls«, sagte Svea fröhlich, »hat Rose erzählt, dass du am Samstag Besuch von einem, ich zitiere, ziemlich scharfen Schnuckelchen hattest. Ich bin versucht, heute Abend ins Frontstage zu kommen, um mir den Mann mal anzusehen.«
»Untersteh dich.«
»Keine Sorge.« Svea lachte. »Dein Bruder wünscht sich sehnlichst, wieder mal beim Tennis verlieren zu dürfen, und wie könnte ich ihm diesen Wunsch abschlagen?«
»Sei nicht zu hart zu ihm.«
»Er braucht das.« Svea warf den Satz locker hin, mehr als Witz, aber Alva hörte die Ernsthaftigkeit darunter. »Bringst du dein scharfes Schnuckelchen denn wenigstens Ostern mit auf Hannes Hütte?«
Alva lachte verzweifelt auf. »Was stimmt nicht mit euch allen, sag mal?«
»Hanne hat gesagt …«
»Und ich habe gesagt«, sie fing den neugierigen Blick einer alten Dame aus dem Wartezimmer auf und sprach leiser weiter, »und ich habe gesagt, ihr könnt aufhören, euch in mein Leben einzumischen.«
»Keine Chance. Lillehamn hat mich gründlich assimiliert. Hier gehört es zum guten Ton, sich einzumischen. Wollen wir los?«
Nebeneinander gingen sie die wenigen Schritte zu Jamal’s Place. Aber wenn Alva gedacht hatte, ihre Schwägerin ließe das Thema ruhen, hatte sie sich getäuscht. »Ernsthaft«, sagte Svea. »Nimm ihn doch einfach mit. Annik hast du damals auch –«
»Du solltest aufhören, dich mit Hanne zu unterhalten.«
»Was hast du zu verlieren, wenn du ihn fragst?«
Nichts, dachte Alva. Zumindest rational. Emotional wäre ein Nein von Jo – oder schlimmer noch: ein irritiertes Auflachen – etwas, das ihr angeschlagenes Selbstbewusstsein nicht gut verkraften würde. »Es wäre ein bisschen merkwürdig, oder? Ich kenne Jo selbst kaum.«
»Du musst noch viel lernen, Schwägerin. Frag Espen und mich mal. Man kann auch mit Leuten schlafen, die man kaum kennt.«
»Ich dachte, wir seien dabei, dass er mit auf die Hütte kommt, und nicht gleich beim Sex.«
Svea zuckte die Schultern. »Wie lange willst du warten? Der Typ wird ja nicht ewig hierbleiben, oder?«
Die Sätze blieben in Alvas Bewusstsein hängen, machten sich breit und taten nach nur wenigen Stunden so, als wären es ihre eigenen. Bei ihrer letzten Patientin ließ Alva sich von Espen vertreten, der nicht mal deswegen nörgelte, und eilte zur Marinestation. Wie lange wollte sie warten? Bis Jo davonsegelte und sie sich selbst stolz auf die Schulter klopfen konnte, weil sie darin bestätigt worden war, uninteressant zu sein? Es hatte ihn nicht abgeschreckt, sie in Robbenklamotten gesehen zu haben. Und ihre Stimme brachte seinen Kopf zum Summen. Wer konnte das sonst schon von sich behaupten?
Jo wartete schon vor dem Eingang, passend in ozeantaugliche Segelkleidung gehüllt. Seine Nasenspitze war entzückend rot von der Kälte. »Hi.«
»Hi.« Alvas Stimmte kiekste ein wenig. Sie umarmte Jo zur Begrüßung. Svea wäre hoffentlich stolz auf sie.
Jo erwiderte die Umarmung – einen Hauch zu fest und zu lange für eine bloße Begrüßung, und sie spürte seinen Atem in ihren Haaren. Signal genug für ihr Herz, um sich zu benehmen, als sei es selbst soeben ausgewildert worden.
»Und jetzt?«
»Du kannst nicht mit in den Quarantänebereich.« So romantisch. »Wir bringen die Robben in ihren Transportkörben raus, und dann kannst du gern da vorn an der Einfahrt helfen, sie einzuladen.«
»Es ist sicher okay, wenn ich mitkomme?«
Alva gelang ein lässiges Schulterzucken. »Gehört zum Touristenprogramm hier.«
Nina begrüßte Jo kurz danach nur mit einem knappen Nicken. »Unser größter Sponsor. Danke.«
»Kein Problem. Ist ja für einen guten Zweck.«
Alva bot Jo mit seinen langen Beinen den Beifahrersitz an, nachdem sie die Robben eingeladen hatten, aber er schüttelte den Kopf und faltete sich auf die Rückbank. Silje würden sie direkt an der Selerøy Marina treffen.
Nina steuerte den Transporter auf die Straße und warf einen Blick in den Rückspiegel. »Sag mal, woher kenne ich dich?«
Alva drehte sich um. Sie sah gerade noch, wie Jo ein Unschuldslächeln anknipste. »Keine Ahnung. Vielleicht sind wir uns schon mal in der Robbenstation begegnet.«
Er zwinkerte ihr zu, und sofort kitzelte das kicherige Lachen ihr wieder in der Kehle.
»Vielleicht.« Nina wirkte nicht überzeugt.
Eine weitere Frage auf der Liste von Detektivin Alva Solberg.
An der Marina wartete Silje bereits mit dem Handwagen, auf den sie die Körbe mit Ginger und Fred wuchteten, um sie zum Boot zu bringen.
Ohne dass man ihn anweisen musste, verstand Jo, wo er gebraucht wurde, nachdem Nina ihm bedeutet hatte, mit ihr auf die Motorjacht zu steigen. Alva und Silje hoben die Kisten mit den Robben eine nach der anderen, so hoch sie konnten, und Jo nahm sie von oben entgegen, als hätte er nie etwas anderes getan.
Der Handwagen blieb am Pier stehen. Als Alva an Bord sprang, schob Nina eben die Kisten nebeneinander. Jo reichte ihr ein Ende des Spanngurts an, mit dem sie die Kisten immer sicherten, und Nina zog es fest. »Danke für die Hilfe.«
So selbstverständlich, als gehörte er zum Team, setzte Jo sich kurz darauf im Heck neben Alva. Nina steuerte das Boot, und Silje war auf der Sitzbank gegenüber damit beschäftigt, die wogende Wasseroberfläche zu betrachten.
»Wie weit fahren wir raus?«, fragte Jo. Der Fahrtwind zauste die blonden Spitzen, die an seiner Stirn unter der Mütze hervorragten.
»Eine halbe Stunde ungefähr. Da gibt es eine Insel, wo kaum jemand je hinkommt und die perfekt zum Auswildern ist. Erstens ist ganz in der Nähe eine Kegelrobbenkolonie, zweitens kann man gut anlegen, und drittens fällt einer der Felsen so sanft ab, dass auch die jungen Robben leicht ins Wasser und wieder herauskommen.«
»Und dann lasst ihr sie da einfach, und sie kommen klar, obwohl sie bisher gefüttert worden sind?«
Alva nickte. »Wundert mich auch jedes Mal wieder, aber ja. Die wissen, wie sie Fische fangen und Freunde finden. Und irgendwie kommen sie auch mit Stürmen und Gezeiten klar.«
Sie musste sich selbst immer wieder daran erinnern. Jeweils zu zweit trugen sie die Kisten über die Insel, der Größe wegen Nina mit Jo und Alva mit Silje. Während sie unter dem Gewicht von Gingers Kiste keuchte, machte Jo vor ihr eher den Eindruck, dass er Ninas Hilfe eigentlich nicht gebraucht hätte. Erstaunlich, dass sie fast dreißig werden musste, um zu erkennen, wie sexy sie Körperkraft und physische Präsenz fand.
Nebeneinander standen die Kisten schließlich in der Nähe des Wassers.
»Auf drei?«, fragte Nina.
»Eins«, sagte Silje.
»Zwei.«
Nina gab mit »drei« das Signal, und sie kippten die Kisten um und schlugen die Deckel nach oben. Natürlich war es nicht notwendig, das Öffnen so genau zu koordinieren, aber es machte Spaß und war inzwischen zum Ritual geworden.
»Los, Ginger!«
»Schneller, Fred!«
Den Jungrobben war es vollkommen egal, ob ihre Menschen sie anfeuerten. Sie bewegten sich, so schnell sie konnten, aufs Wasser zu, angezogen von ihrem natürlichen Element, der Wildheit des Ozeans. Heute war das Meer freundlich zu ihnen, aber irgendwann, morgen schon oder übermorgen, würden sie lernen, mit Seegang klarzukommen. Sie würden Dorsch und Hering fangen und vielleicht einen Oktopus. Sie würden auf andere Robben stoßen und sich einen Platz in der Kolonie erobern. Und die Erinnerung daran, dass es je Menschen gegeben hatte, die sie versorgt hatten, würde in dem Maße verblassen, in dem die graue, nasse Wildnis sie wieder als Teil ihrer Selbst aufnahm.
Alva, Jo, Nina und Silje sahen zu, wie die beiden Robben davonschwammen, abtauchten, wieder hochkamen und weiterschwammen.
Schließlich schlug Nina die Handschuhspitzen aneinander. »Das war’s.« Sie wandte sich zum Gehen, Silje folgte ihr.
»Das war’s«, sagte Alva und zog die Nase hoch. Jedes Mal wieder. Himmel. Möglichst unauffällig wischte sie sich die Augen trocken. Es war nicht mal irgendein Abschiedsschmerz, der sie heulen ließ. Es war … das Wilde. Irgendetwas daran berührte sie so tief, dass sie nicht einmal ein Wort dafür hatte.
Jo stand immer noch neben ihr, sah aufs Wasser hinaus und tat, als hätte er nichts bemerkt. Schließlich bot er ihr die Hand an. »Sie sind zu Hause.«
»Ich weiß.« Und dann nahm sie Jos Hand, ganz selbstverständlich, und trotz der Handschuhe fühlte es sich an, als würde er ihre Haut berühren.