Zuerst war in der Praxis alles wie immer. Als Alva am nächsten Morgen ankam, standen schon fünf Patienten vor der Tür und warteten. »Guten Morgen.« Sie begrüßte alle mit einem Lächeln und wechselte ein paar freundliche Worte mit dem alten Jostein, der als Erster in der Reihe stand, bevor sie in die Praxis huschte. »Lasst die Leute ruhig schon ins Wartezimmer, ist kalt draußen.«
Tilda, die bereits am Telefon war, nickte ihr zu, und Katrine, Hannes Vertretung, stand auf. Keine der beiden verhielt sich anders als sonst, aber Alva machte sich wenig vor. Spätestens heute Abend würde die gesamte Belegschaft im Detail darüber informiert sein, dass man sie gestern Abend mit »dem Typen von der Jacht« im Frontstage gesehen hatte – und wer dieser Typ war. Ein Himmelreich für eine Großstadt.
Espen saß mit übereinandergeschlagenen Beinen und vor der Brust gefalteten Armen auf dem Tisch direkt am Eingang und grinste ihr entgegen. Nun, dann dauerte es wohl nicht bis zum Abend.
»Hab ich was verpasst?«, fragte sie.
Sein Grinsen wurde breiter. »Ist er nett?«
»Das diskutiere ich mit dir nicht.«
»Lerne ich ihn kennen?«
Alva verdrehte die Augen. »Er kommt mit auf die Hütte.«
»O Gott, der Ärmste.«
»Ich weiß. War ’ne blöde Idee.«
»Wenigstens hat er es dann hinter sich.«
Allerdings war ihre neugierige Familie wohl das kleinere Übel, wenn man sich überlegte, dass ganz Lillehamn Jo ohnehin beäugte wie das achte Weltwunder – allein schon weil er fremd war. Und dann war er seit Ewigkeiten der erste Mann, mit dem Doktor Alva sich öffentlich sehen ließ. Dass er dazu noch für einige Menschen eine Art Nationalheld zu sein schien, setzte dem Ganzen nur die Krone auf.
Alva ging zu ihrem Fach, aber Espen machte keinerlei Anstalten, seinen Platz auf dem Tisch zu verlassen. »Und sonst?«
»Was, ›sonst‹?«
»Seid ihr beide … ich meine … habt ihr …«
Sie drehte sich zu ihm um. »Und das, Lillebror, diskutiere ich mit dir schon gleich gar nicht. Husch, husch, ab mit dir. Jostein wartet.«
»Ja, auf Annik.«
Sie schnitt ihm eine Grimasse.
»Wir haben also alle Zeit der Welt, damit du mir im Detail … oh, hey, Krister.«
»Morgen. Tom hat mir gerade erzählt, wer der Typ war, mit dem –«
Alva stöhnte. »Nicht du auch noch.«
Krister grinste fast so breit wie Espen. »Warte, bis Annik kommt. Ich wette, nachdem sie Theo in den Kindergarten gebracht hat, weiß sie mehr als du selbst.«
»Ich sage nichts, Jungs. Absolut gar nichts. Ihr könnt also einfach arbeiten gehen.«
»Er kommt mit auf die Hütte«, sagte Espen verschwörerisch zu Krister.
»Ich hasse euch«, sagte Alva lachend. »Haut ab, echt.«
Espen rutschte seelenruhig von dem Tisch, auf dem er gesessen hatte, und winkte mit den Fingern, bevor er das Büro verließ. »Hey, Svea. Alva ist da.«
Es war wirklich nicht zu fassen. Vermutlich sollte sie Jo schleunigst von dieser Osterhütte ausladen und sich selbst am besten gleich mit.
Wenigstens die Patienten behielten es für sich, falls die inzwischen garantiert überkochenden Gerüchte sie schon erreicht hatten. Nur Jessica, Millas Mutter, grinste verschwörerisch, als Alva sie begrüßte. Doch das konnte auch damit zu tun haben, dass sie Alva als eine Art Vertraute betrachtete, seit sie bei ihr zu Hause gewesen – und danach nicht das Jugendamt aufgetaucht – war.
Alva lächelte das kleine Mädchen an, das bei seiner Mutter auf dem Arm saß. Es lächelte verstohlen zurück und versteckte das Gesicht dann in Jessicas Halsbeuge. »Wie geht es euch?«
»Gut.«
»Auf jeden Fall macht Milla einen prima Eindruck. Nehmt Platz.« Sie deutete auf die Behandlungsliege.
Jessica setzte Milla darauf ab und stemmte sich daneben hoch.
Alva zog sich einen Stuhl heran. »Guten Tag, Milla. Wie geht es dir heute?«
Sie rechnete nicht wirklich damit, dass die Kleine antworten würde, doch es war ihr wichtig, sie dennoch ernst zu nehmen. »Das Inhalieren hat geholfen«, sagte Jessica. »Und ich habe eine neue Wohnung für uns gefunden.« Der unverhohlene Stolz in ihrer Stimme ließ Alva schmunzeln.
»Wohin?«
»Zu einer Freundin, die ich vom Kindergarten kenne. Sie hat sich von ihrem Freund getrennt, und wir ziehen zusammen. Es ist das Haus ganz am Ende vom Kirkevegen.«
»Das freut mich«, sagte Alva ehrlich.
»Natürlich kann ich dann abends nicht mehr das Meer und den Hafen sehen, aber die Vorteile überwiegen.«
»Am Hafen ist ja im Winter ohnehin nicht sehr viel zu sehen.«
Jetzt schlich sich ein Grinsen auf Jessicas Gesicht. »Nein, außer …«
»Nicht du auch noch.«
»Der Mann ist nett. Ich meine, ich habe noch nicht mit ihm gesprochen, aber er ist ganz lieb mit dem Hund. Milla und ich beobachten das immer vom Fenster aus. Stimmt es, dass er Profihandballer ist?«
»Ja.« Sollte sie fragen, was Jessica sonst noch alles beobachtet hatte? Nein, das war zu persönlich. »Er ist wirklich nett«, sagte sie deswegen nur. »Bereit, Milla?«
Jo betrat den Imbiss und zog die Tür möglichst schnell wieder hinter sich zu, um den Regen auszusperren, der pünktlich eingesetzt hatte, als er losgegangen war, und tropfte dann einen Augenblick ratlos die Fußmatte voll. Ganz gleich, ob er die Segeljacke auszog oder anbehielt, den Laden unter Wasser setzen würde er auf jeden Fall.
»Hei, hei. Schön, dass sich bei dem Wetter jemand hierhertraut. Ich dachte schon, ich müsste den ganzen Tag fernsehen.«
Automatisch gab Jo das Lächeln zurück. »Leider habe ich den halben Wolkenbruch von da draußen mit reingebracht, tut mir leid.« Um seine Füße bildete sich bereits eine Pfütze.
»Macht doch nichts, macht doch nichts.«
Jo hoffte sehr, dass Jamal nicht nur aus Höflichkeit abwinkte, sondern weil es ihn wirklich nicht störte. Eigentlich war er nur wegen Wilma gekommen, aber es erschien ihm nicht fair, den Laden unter Wasser zu setzen und dann nichts zu kaufen. In Lillehamn hatte man Zeit und er sowieso bis ans Ende aller Tage. Er hängte die tropfende Jacke an dem Ständer neben der Tür auf und trat mit quietschenden Sohlen an den Tresen.
»Shawarma?«
Jo nickte. »Gern.«
»Kaffee?«
Er ging mit dem Shawarma, das Jamal ihm großzügig in das Fladenbrot häufte, nicht wie sonst an einen der Stehtische, sondern blieb am Tresen und sah zu, wie Jamal starken, schwarzen Kaffee in kleine Gläser füllte. Es war ein bisschen, als würde er Zayeds Vater zusehen, und nicht nur das heiße Getränk ließ sein Inneres warm und weit werden.
»Hast du dich eingelebt in Lillehamn?«
Jo dachte an Alva, die ihn eingeladen und zum zweiten Mal beinahe geküsst hatte. Dabei war er gar nicht hier, um sich einzuleben, sondern um vor sich selbst wegzulaufen. Er nahm einen Bissen Shawarma, um nicht sofort antworten zu müssen. »Besonders viel kenne ich noch nicht.«
»Besonders groß ist der Ort ja auch nicht. Was ist mit Freunden? Hast du schon Freunde?«
Sonst sprachen sie über Jamals Familie. Auch an Jamal war die große Neuigkeit also nicht vorbeigegangen, dass Jo und Alva … was auch immer miteinander hatten. »Ich bin Ostern auf eine Hütte eingeladen.« Er kleckerte sich Joghurtsoße über die Finger und wischte sie an der Serviette sauber. »Nur kann ich den Hund nicht mitnehmen. Könnte ich vielleicht den Zettel an deiner Pinnwand austauschen? Ich suche ziemlich dringend einen Hundesitter von Donnerstag bis Sonntag.«
»Hat sich immer noch keiner gemeldet für deinen kleinen Hund, was?« Jamal hatte angefangen, Tassen und Gläser zu spülen.
»Nein.«
»Brauchst den Zettel nicht aufzuhängen. Ich frage meine Frau. Sie überlegt schon lange, sich einen Hund anzuschaffen. Bestimmt freut sie sich, wenn sie ein paar Tage üben kann.« Jamal grinste verschmitzt. »Natürlich nur wenn ich ein Autogramm bekomme.«
Jo hatte ausgesprochen gute Laune, als er Jamal’s Place verließ. Möglicherweise lag es an der Überzuckerung durch das Baklava, das Jamal ihm noch aufgenötigt hatte, aber vielleicht auch an der Aussicht auf ein Wochenende mit Alva.
An einem Wochenende konnte viel passieren.
Zum Glück blieb Jessica die einzige Patientin, die Anspielungen auf Jo machte. Trotzdem schrieb Alva ihm in der Mittagspause eine Nachricht.
Nur dass du es weißt, du bist jetzt die offizielle lokale Berühmtheit. Selbst mein Zwilling bedauert dich, und das will schon was heißen. Vielleicht solltest du dir zur Kapuzenjacke ein Basecap und eine Sonnenbrille organisieren. Tut mir leid, das mit dem Frontstage war keine gute Idee.
Sie steckte das Telefon zurück, ohne auf eine Antwort zu warten, und ging in die Teeküche, die Annik und Svea eben verließen.
»Kommst du nachher mit in die Pause?«, fragte Annik.
Alva schüttelte den Kopf. »Keine Chance heute. Ich hab mir einen Joghurt mitgebracht. Und von Sveas Superriegeln ist auch noch was da.«
Svea sah Annik an. »Als ginge es in der Mittagspause ums Essen.«
»Ihr beide also auch.«
»Natürlich«, sagte Annik ungeniert. »Wir wollen absolut alles wissen.«
Alva lachte. »Ihr wisst doch eh schon alles.«
»Wir wissen nichts«, sagte Svea hoheitsvoll. »Alles, was wir haben, sind Gerüchte.«
Es war nicht so, dass Alva nicht gern über Jo gesprochen hätte – allein der Gedanke an ihn ließ ihr Inneres aufgeregt flirren. »Vielleicht stimmen sie ja, die Gerüchte.«
»Du lächelst verklärt.«
»Lass dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen. Wie gesagt: Wir wollen alles wissen. Von Anfang an.«
»Erfahrt ihr früh genug. Er kommt mit zu Hanne und Tom auf die Hütte, wenn niemand was dagegen hat.«
»Ich bin die Letzte, die was dagegen haben könnte«, sagte Annik. »Wie findet Hanne das?«
»Es war ihre Idee.«
»Ich dachte, es sei Sveas gewesen.« Espen steckte den Kopf zur Tür herein. Hatten die heute alle nichts zu tun? Wenigstens auf Krister war Verlass, sich um seinen eigenen Kram zu kümmern.
Das dachte sie jedenfalls, bis er sie am Nachmittag an der Garderobe abpasste. »Kann ich kurz mit dir reden?«
»Ganz kurz. Ich muss zu den Robben.«
Er stieß die Luft aus. »Okay. Ganz kurz. Es geht mich eigentlich nichts an, das weiß ich, aber meinst du, die Sache mit diesem Joakim ist eine gute Idee?«
»Ähm.« Eine solche Frage war derart uncharakteristisch für ihren Bruder, dass Alva ihn verblüfft anstarrte, bevor sie sich fing. »Du hast recht. Es geht dich nichts an.«
»Immerhin bin ich dein dich liebender älterer Bruder.«
»Und ich bin fast dreißig, falls das an dir vorbeigegangen sein sollte. Was ist mit dir auf einmal kaputt?«
Er hob die Schultern. »Ich hab ihn gegoogelt.«
»Es gibt bessere Suchmaschinen.«
»Die würden die gleichen Gerüchte zutage fördern.«
»Über dich gibt es garantiert auch Gerüchte.« Alva seufzte. »Hör zu, ich weiß deine Sorge zu schätzen, aber Jo hat mir erzählt, dass nicht alles so war, wie offiziell behauptet wurde. Und es geht dich tatsächlich mal so was von überhaupt nichts an.«
Sie kam nicht dazu, im Internet nach Jo zu suchen. Vielleicht wollte sie es auch nicht. Was immer Krister zu seiner Bemerkung getrieben hatte oder sich hinter Jos Aussage, die inoffizielle Version seines Ausscheidens sei »komplizierter«, verbarg, er würde es ihr erzählen. Oder eben nicht – letztlich spielte es keine Rolle, denn Jo war – wenn überhaupt – der Mann für ihre nächsten drei Wochen, nicht die nächsten dreißig Jahre.
Die Zeit bis zum Karfreitag war klassisch eine der knackigsten im ganzen Praxisjahr, aber dieses Jahr erschien sie Alva noch vollgepackter als sonst. Sie flog ohne Pause von einem Termin zum nächsten, versorgte die Robben, brachte sogar Jessica und Milla ein neues Hustenmittel vorbei, ohne bei Jo zu klopfen, hetzte wieder nach Hause, kümmerte sich um die Wäsche für die Praxis und das, was fürs Wochenende eingepackt werden musste. Aber die ganze Zeit über summte ihr Herz, weil sie an die kommenden Tage dachte.
Es war Tradition, dass am Karfreitag die Praxis wie die Geschäfte geschlossen blieb und die Solberg-Geschwister plus Hanne, Tom und ihrer Tochter sich vormittags auf den Weg in das Ferienhaus von Toms Familie in Sirdal machten. Doch dieses Jahr waren drei Personen mehr dabei als sonst – Annik, Theo und Svea. Wenn man Baby Marit mitzählte, sogar vier. Die Aufteilung der Autos hatte vor Wochen stattgefunden: Alva, Hanne, die beiden Kinder und das Baby quetschten sich in Alvas Leaf, Krister, Annik, Espen und Svea nahmen Kristers Model 3. Tom brachte mit dem Pick-up Skier, Schlitten und Lebensmittel für zwei Tage. Jo schrieb, es sei kein Problem, er würde gern mit Tom fahren.
Er wartete mit einem Rucksack und einer Pappkiste am Hafen, als ihre Urlaubsautokolonne vorfuhr. Alva brachte den Leaf hinter den anderen beiden Autos zum Stehen.
»Was ein Schnuckelchen.« Hanne beugte sich zwischen den Sitzen nach vorn. »Nicht mein Typ, ich sagte es, aber … schon nett. Lass dich von Kris nicht ärgern. Das wird schön am Wochenende.«
Als Alva ihr von Kristers merkwürdiger Bemerkung erzählt hatte, hatte Hanne nur gelacht. »Sonst bist du die, die alle begluckt. Vielleicht findet Krister bloß, jemand anders müsste für dich diese Rolle übernehmen.« Erst als sie jetzt wieder darüber nachdachte, erinnerte sich Alva an ein Gespräch, das gefühlt in einem anderen Leben stattgefunden hatte. Irgendeine Freundin hatte Svea mal mit Jo verkuppeln wollen?
»Meine Freundin Alva und ihr Promi-Freund.«
»Was ist ein Promi-Freund?«, fragte Theo von der Rückbank.
Hanne drehte sich um. »Jemand, der schon mal im Fernsehen war.«
»War Alvas Freund schon mal im Fernsehen?«
»Ja.«
Theo und Ella sahen sich an Hanne vorbei an und kicherten verschwörerisch. »Cool«, sagte Ella.
Alva schnitt ihrer Freundin im Rückspiegel eine Grimasse und stieg aus. Tom begrüßte bereits Jo, freundlich und kumpelhaft, wie er es mit einem Kollegen auf dem Bau getan hätte. Die allgemeine Vorstellungsrunde verlief schnell und unkompliziert. Jo zog Alva zur Begrüßung in eine raue Umarmung, und sie drückte kurz seine Hand und zwinkerte ihm zu. Es konnte losgehen.
Die Schneewolken drückten grau und schwer auf das Land, und neben der Straße türmten sich schmelzende, schmutzige Schneeberge. Parallel zur Straße rauschte die Hunnå dahin, so weiß wirbelnd, als könne sie die Ankunft des Frühlings ebenso wenig erwarten wie Alva. Die Berggipfel waren noch weiß, aber hier im Tal hatte der Regen das Grün der Wiesen bereits wieder frei gespült. Nur vereinzelte, krustige Schneeflecken ließen noch erkennen, dass der Winter nicht weit zurücklag. Nur wenige Meter hinter ihr in Toms Wagen war Jo, der unbegreiflicherweise mit ihr auf die Hütte fuhr.
Im Rückspiegel traf ihr Blick den von Theo. »Bist du schon mal Ski gefahren?«
Stummes Kopfschütteln beantwortete ihre Frage.
»Ist ganz einfach«, verkündete Ella. »Ich zeige es dir.«
Theo grinste sie zahnlückig an, und Alva lächelte. Der kleine Kerl war wirklich gut in Lillehamn angekommen. Inzwischen war sein Norwegisch – wenn er denn mal sprach – fast nicht mehr von dem hier aufgewachsener Kinder zu unterscheiden.
Sie konzentrierte sich wieder auf die Straße. Neben ihr schlief das Baby in der Sitzschale, und auf der Rückbank hatte Hanne den Kopf gegen ein Kissen am Fenster gelehnt und stahl sich ein paar Minuten Schlaf.
»Tante Alva?«, fragte Theo. Manchmal war ihr die Vehemenz fast unheimlich, mit der er seine neue Familie adoptiert hatte.
»Was denn?«
»Kommt in Sirdal auch der Osterhase?«
»Ich denke schon.«
»Aber wie soll der uns denn da finden?« Er war noch nicht beruhigt. »Ella hat gesagt, da war noch nie der Osterhase.«
»Ich glaube, der schafft das. Er weiß ja, dass du auf ihn wartest.«
Über die Jahre hatten sie ihre Gewohnheiten entwickelt, was die Zimmerverteilung anging. Ein Zimmer für Hanne, Tom und Baby, eins für Espen und Svea, eins für Annik und Krister. Dann war noch eins für Jo übrig. Die Kinder würden vermutlich auf dem Dachboden schlafen wollen, wie sie und Hanne das früher getan hatten. Was bedeutete: Für sie selbst blieb das Sofa oder … nein, so weit dachte sie noch nicht. Seufzend ließ sie ihren Rucksack neben dem Sofa auf den Boden rutschen.
Hanne dirigierte mit einer Hand Ella aus dem Weg, damit Espen, Svea und Tom die Lebensmittel hereintragen konnten. Jo hatte Zimtschnecken mitgebracht, wie sich herausstellte.
»Wo hast du die denn gebacken?«, fragte Annik.
»Im KiWi.«
»Sehen gut aus.«
Alva stimmte ihr zu, nahm sich aber trotzdem vor, irgendwann mit Jo zusammen Kanelboller zu backen.
Hanne schuckelte das knatschige Baby. »Hört ihr mal kurz zu?«
Annik und Theo hatten soeben schwer bepackt den Raum betreten, Krister kam dicht hinter ihnen. Mit einem lauten Ächzen stellte Theo eine Kiste mit Einkäufen auf den Hocker neben der Tür. Jo folgte mit Tom und blieb bei ihm stehen. Alva hatte das Gefühl, fast physisch zu ihm hingezogen zu werden.
»Wir haben uns Folgendes überlegt«, sagte Hanne. »Diejenigen von euch, die schon mal hier waren, wissen, dass wir vier Schlafzimmer haben –«
»Ich schlafe auf der Couch.« Aus Versehen sah Alva bei diesem Satz Jo an. Sein Mundwinkel hob sich ganz leicht.
Hanne schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Es ist echt kein Problem.«
»Aber auch nicht nötig. Was du wüsstest, wenn du mir bis zu Ende zugehört hättest.«
»Sorry.«
Ella hatte sich, während sie gesprochen hatten, zu Theo geschlichen und stupste ihn an. Er stupste zurück, und sie beide sahen zu Jo und grinsten. Das konnte ja heiter werden. Nach der Autofahrt waren die beiden entsprechend zappelig.
»Ella. Theo.« Hanne hob kurz die Hand zum Stoppsignal. »Eine Minute, dann könnt ihr losdüsen.«
»Hast du gehört?« Ella hüpfte aufgeregt. »Nur eine Minute. Dann zeige ich dir alles.«
»Ihr beide könnt heute in der Geheimhöhle auf dem Dachboden schlafen. Ihr müsst nur bitte aufpassen, wenn ihr die Leiter hoch- und runterklettert. Kriegt ihr das hin?«
»Jaaaa!«
»Ja, klar!«
»Dann haut ab.«
Ella zog Theo hinter sich her. Alva schaute den beiden Kindern nach und kehrte erst mit ihrer Aufmerksamkeit zu Hanne zurück, als die sagte: » … beste Mann der Welt hat nämlich den Ruheraum der Sauna endlich ausgebaut, sodass da zwei weitere Liegen mit richtig bequemen Matratzen sind.«
»Nehmen wir«, sagte Espen.
Alva fing einen Blick von Krister auf. Offensichtlich dachten sie etwas Ähnliches, aber er war ausnahmsweise schneller damit, es auszusprechen. »Nur damit euch niemand hört.«
Espen neigte huldvoll den Kopf. »Es wäre so frustrierend für euch.«
Nachdem die Schlafzimmer verteilt waren, zogen sich alle unter viel Gelächter schneefeste Kleidung an. »Du stehst mir im Weg.« – »Mach mal Platz.« – »Ich gehe einfach schon mal raus.« – »Ich will die dumme Mütze nicht, Krister hat auch keine Mütze auf!« – »Gib mir mal die Handschuhe da rüber.«
Wie jedes Jahr würden sie neben der Hütte ein Rondell aus der hüfthohen Schneeschicht heben, das groß genug für eine Feuerstelle in der Mitte und Schneebänke ringsherum war. Die vielen Menschen und vielen Schaufeln waren sich ständig gegenseitig im Weg, aber das änderte nichts daran, dass sie Spaß dabei hatten. Pünktlich war auch die Sonne herausgekommen. Weißer Schnee, blauer Himmel und viele bunte Menschen – es würde ein schönes Osterfest werden.
Irgendwann fand sie sich neben Jo wieder, der seine Jacke ausgezogen hatte und nur noch einen Fleecepullover trug. Seine Wangen waren von Kälte und körperlicher Arbeit gerötet, die Augen glänzten.
»Und? Geht’s dir gut?« Sie hätte ihn gern geküsst, aber erst musste sie sich klar werden, wie offen sie ihre … Beziehung? Affäre? … zeigen wollte.
Er stützte sich mit beiden Händen auf den Stiel seiner Schaufel und grinste sie an. »Mir gefällt es, mit dir Ostern zu feiern.«
»Mir auch.«
Sein Blick ließ ihren nicht los, sondern hielt ihn, bis alles um sie herum verblasste.
Tom und Krister holten die altgedienten Schaffelle aus der Abstellkammer, die schon zu ihrer eigenen Kinderzeit auf den Schneebänken gelegen hatten, und Alva sah sich nach Brennholz um. Espen schleppte einen Holztisch heran, auf dem Würstchen, Marshmallows, der deutsche Osterzopf, den Annik gebacken hatte, gekochte Eier von Espens Hühnern, Kaffee, Saft, Wodka und Selbstgebrannter von Tilda Platz fanden. Dazu ein ziemlich köstlich aussehender, angeblich gesunder Kuchen von Svea, und sie selbst hatte Stockbrotteig und so viel Räucherlachs für diesen Tag mitgebracht, wie vermutlich niemand je essen konnte. Beim Einkaufen war es ihr nicht aufgefallen, vielleicht war sie ein bisschen abgelenkt gewesen.
»Hat jemand an was zum Anzünden gedacht?«, fragte sie, während sie das Holz aufschichtete. Espen warf ihr ein Feuerzeug zu. Es qualmte entsetzlich, als der Schnee unter dem Feuer anfing zu schmelzen, aber wenig später knisterte das Feuer immerhin so rauchfrei vor sich hin, dass sie sich darum setzen konnten.
Jo nahm den Platz neben ihrem, ganz selbstverständlich, ihre Oberschenkel berührten sich. Während sie aßen, tranken und redeten, verblasste das Blau des Himmels nach und nach, badete den Schnee ringsum in Gelb und Orange und ließ die Schatten länger werden. Tom und Annik brachten die Kinder ins Bett, Hanne war wohl mit dem Baby eingeschlafen. So waren es am Ende nur Alva, Jo, ihre Brüder und Svea, die den letzten Sonnenfunken über dem Fjell verglühen sahen.
Krister hatte Jo den Nachmittag über immer wieder aus dem Augenwinkel beobachtet, wenn er glaubte, Alva merke es nicht. Doch jetzt wirkte er entspannt. Schweigend stocherte er im klein gewordenen Feuer herum, der rötliche Schein flackerte auf seinem Gesicht. So angekommen, wie Alva es früher nie für möglich gehalten hätte. Espen und Svea saßen, in eine gemeinsame Decke gehüllt, daneben auf einem der Schaffelle. Svea hatte den Kopf an Espens Schulter gelehnt, und seine Hand lag in ihren Haaren. Niemand sagte etwas. Niemand musste etwas sagen.
Jos Hand lag warm neben ihrer, und sie ließ die Finger zwischen seine gleiten und verschränkte sie miteinander. Lange saßen sie einfach da und schwiegen gemeinsam, während sich die Nacht über das Fjell legte, kühl und dunkelblau und samtig. Bis auf das Knistern und Zischen des Feuers war es fast ganz still. So still, dass Alva sogar hörte, wie Svea den Kopf hob, um Espen anzusehen.
Espen neigte den Kopf und flüsterte etwas, zu leise, als dass Alva es hätte verstehen können. Svea küsste ihn auf den Mund und hörte überhaupt nicht wieder auf damit.
»Ich geh ins Bett«, sagte Krister und griff nach dem Fell, auf dem er gesessen hatte.
»Ich auch.« Alva entzog Jo ihre Hand und erhob sich. Es war mehr Reflex als alles andere. Aber wenn Krister ging und Espen und Svea anfingen rumzumachen … »Schlaf gut, Kris.«
»Ihr auch.« Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, was er damit meinte.
Aber sie stand neben Jo, neben dem Feuer, neben Espen und Svea, die sich kein bisschen an der Gesellschaft störten, und hatte eben noch behauptet, sie wolle ins Bett gehen.
Jo bot ihr seine Hand an. »Ich bin auch müde.«
»So nennt man das heute also«, sagte Espen von irgendwo zwischen Sveas Haaren.
Alva wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, doch Jo lachte nur.
Die Luft in der Hütte schlug ihnen warm und satt entgegen. Schnell schlüpfte Alva aus der Jacke. Jo trat hinter sie, während sie sie aufhängte. »Alva?« Seine Stimme war dunkler als sonst.
Sie drehte sich zu ihm um. Er hatte den ganzen Abend nur Tee getrunken, aber sie war beschwipst genug, um endlich auch noch das allerletzte bisschen Vorsicht in den Wind zu jagen. »Jo«, sagte sie heiser. Und dann legte sie ihm die Arme um den Nacken und küsste ihn auf den Mund.
Der Bart kitzelte sie, und das Kitzeln breitete sich wie kleine Funken in ihrem ganzen Körper aus. Jo legte im selben Moment die Arme um sie, in dem sie ihn an sich zog. Als sich ihre Lippen trafen, lief etwas wie ein Seufzen durch Jos Körper. Seine Umarmung wurde fester, und irgendein Damm brach, der ihre Gefühle bisher im Zaum gehalten hatte.
Ohne weiter darüber nachzudenken, schmiegte sie sich an ihn, Körper an Körper. Ihre Hand in seinen Haaren, seine jetzt um ihre Taille. Seine Lippen lagen warm und fest auf ihren. Sie schmeckten ein bisschen nach Jo und so, dass Alva mehr davon haben wollte. Die winzigste Bewegung spürte sie tief zwischen ihren Beinen.
Sie ließ die Zunge an seinen Lippen entlanggleiten, drängte dazwischen, lockte und bettelte gleichzeitig. Sie wollte seine Zunge spüren, wollte, dass er diesen Punkt an ihrem Gaumen berührte, der sie in Flammen setzte, wollte …
Jo löste die Lippen von ihren, behutsam, entschieden. »Nicht so schnell.« Das raue Flüstern tat leider nichts dazu, dass sie ihn weniger dringend wollte. Und er brauchte keine Rücksicht auf sie zu nehmen, sie war nicht unwillig.
»Doch.« Ihre Stimme war ebenfalls nur ein heiserer Hauch. Erneut zog sie seinen Kopf zu sich, um genau da weiterzumachen, wo sie aufgehört hatten.
»Alva«, flüsterte Jo an ihren Lippen, zwischen ihren Lippen, an ihrer Zungenspitze. Seine Halsmuskeln unter ihrer Hand waren angespannt. »Mir geht das wirklich zu schnell.«
Zu schnell.
Klar.
Jos Worte trafen sie wie ein harter Klumpen direkt unter dem Herzen. »Entschuldige«, brachte sie mühsam hervor. »Das … « Sie blinzelte. »Ich dachte einfach, du wolltest das auch.« Es war so verflucht erniedrigend.
»Was wollte ich?« Das Streicheln von Jos Hand in ihrem Nacken wanderte als Kribbeln über ihre Kopfhaut und ihre Wirbelsäule hinunter.
»Küssen«, sagte sie in das dunkle, stille Zimmer hinein.
Jo lachte erleichtert auf. »Ich will noch sehr viel mehr.«
»Aber du hast gesagt …«
»Dass es mir zu schnell geht, ja. Ich hab nicht vor, hier ein Autorennen zu gewinnen, ich will das genießen.«
Und sie hatte die Stimmung ruiniert, wieder mal. Ich finde, du bist manchmal ganz schön empfindlich, sagte Magnus in ihrem Kopf. »Tut mir leid.«
»Alva?«
»Ich … Nein, vergiss es.« Irgendwie war zwischen ihnen wieder ein Abstand entstanden, kalte Luft, wo vorher Jos Körper gewesen war. Dafür schwebte Jos Hand jetzt fragend an ihrer Wange, und Alva lehnte sie dagegen.
»Was ist es?«
Er streichelte ihre Wange, ihre Haare, fuhr mit den Fingern an der Außenkante ihres Ohrs entlang. »Vielleicht liege ich falsch, aber was soll’s. Ich hatte eben den Eindruck … Scheiße, wie soll ich das sagen?«
»Sag es einfach.«
Er biss sich auf die Lippen, von denen sie inzwischen so genau wusste, wie sie sich anfühlten. Die nächsten Worte stieß er sehr schnell hervor. »Ich hatte den Eindruck, du meintest eigentlich nicht mich, sondern müsstest vor allem dir selbst etwas beweisen.«
Alva schwieg. Magnus hatte wirklich eine tiefere Wunde hinterlassen, als sie gedacht hatte.
»Aber vielleicht lag ich falsch, was noch peinlicher wäre als alles andere. Wie auch immer. Ich würde mir wünschen, dass du mich meinst.«
»Ich meinte dich«, sagte sie langsam. »Sonst hätte ich dich kaum gefragt, ob du mit hierherkommen willst. Und«, es auszusprechen, tat fast körperlich weh, »und du hast trotzdem recht. Ich habe das nicht bemerkt, aber ich wollte mir eben wohl wirklich was beweisen. Es hatte nichts mit dir zu tun.«
»Sicher?«
»Ganz sicher.« Sie grinste zu ihm hoch. »Probieren wir es noch mal?«
Magnus’ Küsse waren immer zielgerichtet gewesen, notwendiges Mittel zum Zweck, Vorspiel. Jo zu küssen war anders. Er trieb nicht und drängte nicht, sondern war ganz hier, in diesem Moment, bei diesem Kuss. Und Alva ließ sich hineinfallen.
Es dauerte sehr lange, bis sie sich voneinander lösten – bloß um zum Sofa zu stolpern und dort wieder von vorn anzufangen.
Irgendwann hörte sie Espen und Svea vor dem Haus, und noch viel später muckelte das Baby. Und immer noch konnte sie nicht genug davon bekommen, Jo zu küssen, vollkommen angezogen, wie sie da auf ihm lag. Erst als sie beide mehr gähnten als küssten, setzte sie sich auf. »Das war ein extrem schöner Abend.«
»Finde ich auch.«
Alva stand auf und reichte ihm die Hand. »Bis morgen.«
Geschmeidig kam Jo auf die Beine. Sie drifteten auseinander, bis sich nur noch ihre Fingerspitzen berührten.
»Bis morgen.«