Nachdem sie die Robben aufs Meer gebracht hatten, ging Alva nach Hause, um sich fürs Frontstage zu duschen und frisch anzuziehen.
Sie schlüpfte in eine von Svea offiziell abgesegnete, sehr gut sitzende Jeans. Auf dem rechten Oberschenkel war ein Fleck, vermutlich von der Pommes frites, die ihr neulich daraufgefallen war. Wie war diese Hose in den Schrank gekommen? Und wieso gehörte Alva zu den Menschen, denen so was immer erst zu spät auffiel? Der Mascara war auch alle, natürlich. Dunkelroten Lippenstift, passend zum gerippten Longsleeve, Haare mit der Wunderpaste kneten … ach ja, Haarspray hatte sie noch kaufen wollen. Egal. Es musste jetzt so gehen. Im Frontstage war es schummrig.
Sie plante ihre Ankunft im Frontstage so, dass sie fünf Minuten zu spät kam. Nicht ärgerlich für Jo, aber auch nicht so, dass es bedürftig wirkte.
Sie sah ihn von Weitem. Er kam aus Richtung des Hafens, als sie aus der Kongchristiansgate auf die Hauptstraße bog, die Kapuze des Hoodies weit in die Stirn gezogen und den Jackenkragen hochgeschlagen. Seine Antwort auf ihre Frage, warum er bisher nicht im Frontstage gewesen sei – vielleicht, weil es der Treffpunkt von Lillehamn ist –, kam ihr in den Sinn.
Doch er grinste unter seiner Kapuze hervor, als sie gleichzeitig am Eingang der Bar eintrafen. »Fünf Minuten zu spät, damit du nicht warten musst?«
Alvas angesammelte Nervosität platzte in einem Lachen heraus. »Trickreich, oder?«
»Sehr. Hätte von mir sein können.«
Wieder quoll das Lachen hoch. »Gehen wir rein?«
Jo nickte.
Im selben Moment traten sie auf die Tür zu, aber bevor sie zusammenstießen, machte er einen Schritt zurück. Erst im Inneren des Pubs fiel Alva seine eigenartige Wachsamkeit auf. Normalerweise betrachteten Leute, die das erste Mal herkamen, den in Gold und Braun gehaltenen Raum mit der langen Theke und der gegenüberliegenden Wand voller Spiegel. Alva war wahrhaft keine Expertin, was Bars und Clubs anging, aber sie hatte oft genug gehört, dass das Frontstage eine besondere Atmosphäre hatte, um es zu glauben. Doch Jo schien den Raum eher zu scannen, als zu bewundern. Wonach suchte er? Oder vor was war er auf der Hut?
»Wollen wir uns dort in die Ecke setzen?«
Alva hätte die Bar vorgeschlagen. Irgendwie war das informeller, als gemeinsam an dem schummrigsten Tisch im Raum Platz zu nehmen. Aber sie nickte. »Klar.«
Jarik hob die Hand. »Hey, Alva.«
»Geht’s dir gut?«, fragte sie an den beiden Typen vorbei, die an der Bar standen.
»Alles bestens. Bei dir?« Jariks Blick ging unverhohlen zu Jo, der so tat, als bemerkte er es nicht, und stattdessen nun doch die goldgerahmten Spiegel an der Wand betrachtete.
»Bei mir auch«, sagte Alva schnell. »Wir sitzen dahinten. Können wir vom Tisch aus bestellen?«
Jarik nickte. »Sicher. Ist ja nicht so viel los. Ich schicke dir Lucas gleich vorbei.«
Alva folgte Jo durch den Raum – und vorbei an halb Lillehamn. Was zum Geier hatte sie sich dabei gedacht, sich ausgerechnet hier mit ihm zu verabreden? Ihre Cousine Linnea stand mit ein paar anderen Leuten an einem der drei Stehtische. Alle wippten zur Musik und grinsten unverhohlen herüber. Linnea hielt sogar einen Daumen in die Höhe.
›Was?‹, fragte Alva mit den Lippen. Bedenklich, wenn es so eine Wahnsinnsattraktion war, dass Alva Solberg mal mit einem Typen hier auftauchte.
Linnea grinste nur und hob beide Hände in einer Unschuldsgeste.
Entweder bemerkte Jo die Blicke nicht, oder er war ziemlich gut darin, das vorzugeben. Er setzte sich mit dem Rücken zum Raum und überließ ihr den Platz an der Wand.
Alva setzte sich, während die Leute ringsum sich wieder ihren jeweiligen Grüppchen und Gesprächspartnern zuwandten.
»Du wirst in nächster Zeit viele Fragen beantworten müssen.« Die Hände hatte er locker vor sich auf dem Tisch gefaltet.
Weil es der Treffpunkt von ganz Lillehamn ist. Ninas Frage, Jos ausweichende Antwort. Jariks Blick. Selbst Linneas erhobener Daumen passte ins Bild. Irgendwas ging hier gerade an Alva vorbei. »Verrätst du mir was?«
»Kommt drauf an.« Und dieses flirtige Unschuldsgrinsen samt weißer Zahnreihe passte auch ins Bild.
»Du solltest meinen Zwillingsbruder kennenlernen. Er kann noch glatter lächeln als du – und zwar umso hübscher, je weniger er sich in die Karten sehen lassen will.«
»Wenn du willst, schaue ich ernst.« Bis auf ein ganz leises Zucken um den Mund jedenfalls. Doch dann wurde das Zucken stärker, seine Schultern fingen an zu beben, und Alva lachte ebenfalls auf.
»Arbeite dran. Das wird.« Unbewusst hatte sie ihre Hände in einer Spiegelung seiner Geste ebenfalls locker gefaltet auf den Tisch gelegt, ihre Fingerspitzen waren bloß Zentimeter von seinen entfernt.
Jos Kapuze war nach hinten gerutscht und hatte die Haare unordentlich zurückgelassen. Oder vielleicht nutzte er dieselbe Wunderpaste für den kunstvoll zerstrubbelten Look. Zugetraut hätte Alva es ihm. »Los, stell deine Frage.«
Doch bevor Alva sie formulieren konnte, trat Lucas an den Tisch. Sie kannte ihn noch als kleinen Jungen, der vor dem Muttertag die Blumen vor der Praxis geklaut hatte, als die noch ihrem Vater gehört hatte. »Hi. Was kann ich euch bringen?«
»Svea meinte, ihr hättet seit Neuestem Portobello-Burger, die ich unbedingt probieren müsste. Ich traue der Sache ja noch nicht, aber …«
»Sie sind wirklich gut.«
»Einen davon für mich. Was ist mit dir, Jo?«
»Ich nehme auch einen. Ohne Brötchen, mit Salat, wenn das geht.«
Lucas nickte, und dann blieb sein Blick an Jo hängen. »Kenne ich dich, weil ich dich kenne oder weil du berühmt bist?«
Jo zögerte keine Sekunde. »Ich bin der Typ aus der Oberstufe, der was von deiner großen Schwester wollte.« Er zwinkerte Lucas zu.
»Aber ich habe keine große … oh. Tut mir leid, ich wollte nicht neugierig sein.«
»Schon okay. Ich nehme noch ein alkoholfreies Bier.«
Nach Nina, Jarik und Linnea jetzt also auch noch Lucas. Vermutlich hatte Jo einen YouTube-Kanal mit einer Million Followern oder so was, und sie hatte natürlich wieder mal keine Ahnung. »Mir eine Flasche von Jariks legendärem Schokoladenbier.«
Lucas sah Jo immer noch nachdenklich an, aber Alva zog in einer hoffentlich gelungenen Imitation von Kristers Arroganz die Augenbraue nach oben und bedeutete ihm mit einem Kopfnicken, zu verschwinden.
Als er gegangen war, lehnte sich Jo seufzend zurück. »Ich hab mal Handball gespielt. Ziemlich hoch. Und ich dachte naiv, der Bart würde reichen, damit mich niemand erkennt. Beantwortet das deine Frage?«
»Ja.« Leider fehlte ihr bloß jeder Referenzwert, mit dieser Eröffnung umzugehen. Handball bedeutete ihr nichts, und sie hatte wenig Verständnis für jede Form von Ehrfurcht Prominenten gegenüber. Vielleicht, weil sie damit zu tun gehabt hatte, ihre Familie zusammenzuhalten, während die anderen Mädchen aus der Klasse die Live! lasen.
Jo griff nach einem der Bierdeckel und drehte ihn in den langen Fingern. Er sah Alva nicht an. »Willst du noch was wissen?«
»Keine Ahnung«, sagte sie ehrlich. »Ich treffe selten ehemalige Handballspieler. Aber immerhin weiß ich jetzt, warum du nicht herkommen wolltest.«
Jo, derselbe Jo, der mit großer Geste jeden Sonntag fünfhundert Kronen spendete, der heute Nachmittag geholfen hatte, als wäre er Teil des Teams, der – jetzt konnte sie es endlich benennen – immer oszillierte zwischen seiner natürlichen Präsenz und dem erfolglosen Versuch, unsichtbar zu werden, derselbe Jo wirkte jetzt fast schüchtern. »Ich hätte es dir eher sagen sollen. Aber mir gefiel es irgendwie, dass du … also … normalerweise bin ich mir nie ganz sicher, ob die Leute Zeit mit mir verbringen wollen, weil sie hoffen, dass ein bisschen Glanz auf sie abstrahlt, oder weil sie … mich … gernhaben.«
Die letzten Worte waren begleitet von einem vorsichtigen Lächeln und über der Hintergrundmusik und den Gesprächen kaum zu hören, und Alva hatte Jo in diesem Augenblick einfach nur unfassbar gern. Immer noch betrachtete er seine Finger, die den Bierdeckel drehten, dann schielte er zu ihr hoch.
Und sie suchte immer noch nach den richtigen Worten. »Ich wusste nicht, wer du bist«, sagte sie schließlich ein bisschen hakelig, »und trotzdem habe ich dich gefragt, ob du mit zum Auswildern willst.«
»Du kümmerst dich ja auch gern um Leute.«
»Das stimmt.«
»Ich fand das Auswildern ziemlich spannend.« Immerhin sah er sie wieder an. Trotzdem: In die so richtig ganz romantische Richtung lief dieses Gespräch noch nicht. Wie lange willst du warten? Danke für den Tipp, Svea, aber da gehören immer noch zwei dazu.
»Ist es jedes Mal wieder. Die ersten Tage bin ich auch immer versucht, die Transponder von den Tieren abzurufen, um sicherzugehen, dass sie klarkommen. Was ist?« Jo hatte bei ihren letzten Worten angefangen zu grinsen.
Das Grinsen wurde breiter, und an seinem Mundwinkel entstand wieder diese Kerbe. »Du bist unglaublich.«
»Wieso bin ich denn jetzt unglaublich?«
Sein Grinsen wurde zum offenen Lachen. »Alva, die sich um Lillehamn kümmert. Sogar um die Robben im Meer.«
Ihr Blick traf seinen, und sie fing ebenfalls an zu kichern.
»Ohne dich würde Lillehamn vermutlich aufhören zu funktionieren.«
»Wohl kaum.«
»Oder überhaupt zu existieren.«
»Hör auf!«
»Ernsthaft! Hast du mal versucht, Lillehamn zu verlassen? Womöglich löst es sich in dem Moment auf, in dem du die Ortsgrenze überschreitest, und verschwindet von allen Landkarten.«
Jetzt musste sie so lachen, dass sie quiekte. Ein Typ am Nebentisch drehte sich irritiert um.
Alva lachte, aber sogar im Dämmerlicht dieser Ecke, die er ausgesucht hatte, war zu sehen, wie sie dabei rot wurde. Die feine Rundung ihrer Ohrmuschel schimmerte ebenfalls rötlich, was deutlich erkennbar wurde, als sie sich beruhigt hatte und eine Strähne hinters Ohr strich.
Jo konnte nicht anders, als sich vorzustellen, wie es wäre, sie dort zu küssen, ganz sacht. Und dann mit den Lippen nach unten zu wandern zu ihrem Ohrläppchen. Weiter nach unten an ihrem Hals entlang. Und noch während er das dachte, wusste er, dass er es nicht denken sollte. Alva hatte wirklich etwas Besseres verdient als ausgerechnet ihn.
Der Kellner trat an den Tisch und stellte sein Tablett ab. »So, zwei Portobello-Burger, ein Schokobier, ein alkoholfreies. Kann ich sonst noch etwas für euch tun?«
»Nein. Danke, Lucas.« Alva sagte das mit Nachdruck, weniger freundlich, als sie sonst war. Sie tat das für ihn, und der Gedanke summte fast so angenehm in seinem Kopf wie normalerweise ihre Stimme.
Alva betrachtete den Burger auf ihrem Teller. »Ich falle jedes Mal drauf rein.«
»Worauf?«
»Man kann die Dinger nicht essen, ohne sich vollkommen einzusauen.«
Jo fand die Vorstellung von Alva, die sich Ketchup-Reste aus den Mundwinkeln leckte, nicht ganz furchtbar. »Ohne Brötchen wird es leichter. Wer hätte gedacht, dass ich in Lillehamn am Ende der Welt Portobello-Burger probieren würde.«
Sie aßen schweigend. Er, weil ihm die Worte ausgegangen waren, und Alva vermutlich, weil sie genug mit dem Monsterburger zu tun hatte. Jo achtete kaum auf den Geschmack. Es tat so verflucht gut, wieder unter Menschen zu sein. Es tat so gut, mit ihr hier zu sein.
»Wie …«, sie tupfte sich den Mund mit der Serviette ab, »wie berühmt bist du denn, so ungefähr, meine ich? Wie viele der Leute hier drin überlegen gerade, ob du … wie heißt du überhaupt? Mit Nachnamen, meine ich. Wen muss ich googeln?«
»Gibt bessere Suchmaschinen.«
»Blödmann!« Aber sie lachte. Gott, er mochte es so, wenn sie lachte.
»Joakim Lundahl«, sagte er. »Ich hab für Oslo gespielt.«
Erkennen dämmerte in ihrem Gesicht. »Ach, du bist das!«
»Was bin ich?«, fragte er, obwohl er genau wusste, worauf sie hinauswollte. Sogar jemand wie Alva, die vollkommen ahnungslos in Bezug auf Handball war, hatte mitbekommen, dass Aki Lundahl von einem auf den anderen Tag aufgehört hatte.
»Wir treffen uns mit der Praxisbelegschaft immer hier. Letztes Mal lief ein Handballspiel, und einer aus deiner Mannschaft hat wohl – ich habe ja keine Ahnung davon – ziemlich schlecht gespielt, und meine Freundin meinte immer nur, dass, Zitat, Aki den Ball nie verworfen hätte.«
»Hätte ich nicht.« Es nützte ja nichts, es zu leugnen.
Jetzt grinste Alva. »Und meine andere Freundin meinte, du seist Gott und könntest fliegen.«
»Autsch.«
»Ich zitiere nur.« Sie hielt den Burger mit beiden Händen und betrachtete ihn ratlos, bevor sie erneut hineinbiss. Mit noch vollem Mund sprach sie weiter. »Vielleicht werde ich auf meine alten Tage noch anfangen, Handball zu schauen.«
Fast hätte Jo gesagt ›Lohnt sich nicht mehr‹, aber er wollte nicht, dass sie ihn für eingebildet hielt, selbst wenn er das möglicherweise war.
Eine Weile aßen sie schweigend. Immer wieder sah Jo Alva an, und wenn er das tat, musste er lächeln.
»Warum spielst du eigentlich nicht mehr?«
Jo schnitt ein Stück von der Pilzscheibe ab und steckte sie in den Mund, um Zeit zu gewinnen. Beim besten Willen konnte er sich nicht erinnern, wie viel und was er Alva erzählt hatte. Er kaute und nahm dann einen Schluck Wasser. »Die offizielle Version ist, dass ich auf dem Höhepunkt meiner Karriere beschlossen habe, Platz für Jüngere zu machen.«
»Und die inoffizielle?«
Er nahm noch einen Schluck Wasser. Und dann noch einen. »Die inoffizielle ist … kompliziert.«
»Du hast gesagt, du hättest eigenhändig deine Karriere geschrottet.«
Er nickte und wusste gleichzeitig, dass er ihr nicht sagen konnte, was wirklich passiert war. Nicht wenn er in den nächsten paar Wochen irgendwelche Freunde in diesem Ort haben wollte. »Es gab … ein paar Unstimmigkeiten zwischen dem Vorstand und mir, wie mit rassistischen Übergriffen umzugehen ist. Ich wurde gefeuert, bekam eine fette Abfindung und musste versprechen, die Klappe zu halten. Ganz in Kurzversion.«
Er rechnete ihr hoch an, dass sie erkannte, wo er nicht weitersprechen würde, sondern schlicht fragte: »Und dann bist du hergekommen?«
»Ich brauchte einen Moment, um mir die Wunden zu lecken, aber ja, dann bin ich hergekommen. Meine Schwester, die auch meine Managerin ist, hat einen der Sponsoren dazu bekommen, mir den Segeltörn zu finanzieren. Was ich danach mache … keine Ahnung.«
»Tut mir leid, dass dein Inkognito aufgeflogen ist, weil ich dir die Bar zeigen wollte.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich wollte sie sehen. Und früher oder später wäre das ohnehin passiert. Sonst ist es mir auch egal, ich bin ja nun kein Superstar oder so was. Außerdem kann hier in Norwegen selbst jemand wie die Prinzessin wohl einigermaßen unbelästigt über die Straße gehen.« Er lächelte sie an und merkte selbst, dass es zu breit war. »Ich brauchte bloß eine Atempause, und die ist eben ein paar Tage früher als geplant zu Ende gegangen.«
»Bleibst du trotzdem hier? Also, erst mal?«
»Wo soll ich sonst hin?«
Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, das Bier in ein Glas zu gießen, sondern nippte direkt an der Flasche. Auf einmal war ihm danach, sein striktes Antialkoholregime zu brechen, heute nur und nur deswegen, weil er den Blick nicht von ihren Lippen wenden konnte. »Was hast du Ostern vor?«
»Mit Wilma Karten spielen und hoffen, dass keine Autogrammjäger klopfen kommen.«
Sie lachte lauter, als seine Bemerkung verdient hatte, bekam Bier in die Nase und prustete wieder los. Er wusste genug über Frauen, um zu begreifen, was das Lachen über seinen lahmen Witz zu bedeuten hatte. Es gefiel ihm, dass sie ihn mochte, schon gemocht hatte, bevor sie wusste, wer er war. Es sollte ihm nicht gefallen.
»Es sei denn, du kommst mal vorbei.« Er sagte das fast so lässig, wie Aki es getan hätte, an irgendeinem Abend in irgendeiner Bar, um irgendeine Frau mitzunehmen. Damals, vor Sanna. Nur vielleicht hatte er jetzt weniger Sex in der Stimme. Es wurde dringend Zeit, dass es in seinem Kopf wieder anfing zu schweben. Vielleicht würde er dann aufhören, mit jeder von Alvas Gesten oder Worten schärfer auf sie zu werden. Wobei … das war das falsche Wort. Es war etwas anderes als das, viel sanfter und gleichzeitig viel größer.
»Ich kann Ostern nicht«, sagte sie, was ungefähr das Gegenteil von Schweben hervorrief. »Wir fahren auf die Hütte meiner Freundin.« Sie stellte die Flasche ab und schob sich ein Salatblatt in den Mund.
»Darf ich dein Schokoladenbier probieren?«
Sie nickte. Tupfte mit dem letzten Brötchenkrümel Ketchup auf. Kaute.
Er nahm einen Schluck von dem Bier und stellte die Flasche zurück.
Alva griff danach und ließ den Daumen am Etikettrand entlangwandern. »Ich … ich weiß nicht, ob du da Lust dazu hast, aber wenn du willst, kannst du gern mitkommen auf die Hütte. Falls es dich nicht stört, dass meine Brüder blöde Sprüche machen werden und meine Freundin vermutlich deine Unterschrift tätowiert haben will.«
Jo war versucht, sich in leichtes Geplauder zu retten, wie er es in irgendeinem Interview getan hätte. Aber dies hier war Alva, nicht Siv oder Gloria. Alva, die dafür sorgte, dass es den Menschen um sie herum gut ging. Und wenn er sie schon belügen musste, was seine Vergangenheit betraf, konnte er wenigstens hier die Wahrheit sagen. »Ich weiß nicht.« Wann hatte ihn das letzte Mal irgendjemand eingeladen, mit auf die Osterhütte zu kommen?
Sie betrachtete ihre Hände. Vielleicht auch seine, die Fingerspitzen waren nicht weit voneinander entfernt. Er war nicht der König der Empathie, aber selbst ihm war klar, dass sie etwas gewagt hatte, indem sie ihn einlud. »Ich will gern«, sagte er schnell. »Und irgendwelche Sprüche stören mich nicht.« Ja, fein, Lundahl. Drück dich am besten noch kryptischer aus.
Sie sah auf. Das Licht der Lampe über seinem Kopf reflektierte in ihren Augen. »Aber?«
Ich bin so viel Freundlichkeit nicht gewohnt. Wenn das mal nicht selbstmitleidig klang. »Nichts aber. Ich nehme die Einladung gern an, wenn ihr Platz habt«, sagte er.
»Gut. Hanne wird sich freuen. Das ist meine Freundin, der die Hütte gehört. Sie hatte die Idee, ich könnte dich fragen.«
»Das ist gar nicht deine Hütte?«
»Ist alles okay, echt. Wir nehmen immer mal wieder Gäste mit. Frag die Freundin von meinem Bruder, die habe ich nach einer Woche schon eingeladen, mit ins Ferienhaus zu kommen. Und wir verraten einfach niemandem, dass du ein Star bist, dann stellt auch keiner blöde Fragen.«
Jo atmete auf, als das Gespräch wieder sicherere Gefilde erreichte. »Sagtest du nicht, deine Freundin würde meine Unterschrift tätowiert haben wollen?«
»Nein, das ist Svea, die Freundin meines Bruders, die findet, du seist Gott. Hanne mag keine Tattoos.«
Er hob sein Wasserglas. »Ich glaube, es wird lustig mit euch.«
»Davon kannst du ausgehen. Allerdings … Mist, verfluchter!«
»Was ist?«
»Wilma! In Hannes Ferienhaus dürfen keine Hunde, weil ihre Nichte allergisch ist.«
Jos erster Impuls war Flucht – er hatte ihn inzwischen lange genug eingeübt. Aber Alva und mit ihr halb Lillehamn wusste jetzt ohnehin über ihn Bescheid. Und er hatte tatsächlich Lust auf diese Ostertour – und auf Alva. »Ich werde eine Lösung finden.«
»Ich kann mich umhören.«
Er grinste. »Ich auch.«
Es gelang ihnen, zu belanglosen Themen überzugehen und den Rest der Mahlzeit mit Gesprächen über Lillehamn, Alvas Brüder und seine Schwester zu verbringen.
Alva ließ ihn noch mal von dem Schokoladenbier probieren, und er bestellte selbst eins. Eins war okay. Er stellte fest, dass er sie zum Lachen bringen konnte und wie unglaublich gut ihm das gefiel. Irgendwann fragte ihn der Kellner nach einem Autogramm, und er kritzelte eins auf einen Bierdeckel, ohne weiter darüber nachzudenken, weil er so in Alvas Erzählungen über skurrile Patienten gefangen war.
Als sie schließlich vor die Tür des Frontstage traten und die kalte Nachtluft sie klar und kalt empfing, war Jo das erste Mal seit langer Zeit … ja, glücklich. Er sah Alva an, die ihm gerade bis zur Schulter reichte. Sie hatte ihm das Gesicht entgegengehoben, mit diesem Kirschmund, den er wirklich unglaublich gern küssen würde. Aber Akis siegesgewisse Selbstsicherheit hatte er auf einer dunklen Straße in Oslo zurückgelassen, und so schob Jo nur die Hände in die Hosentaschen. »Danke für den wirklich tollen Nachmittag und den Abend.«
»Dir auch.«
»Dann … ich geh jetzt mal.«
Niemand von ihnen bewegte sich, sie blieben im Eingang zur Bar unter der Neonbeleuchtung stehen und sahen sich an.
»Hast du Kontaktlinsen?« Super Frage, Lundahl. Total charmant.
»Nein, warum?«
»Weil … du hast krass grüne Augen. Ich wusste bisher nicht, dass es so was wirklich gibt.« Er wollte sie sehr dringend küssen. Seine Stimme war ganz rau, so dringend wollte er es. Er hätte das blöde Bier nicht trinken sollen, und das zweite schon gar nicht.
»Hat ja auch niemand wirklich so krass hellblaue Augen wie du.«
Sie lächelte ihn an, schon wieder. Nicht nur küssen. Er wollte noch viel mehr. Nur am Rande bekam er mit, wie eine Gruppe von Männern sich näherte.
»Können wir mal durch, Doc? Oder müssen wir den Hintereingang nehmen?«
Alva zuckte leicht zusammen. Dann trat sie zurück und machte eine auffordernde Geste Richtung Eingang. »Geht’s gut zu Hause, Kjell?«
Der Mann reckte einen Daumen nach oben, und alle drei gingen ins Innere. Der Bann war gebrochen.
Jo fing sich wieder. »Hier gibt es wirklich niemanden, den du nicht kennst, oder?«
»Doch, schon. Aber es gibt vermutlich andersrum nicht viele, die mich nicht kennen. Unsere Familie ist hier ziemlich bekannt, nicht nur wegen der Praxis.«
Sie hatte also auch ihre Geheimnisse.
»Es nervt mich manchmal. Ab und zu wäre ich gern irgendwo, wo es total anonym ist und nicht die halbe Stadt mitbekommt, wenn ich mich, na ja, zum Beispiel mit einem berühmten Handballspieler treffe. Also nicht dass das jetzt alle naslang vorkommt, aber …« Sie lachte auf. »Du weißt, was ich meine. Hoffentlich.«
»Denke schon.«
Wieder näherten sich Leute, gleichzeitig wurde die Tür von innen geöffnet.
»Vielleicht sollten wir hier weggehen«, sagte Jo, auch wenn er sich noch nicht von Alva trennen wollte.
»Ich komme mit am Hafen lang.«
In sehr schneller Abfolge dachte Jo darüber nach, ob er Kondome besaß (die Antwort war Nein), ob er überhaupt darüber nachdenken sollte (die Antwort war definitiv Nein) und ob Alva meinte, bis zum Hafen oder bis zu seinem Boot mitzukommen (er hatte keine Ahnung). »Okay«, sagte er. »Gute Idee.«
Sie gingen nebeneinander, so eng, dass er seinen Arm um sie hätte legen können. Immer wieder berührten ihre Arme und Hüften sich, während Alva aufgedreht neben ihm herstapfte.
»Schwebt dein Kopf eigentlich?«
»Nein.«
Sie bogen auf den dunklen Hafenplatz ein, und Alva begriff schneller als er, was anders war als sonst. »Die Straßenlaterne am Steg ist schon wieder kaputt.« Sie legte den Kopf zurück. »Schau mal.«
Jo war so abgelenkt gewesen, dass ihm die Sterne nicht aufgefallen waren, doch jetzt sah er sie. Hunderte, Tausende von Lichtpunkten am tiefschwarzen Himmel. Nie vorher in seinem Leben hatte er so viele Sterne gesehen, ganz gewiss nicht in Oslo.
Alva lachte leise.
»Was?«
»Du hast ›Oh‹ gesagt, das klang hübsch.«
Er sah zu ihr hinunter. »Ich habe ›Oh‹ gesagt?«
Sie nickte und machte einen Schritt auf ihn zu.
»Und das klang … hübsch?«, fragte er rau.
»Sehr.« Sie flüsterte es, aber er hörte sie, weil es bis auf das stetige Schwappen der Wellen und das Hauchen des Winds still war und weil sie sehr, sehr nah vor ihm stand. So nah, dass er ihr Shampoo riechen konnte und ihre Haut.
Sie hob behutsam die Hand und strich mit den Fingerspitzen über die Braue seines linken Auges nach außen.
»Alva?«, brachte er hervor. »Ich …«
Ihr Atem streifte seine Lippen, er zitterte leicht und roch ein bisschen nach Schokoladenbier und sehr viel nach Alva.
»Ich freu mich«, flüsterte sie und küsste ihn ganz kurz irgendwo zwischen Mundwinkel und Kinn, bevor sie zurücktrat, als hätte sie sich über sich selbst erschreckt.
»Ich auch.« Er spürte dem Kuss nach.
»Ich texte dir wegen der Zeit.«
»Alva?« Aki hätte sie jetzt abgeschleppt. Und Jo?
Sie drehte sich zu ihm um. »Was ist?«
Er überbrückte den Abstand zwischen ihnen mit zwei schnellen Schritten. »Ich hab das eben nicht richtig verstanden. Kannst du es wiederholen?«
Eine Mikrosekunde lang sah sie ihn irritiert an, dann huschte ein verschmitztes Lächeln über ihre Züge. »Was genau meinst du?«
»Das.« Und dann spürte er das erste Mal ihre Lippen auf seinen. Vielleicht hatte er einfach nur vergessen, wie es war, jemanden zu küssen – aber möglicherweise lag es auch daran, dass es Alva war, die sich an ihn schmiegte. Die einfache, zarte Berührung ihrer Lippen brachte etwas sehr tief in seinem Inneren zum Schwingen, und Alvas kleiner Seufzer, als er seine Zunge innen an ihrer Oberlippe entlanggleiten ließ, klang nicht nur ›hübsch‹, sondern erinnerte ihn mit voller Wucht daran, dass er wirklich sehr lange nicht mehr mit einer Frau zusammen gewesen war.
Er löste sich nur mühsam von ihr.
Sie wirkte verstrubbelt, obwohl sie sich nur einfach geküsst hatten. Oder hatte er ihre Haare durcheinandergebracht? »Hast du es jetzt verstanden?«
»Ja«, sagte Jo. »Gute Nacht, Alva.«
»Gute Nacht, Jo.«