Dreizehn

Als Alva am nächsten Morgen das große Wohnzimmer der Hütte betrat, war Jo schon mit Espen und Svea draußen. Sie hatten angefangen, die Loipe zu spuren, die sie für ihren Skiausflug vom Haus zum Hauptweg führen würde. Und Tom war mit den Kindern dabei, eine kleine Sprungschanze für den Nachmittag aufzuschütten. Alle anderen zogen sich gerade Jacken und Schuhe an.

»Morgen, Schlafmütze.« Krister klipste seine Skistiefel zu.

Alva sah sich um, ob noch irgendwo eine Tasse Kaffee und eine Scheibe Brot für ein schnelles Frühstück zu finden waren. »Ihr wärt nicht ernsthaft ohne mich losgefahren, oder?«

»Eventuell nicht.«

»Ich kann dich nicht leiden.«

»Joakim hätte bestimmt auf dich gewartet.«

Vor dem Fenster lachte Jo über etwas, das Svea gesagt hatte. Er war sehr, sehr schön, wenn er lachte. »Vielleicht«, sagte Alva.

»Er ist netter, als ich dachte.«

»Und du legst es mehr drauf an, als ich dachte.« Blödmann. »Was ist los mit dir, sag mal?«

»Nichts. Google ihn.«

»Einen Teufel werde ich tun.« Es gab nur die nächsten drei Wochen für Jo und sie – und was immer in seiner Vergangenheit lag, hatte damit nichts zu tun.

Krister zuckte die Schultern und folgte den anderen nach draußen. Auf der Anrichte stand noch eine ganze Thermoskanne voll Kaffee, daneben der kärgliche Rest eines Familienbrots und ein Block Gudbrandsdalsost. Sie schnitt eine dicke Scheibe von dem Käse herunter – und dann noch eine – und verteilte sie einigermaßen gleichmäßig auf zwei dünnen Brotscheiben, die sie aß, während sie ihre Socken aus der Reisetasche kramte, die Handschuhe von der Leine über dem Kamin pflückte und ihre Jacke vom Haken nahm. Den Kaffee verdünnte sie mit kaltem Wasser und kippte ihn im Gehen hinunter.

»Wir hätten gewartet«, sagte Espen mit einer Mischung aus Irritation und Amüsement in der Stimme, als sie sich schließlich draußen zu den anderen gesellte. »Du hättest Zeit gehabt, die Schlafmangelfalten zu überschminken.«

»Warte ab, bis ich dich nachher beim Skispringen besiege, alter Mann.«

Espen lachte nur.

Als lockere Gruppe setzten sie sich in Bewegung, an dem kleinen Schanzenhügel vorbei, zwischen den kahlen Birken hindurch. Der krustige Frühlingsschnee kratzte unter ihren Skiern, wo die Sonne ihn immer wieder angetaut hatte. Doch in den Senken und zwischen den Kiefern, wo wenig Sonne hinkam, war er noch locker und stob auf. Alva zockelte gemächlich hinter dem Rest der Gruppe her, und wie zufällig fand Jo an ihre Seite. Er bewegte sich auf den Skiern, als hätte er nie etwas anderes gekannt.

»Alles okay? Hast du Spaß?«

Jo zog grinsend eine Augenbraue hoch. »Alva, die sich um andere kümmert?«

»Sei vorsichtig, was du sagst. Wenn ich dich in den Schnee schubse, kommst du so schnell nicht wieder raus.« Sie beschleunigte ihre Schritte, um zum Rest der Gruppe aufzuholen.

Aber Jos Beine waren länger. Als er sie eingeholt hatte, wurde sie wieder langsamer. Jo bückte sich und hob eine Handvoll Schnee auf, doch Alva war diejenige von ihnen, die mit dieser Art von Vergnügen und zwei Brüdern aufgewachsen war. Sie ließ ihm nicht die Chance, sich wieder aufzurichten, sondern gab ihm einen Stoß.

»Nichts da.« Statt rückwärts in den Schnee zu kippen, griff er nach ihrem Arm und schaffte es irgendwie, sie beide auszubalancieren. Dabei kam sein Gesicht sehr nah an ihrs.

Atemlos grinsten sie sich an.

»Los, Wettlauf.«

»Deine Beine sind ungefähr doppelt so lang wie meine. Und du bist Profisportler.«

»Warst.«

»Warst Profisportler. Trotzdem minimal unfaire Bedingungen, oder?« Nichtsdestotrotz wurde sie wieder schneller, und er war so nett, sie nicht abzuhängen, sondern auf ihrer Höhe zu bleiben.

Die anderen warteten, wo ihre selbst gespurte Loipe den Hauptweg traf. Krister, Espen, Tom und Svea hatten inzwischen ihre Jacken und Sweater in den Rucksäcken verstaut und trugen nur noch T-Shirts. Sogar Annik hatte die Jacke abgelegt und Theo erlaubt, dasselbe zu tun. Auch Alva zog sich bis auf das Longsleeve aus und schob die Ärmel hoch. Die erste richtige Sonne des Jahres wollte genossen sein.

Sie hatte auf dem Hauptweg mit mehr Menschen gerechnet, aber vielleicht war es dafür noch zu früh am Tag. Niemand außer ihnen schien unterwegs zu sein. Neben- und hintereinander glitten sie weiter über die schneeglitzernde, sonnenbeschienene Ebene. Jo lief dieses Mal vorn bei Tom. Alva sah ihm nach und dachte, dass es keinen besseren Ort auf der Welt geben konnte als diesen, wo der Himmel so groß und das Fjell so weit war, als ihr Zwilling sich zurückfallen ließ und neben ihr auftauchte. »Findest du den Gedanken an die Party jetzt weniger unerträglich?«

»Ich werde immer noch dreißig.«

»Aber derzeit nicht ungeküsst«, sagte Espen hilfreich.

Alva nahm sich ein Beispiel an Jo, bückte sich blitzschnell, verlor dabei nur fast das Gleichgewicht und warf Espen eine Ladung Schnee ins Gesicht.

Er lachte gutmütig.

Sie verlängerte ihre Gleitschritte, um zu den anderen aufzuschließen, aber Espen sagte, uncharakteristisch heiser: »Warte mal. Ich wollte noch was mit dir besprechen.«

Als sie sich umdrehte, schluckte er und befeuchtete sich die Lippen. Ihr Bruder war nervös.

»Okay. Ich bin hier. Besprich los.«

»Also.« Nervös ja, und irgendwie wirkte er ertappt, aber dabei so zufrieden, als hätte er ein ganzes Regal voller verbotener Süßigkeiten ausgeräumt.

Alva konnte nicht anders, als sein Lächeln zu erwidern. »Nun sag schon, was los ist. So schlimm wird’s nicht sein.«

»Svea wollte es gestern Abend schon sagen, aber ich fand, du allein solltest es zuerst wissen, weil du … na ja. Du bist halt mein Zwilling.«

Unter normalen Umständen und bei jedem anderen wäre das vermutlich die Einleitung für ›Wir bekommen ein Kind‹ gewesen. Aber nicht bei Espen und nicht nach all dem, was er und Svea im letzten Jahr durchgemacht hatten. »Ihr … adoptiert eine von Lotta Eriksons Katzen?«

»Die arme Katze«, sagte er. »Nein. Wir werden heiraten.«

»Irgendwie ahnte ich, dass es auch kein adoptierter Goldfisch sein würde. Herzlichen Glückwunsch, das ist toll. Ich freue mich wahnsinnig für euch.« Und das stimmte, aus tiefstem Herzen. »Wer hatte die Idee?«

»Svea. Sie hat mich kurz vor Weihnachten auf den Preikestolen geschleift, um mich zu fragen.«

»Vor Weihnachten, sagst du?« Alvas Hochachtung vor ihrer Schwägerin wuchs.

Espen nickte. »Ja, das war …«

»Ich weiß.« Er glaubte nicht wirklich, dass sie das dramatische letzte Jahr vergessen konnte, oder? »Dann habt ihr es dreieinhalb Monate geheim gehalten. Das ist verrückt.«

»Wir wollten den Gedanken erst mal sacken lassen.«

»Du hast verdammtes Glück, dass du Svea gefunden hast – und dass sie deinem dummen Dickschädel nicht erlaubt hat, alles kaputt zu machen.«

»Ich weiß.« Espen lächelte vor sich hin, während er zu Svea hinübersah, die sich an der Spitze der Gruppe einen Wettlauf mit Krister lieferte. »Allerdings muss man der Fairness halber sagen, dass sie auch Glück hat, mich gefunden zu haben.«

»Das hat sie.« Wären sie jetzt nicht mit Skiern unterwegs gewesen, hätte Alva ihren Bruder in wilder Zärtlichkeit umarmt. »Das hat sie wirklich.«

»Was ist mit dir und dem Handballer?«

Alva wurde warm in der Brust, aber sie schüttelte den Kopf. »Das ist nur … Es ist nichts Ernstes.«

»Wenn du das sagst.«

»Er ist eh bald wieder weg.«

»Aber zu unserer Party kommt er?«

»Ich hab ihn noch nicht gefragt.«

Espen schüttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf.

 

Alva gewann das Skispringen am Nachmittag haushoch, wenn auch nur deswegen, weil Jo keine Ahnung davon hatte, Krister nach seiner Verletzung noch nicht mitmachen konnte und Espen und Svea versuchten, ein Dreibeinrennen daraus zu machen, bei dem sie sich gnadenlos verhedderten und letztlich in einem Haufen aus beschwipstem Gelächter im Schnee landeten.

Theo und Ella fanden eine alte Gitarre, die irgendjemand irgendwann in der Hütte vergessen hatte. Tom schaffte es irgendwie, sie immerhin so weit zu stimmen, dass sein leises Spielen am Lagerfeuer schön klang. Schön genug für ein Lagerfeuer im Schnee am Abend vor Ostersonntag jedenfalls.

Alva saß wieder neben Jo, und dieses Mal nahm sie offen seine Hand, und er legte den Arm um sie. Sie hob das Gesicht und platzierte einen Kuss auf die weiche Haut unter seinem Ohr.

»Alva?«, fragte Ella. »Bist du scharf auf Jo?«

Hanne warf Alva durch den aufsteigenden Rauch einen entschuldigenden Blick zu, und aus Espens Richtung kam ein unterdrücktes Glucksen.

Aber Alva hatte genug Sternennacht und Lagerfeuerfunken im Herzen und vielleicht auch Moltebeerenschnaps im Blut, um schlicht »Ja« zu sagen.

»Dann passt das ja«, murmelte Jo. »Gehen wir gleich noch eine Runde spazieren?«

In der stillen, verschneiten Umgebung war es unmöglich, die Stimmen und die Musik gar nicht mehr zu hören, die vom Lagerfeuer herüberwehten. Doch als Alva und Jo die Hütte hinter sich gelassen hatten, wirkten ihre eigenen, knirschenden Schritte immer lauter dagegen. Eine Weile gingen sie schweigend, Hand in Hand.

»Du bist also scharf auf mich, ja?«

So direkt ausgesprochen in dieser kalten, klaren Nacht, wirkte es fast grob. Aber es war ja nun mal die Wahrheit. »Ella hat neulich gefragt, was der Begriff bedeutet. Hanne hat erklärt, es würde heißen, dass man jemanden mag und gern mit ihm zusammen ist.«

Jo lachte leise. »Nur das bedeutet es?«

»Im Zusammenhang mit Ellas Frage – ja.«

»Es ist hell genug, dass ich dich grinsen sehe.«

Alva stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Seine Nase berührte kalt ihre Haut, aber seine Lippen waren warm und fest.

Es war Jo, der sich zuerst aus dem Kuss löste. »Ich bin auch scharf auf dich. Und zwar im erwachsenen Sinne.« Der Bart kratzte an ihrer Stirn, Jos Lippen fanden ihr Ohr. »Ich finde dich extrem schön«, sagte er, jedes Wort tief und rau und so, dass es in ihrem Unterbauch kribbelte. »Und dazu noch einigermaßen scharf, ich sagte es.«

»Dann passt das ja«, wiederholte sie seine Worte.

»Wer hätte gedacht, dass ich ausgerechnet an dem Ort, an dem ich mich vor der Welt verkriechen wollte, eine Frau treffen würde, die mir so schnell so wichtig wird. Und die dann auch noch«, er machte eine Geste, die das entfernte Lagerfeuer, Alvas Familie und Freunde und die ganze verschneite Natur bis zum Himmel einschloss, »das hier mit mir teilt.«

Er wirkte zufrieden wie ein Mann, der eine Aufgabe bewältigt hatte. »Das war das, was ich dir sagen wollte. Ich mag dich extrem gern und wünsche mir, mehr Zeit mit dir zu haben als diese paar Wochen.«

Ringsum knisterten Schneekristalle, und der Mond blinzelte hinter einer Wolke hervor. Jo mit seinen silbrigen Augen und den hellen Haaren wirkte selbst wie ein Teil dieser Eislandschaft. Wie konnte jemand so schön sein? Alva lächelte. »Ich möchte auch sehr gern mehr Zeit mit dir haben.«

»Wenn du auf mich wartest, komme ich im Herbst zurück nach Lillehamn.«

Ich habe schon zu lange auf dich gewartet, dachte sie und musste fast lachen, weil es so kitschig war. »Du könntest hierbleiben. Die Wohnung über meiner wird irgendwann frei.«

»Leider nein. Ich habe einen Vertrag zu erfüllen. Aber du könntest mitkommen.«

»Ich habe eine Praxis zu führen.«

»Das ist ein Problem.«

»Messerscharf erkannt.«

Er neigte sich zu ihr, sodass seine Lippen fast ihr Ohr berührten. »Robben in freier Wildbahn«, sagte er so samtig, dass es zwischen ihren Beinen kribbelte. »Blaues Nordmeer. Orcas. Türkisfarbene Strände, einsame Inseln. Denk drüber nach.«

Doch während sie zum Haus zurückgingen, dachte sie über etwas anderes nach. Das Bett in ihrer Kammer war zu schmal für zwei, aber Jo schlief in dem Zimmer, in dem Hannes Jugendbett stand. 1,40 m breit und ohne direkte Schallübertragung in einen der anderen Räume …

Im Wohnzimmer blieben sie stehen.

Jo legte seine Hand an Alvas Wange. Trotz der Kälte draußen war sie warm. »Gute Nacht.«

Sie küsste ihn auf die Handfläche und schlang dann die Arme um seinen Hals. Und sie meinte so was von ganz und gar ihn.

»Im erwachsenen Sinne, ja?«, flüsterte er gegen ihre Lippen, während sie ihn auf seine Zimmertür zusteuerte.

Alva nickte.

Sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, griff sie ihm vorn in den Pullover und zog ihn daran zu sich. Sie wollte ihn küssen, aber etwas in seinem Blick ließ sie innehalten, Erstaunen und eine Zartheit, die sie an ihm bisher nicht gesehen hatte.

»Das passiert wirklich, oder?«, fragte er heiser.

»Glaub schon.« Sie schob die freie Hand unter seinen Pullover und strich ihm über den Rücken. Muskeln, Sehnen, warme, glatte Haut.

Wirbel für Wirbel tastete sie sich nach oben, nahm die andere Hand hinzu, fuhr über die Kante seiner Schulterblätter und brachte ihn schließlich dazu, die Arme zu heben, damit sie ihm T-Shirt und Pullover gleichzeitig über den Kopf ziehen konnte. Jedenfalls hatte sie das vorgehabt, aber die Kleidung blieb an Jos Schädel hängen. Er kreuzte die Arme über den Kopf – sie wurde quasi gezwungen, das Muskelspiel seiner Schultern anzusehen – und erledigte den Rest selbst.

Der Raum wurde nur von einer kleinen Lampe neben dem Bett erleuchtet. Jede Kontur an Jos Oberkörper trat durch den einseitigen Schattenwurf umso deutlicher hervor, und gleichzeitig war das Licht behaglich und warm.

Sie ließ ihre Hände über seine Schultern gleiten und an seinen Armen hinunter. Himmel, hatte der Mann Bizepse. Entlang an den harten Sehnen seiner Unterarme …

Jo drehte mit einer schnellen Bewegung die Hände und schnappte Alvas Handgelenke. »Genug Anatomiestudien, Frau Doktor.« Er zog ihre Arme hinter sich und küsste sie. »Du bist dran mit Ausziehen.«

»Ich fürchte, das geht nicht.«

»So?« Seine Stimme war tief und rau an ihrem Ohr.

»Du hältst meine Hände fest.«

»Jetzt, wo du es sagst.« Sein Atem strich ihr über die Wange. »Was können wir denn dagegen tun?«

Aus einem Impuls heraus ließ sie ihre Zungenspitze von seiner Kehle abwärtsgleiten. Sie schaffte es zwischen den Brustmuskeln hindurch, bevor Jo sich ihr entwand.

»Unfaire Methoden, Doktor Alva.« Schneller als sie ›Wer ist hier unfair?‹ sagen konnte, hatte er ihre beiden Handgelenke mit einer Hand umfasst und zog ihr mit der anderen das Oberteil hoch. Blöderweise war er körperlich wesentlich stärker als sie – und noch dazu ziemlich gelenkig. Er schaffte es tatsächlich, obwohl er den Griff kein bisschen lockerte, unter ihr Hemd zu tauchen und ihren Bauch zu … küssen? Zu lecken? Der Bart kitzelte ihren Solarplexus, aber nicht so, dass sie kichernd zurückweichen wollte, sondern eher … anregend. Unwillkürlich kippte sie das Becken nach vorn.

Ein raues kleines Lachen unter ihrem Oberteil antwortete ihr, dann gab Jo ihre Hände frei und tauchte wieder auf, hinreißend verstrubbelt. »Du bist immer noch angezogen.« Er schüttelte den Kopf, als könne er es nicht fassen.

»Du auch.«

»Nur halb korrekt.«

Es gelang ihr nicht, so elegant aus der Kleidung zu schlüpfen, wie sie geplant hatte, stattdessen blieb sie mit dem Ellbogen im Ärmel hängen.

Jos Hose zu öffnen war dagegen ein Kinderspiel. Weit, wie sie war, rutschte sie ihm einfach von den kantigen Hüften und gab den Blick auf langgliedrige, von harten Muskelsträngen definierte Beine frei. Es war schlicht nicht möglich, diese Beine nicht zu berühren, ihre Hand nicht auf diesen Hintern in den Boxershorts zu legen.

Jo schüttelte den Kopf. »Du bist schon wieder angezogener als ich.« Seine Stimme klang erfreulich angespannt, und seine Unterlippe glänzte.

Alva erlaubte ihm, ihre Jeans abzustreifen und sie mit jeder feinen Berührung seiner Finger an ihren Beinen zum Bett zu schieben, wo er sich der Länge nach auf den Rücken sinken ließ und sie mit sich zog, bis sie halb neben, halb auf ihm lag. Jetzt brauchten sie keine Worte mehr, nicht einmal ein Flüstern. Nur Lippen aufeinander und Hände auf Haut und schneller werdender Atem.

Seine Handfläche war warm auf ihrem Bauch, der Daumen strich an ihrem Brustansatz entlang. Sie spürte, wie sie auf den Reiz reagierte.

Jo lächelte. Er umfasste ihre Brust und nahm die linke Brustwarze sanft zwischen Daumen und Zeigefinger. Mit dem Unterarm strich er über die aufgerichtete rechte. Die feinen Haare kitzelten sie. Und die ganze Zeit war da dieses Pochen in ihrer Mitte und dieser heißer werdende Druck an ihrem Oberschenkel und die Sehnsucht, die von ihrer Brust ins Herz und zwischen die Beine und überallhin pulste.

Als Jos Finger zwischen ihre Beine glitt und sie unwillkürlich stöhnte, war ihr jegliches Warten und Genießen endgültig egal. Durch den Stoff der Boxershorts hindurch drückte er hart gegen ihren Oberschenkel. Seine Fingerspitze entzündete derweil tausend Funken in ihrem Unterleib. Sie wölbte sich ihm entgegen, und ein winziges bisschen tiefer glitt er noch, bevor er sich zurückzog, um über ihren Bauch wieder nach oben zu streichen.

Sie schob die Hand unter das Gummi seiner Boxershorts. Fingerspitzen auf gespannter, pochender Haut, während Jos Atem sehr, sehr unregelmäßig wurde.

»O Gott, Alva.«

»Du hast nicht zufällig Kondome dabei?«

Er drängte gegen ihre Hand, während seine Finger erneut an ihrer Scham entlangglitten. »Ich weiß nicht. Vielleicht …«

Während er zu seinem Rucksack ging, betrachtete sie seinen jetzt nackten Hintern. Jo kramte kurz in einem Seitenfach und drehte sich dann mit triumphierendem Grinsen zu ihr um und hielt ein Kondompäckchen in die Luft. »In einem geordneten Haushalt findet sich alles wieder, sagte die Mutter meines Freundes immer.«

Alva prustete los. Sie lachte immer noch, als Jo wieder neben ihr lag, aber dann begann er, Küsse auf ihrem Körper zu verteilen, und ihr Lachen ging in … sehr … konzentriertes … Atmen … über. Sie ließ sich zurück auf den Rücken sinken und streichelte seinen Oberschenkel. Sanft schob er ihre Beine auseinander und legte sich auf sie. »Nicht warten.« Bitte. Nicht warten. Die Sehnsucht wurde unerträglich. Sie öffnete die Beine noch ein Stück und spürte ihn endlich … fast … »Bitte«, flüsterte sie, und er lachte lautlos.

»Gleich.« Seine Augen waren dunkel, als er langsam, langsam in sie glitt.

Sofort hob sie sich ihm entgegen, schloss sich fester um ihn. Er atmete zitternd aus, zog sich zurück und drang tiefer in sie. Sie umfasste seinen Hintern und umschlang sein Becken mit den Beinen. Und dann lag er wunderbar groß und warm und schwer auf ihr, in ihr. Sie presste sich an ihn, während er sich in ihr bewegte und die Spannung ins Unerträgliche steigerte. Sie konnte nicht mehr denken, sie konnte gar nichts mehr, sie wollte kein Zögern und kein Spielen mehr, sondern nur noch selige Erlösung. Bitte. Seine Rückenmuskeln unter ihren Händen spannten sich, ihre gemeinsame Bewegung wurde schneller.

Sie öffnete die Augen in dem Moment, als sich sein Blick verschleierte und sein Körper sich versteifte. Noch einmal drängte sie sich an ihn, noch einmal, und dann explodierten auch in ihrem Unterleib tausend Lichtfunken.

Schwer atmend sank er auf ihren Oberkörper und blieb dort liegen, bis sie ihn zur Seite schieben musste, weil ihr Bein einschlief.

Er küsste sie auf die Nase und legte sich neben sie, den Kopf in die Hand gestützt. Dabei lächelte er still in sich hinein.

»Was ist?«

»Ich sehe dich gern an.«

»Ich sehe dich auch gern an.«

»Warum?«

Sie ließ ihren Finger von seinem Kiefergelenk den Hals hinuntergleiten. Über die feste Rundung seiner Schulter, über die Kerbe, die zwischen Schultergelenk und Bizeps lag. Weil du ein so schöner Mensch bist, Jo. Deswegen. »Du zuerst.«

»Weißt du nicht, dass Männer solche Fragen nicht beantworten können?«

»Aha.«

»Ist wahr. Bei uns ist das Sprachzentrum nicht so mit dem Gefühlszentrum verbunden wie bei euch.«

»Wer von uns beiden hat Medizin studiert?«

»Ein bisschen was habe ich auch über den Körper gelernt.«

»Das habe ich gemerkt.«

Er grinste. »Stets zu Diensten. Um auf eben zurückzukommen: Ich sehe dich gern an, weil ich dich gern mag. Ich fühle mich wohl mit dir … sicher.«

Das war eine eigenartige Aussage. Und eindeutig hätte sie im Moment ›Ich finde dich ziemlich scharf‹ besser gefunden. Aber vielleicht fand Jo, dass er das oft genug gesagt und soeben zur Genüge bewiesen hatte.

»Ich fühle mich auch wohl mit dir.« Sie fuhr mit dem Zeigefinger die Konturen des verschwommenen Schriftzugs an seinem Oberarm nach. Here to laugh at the odds. »Wie lange hast du das schon?«

Er schielte zu ihr herunter. »Schon eine Weile. Der Cousin meines besten Freunds hat ein Tattoostudio. Er hat es mir gestochen, als ich sechzehn war.«

»Sechzehn.« Welcher Tätowierer bediente einen Teenager?

»Mein Vater war gerade wieder mal in den Knast gekommen und ich auf dem Weg in mein erstes Profi-Trainingslager. Ich brauchte dringend was zum Dranfesthalten. Ramin hat mir das Tattoo geschenkt, ich hätte das damals im Leben nicht bezahlen können. Ich war schon froh, wenn es fürs Weißbrot zum Frühstück reichte.«

Das waren zu viele Informationen und Gefühle gleichzeitig für Alvas müdes, glückshormongeflutetes Hirn. Das Wort ›Knast‹ stach irgendwo in ihrem Verstand. Es kam eindeutig zu nah an Kristers komische Bemerkung heran. Während sie sich in Jos Armbeuge schmiegte, stellte sie die naheliegendste Frage. »Wieso war dein Vater im Knast?«

»Ist er immer mal wieder. Drogen, Fahren ohne Führerschein, Schlägereien, alles Mögliche. Ich glaube, damals war es wegen bewaffneten Raubüberfalls.« Jetzt sah Jo sie nicht mehr an, sondern unterhielt sich mit der Zimmerdecke. »Ich schätze, inzwischen hat er es sich dort ganz gemütlich eingerichtet.«

»Das tut mir leid.«

»Muss es nicht. Es ist bloß die Erklärung für das Tattoo. Du hast gefragt.«

»Habe ich.« Sie strich, jetzt mit der flachen Hand, über seine muskulöse Schulter und hinunter zu seinem Bauch. »Ich wollte dir damit aber nicht den Abend verderben.« Und mir auch nicht.

»Keine Chance. Das war der beste Abend, den ich seit Monaten hatte, und daran wird nichts je etwas ändern.«

 

Am Sonntagmorgen frühstückten sie traditionell an dem langen Tisch auf der Terrasse, sofern das Wetter es zuließ. Danach gab es die Geschenke: je ein großes Papp-Osterei, gefüllt mit Süßigkeiten, für alle. Dieses Jahr hatte Annik vorgeschlagen, die Eier schneefest einzupacken und zu verstecken. Also stiegen Krister und Tom mit den Kindern zum Rodeln auf den Hügel, und die verbliebenen Erwachsenen kümmerten sich darum, neuen Kaffee zu kochen, die Krümel vom Tisch zu fegen und die Ostereier zu verstecken.

Svea hatte den ganzen Morgen über schon immer wieder zu Alva herübergesehen, und entsprechend war Alva nicht besonders überrascht, als ihre zukünftige Schwägerin ihr in die Hütte folgte, eins der Sitzfelle noch in der Hand. »Lundahl und du, ja?«

»Ja.« Ein warmes Gefühl machte sich in Alvas Brust breit. Sie hielt die Kaffeekanne unter den Wasserhahn, um sie zu füllen.

»Als du sagtest, du würdest ihn mitbringen wollen, war mir nicht klar, wie ernst es dir mit ihm ist.«

»Das wusste ich selbst nicht.«

»Ihr seid süß zusammen.« Nur klang es eher, als spräche Svea von einer Weisheitszahn-OP.

Ungefragt tauchte wieder die Erinnerung an Kristers Worte auf. Es gibt Gerüchte. »Aber?«

Svea sah sich zur Tür um, als befürchtete sie, jemand könne draußen zuhören. »Du weißt, dass wir beide aus Oslo kommen. Und zufällig gab es ein paar Berührungspunkte zwischen meiner Clique und seinen Leuten. Ach, Mist. Ich fühle mich echt blöd dabei, hier rumzutratschen. Außerdem hätte ich es dir, wenn schon, vielleicht sagen sollen, bevor du ihm völlig verfällst –«

»Ich bin ihm nicht verfallen«, zischte Alva. Also, zumindest nicht völlig.

»Okay, dann bevor du mit ihm im Bett landest.«

»Leider bin ich jetzt neugierig.« Die Kaffeekanne lief über, und Alva stellte den Wasserhahn aus.

Svea versicherte sich noch einmal, dass niemand lauschte. »Da Aki dir das kaum selbst erzählen wird …«

Déjà-vu. Vor nicht allzu langer Zeit hatten Svea und sie ein ähnliches Gespräch geführt, nur mit umgekehrten Rollen. »Ich glaub, er mag ›Jo‹ lieber.«

»’tschuldige. Ich weiß. Was soll’s. Ich bring’s einfach hinter mich.«

Alva sah zu Jo hinüber, der mit fast jungenhafter Begeisterung Espen dabei half, die Ostereier zu verstecken.

»Bitte versteh das richtig, ich will dir diese Sache nicht madig machen oder sonst was. Wenn du ihn gernhast, dann … ist das so. Aber ich habe eins gelernt, seit ich in eure Familie gekommen bin: Die Solbergs reden über Dinge. Und das finde ich gut, und …«

»Svea. Nun sag schon.«

Svea knautschte das Fell in ihren Händen. »Das wirst du nirgendwo im Internet finden, seine Anwälte haben da gute Arbeit geleistet. Aber es heißt, er ist deswegen aus dem Verein geflogen, weil er einen Typen krankenhausreif geschlagen hat.«

»Was?« Irritiert wich Alva einen Schritt zurück.

»Der andere hat wohl bleibende Schäden zurückbehalten.«

Nein. Alva wusste nicht mal, ob sie es laut aussprach. Nein, das war völliger Unsinn. »Ganz ehrlich? Das passt so was von überhaupt gar nicht zu dem Jo, den ich kennengelernt habe.« Dem Jo, der soeben mit ihrem Zwilling zusammen versuchte, eins der Eier mit einer merkwürdigen Seilkonstruktion an einen der kargen Bäume zu hängen. Es gab ein paar Unstimmigkeiten zwischen dem Vorstand und mir, wie mit rassistischen Übergriffen umzugehen ist. »Jo ist kein Schläger.«

»Kann sein. Kann auch nicht sein.« Svea hob ein bisschen hilflos die Schultern. »Ich fand trotzdem, du solltest wissen, dass da zumindest irgendwas nicht ganz sauber gelaufen ist. Meine Freundin kennt seine Schwester. Insofern gehe ich davon aus, dass was dran ist.«

Nein. Alva zwang sich zum Lächeln.

»Frag ihn sonst einfach selbst.«

Hey, ich hab gehört, du schlägst Leute zusammen. Erzähl doch mal. »Mach ich vielleicht.«

»Tut mir leid.«

Mehr als ein Schulterzucken, das wohl nicht überzeugend gleichgültig rüberkam, gelang Alva nicht. Das war Quatsch, oder? Jo war kein Gewalttäter. Anders aufgewachsen als sie möglicherweise. Aber jemanden krankenhausreif schlagen? Im Leben nicht.

»Soll ich noch was mit rausnehmen?«

»Die Zimtschnecken«, sagte Alva. Die Zimtschnecken, die Jo mitgebracht hatte.

Von draußen kündigten Lachen und Rufen die Rückkehr der Schlittenfahrer an. Mechanisch schaltete Alva die Kaffeemaschine ein. Sie sah Svea hinterher, die ihr noch einen entschuldigenden Blick zuwarf, und schaffte nicht mal ein halbes Lächeln.

Sie wollte jetzt nicht nach draußen gehen.

Sie wollte nicht mit den anderen fröhlich am großen Ostertisch sitzen und so tun, als sei alles in Ordnung – weil es das gerade so was von überhaupt gar nicht war. Zu vehement stellte sie die Kaffeedose zurück in den Schrank und knallte die Tür zu.

Klar, dass das wieder ihr passierte. Klar.

Falls es denn wirklich stimmte.

Und was bedeutete es für sie, wenn es so war? Dass es sie nicht störte, wenn Jo lossegelte? Oder dass sie ihn überhaupt nicht mehr sehen wollte?

Hanne kam zerzaust aus dem Nebenzimmer. »Ich bin wieder beim Stillen eingeschlafen. Ist noch Kaffee da?«

»Läuft gerade durch.«

»Gut.« Prüfend betrachtete Hanne sie. »Was ist?«

»Nichts.« Weil sie es nicht wollte. Weil sie sich wünschte, Svea hätte einfach geschwiegen.

»Sicher?«

»Nein, mich beschäftigt was. Ist nur jetzt nicht der richtige Moment dafür.«

»Ich bin für dich da, das weißt du.«

»Ja.«

»Kommst du mit raus?«

»Ich warte nur noch auf den Kaffee.« Und darauf, dass ihr Herzschlag sich beruhigte, und vielleicht ein bisschen auch auf Svea, die zurückkam und zugab, nur einen schlechten Scherz gemacht zu haben. Oder gleich auf Jo, der sie suchte, um ihr zu sagen, was passiert war. Hatte sie gestern Abend tatsächlich fast ernsthaft darüber nachgedacht, mit ihm zu segeln? Sie musste betrunkener gewesen sein, als ihr bewusst gewesen war.

Aber Jo las natürlich nicht ihre Gedanken und kam nicht ins Haus, um das Missverständnis aufzuklären. Stattdessen hatte er Spaß mit ihrem Zwilling.

Sie wollte ihm nicht gegenübertreten müssen, nicht einfach anknüpfen an vorher. Sie wollte Zeit haben zum Denken und zum Forschen, denn nun würde sie Joakim Lundahl im Netz suchen, so viel war sicher. Svea hatte gemeint, über diese Sache würde Alva nichts finden, aber Krister hatte etwas von ›Gerüchten‹ gesagt, und Alva war bereit, jedes einzelne davon sehr genau anzusehen.

»Lillesør, kommst du?«

Das war vertrautes Terrain. Alva sah um den Türrahmen herum nach draußen. »Ich bin immer noch vier Minuten älter als du, Brüderchen.«

Jo zwinkerte ihr zu, und natürlich wurden ihr trotz allem prompt die Knie weich, als wäre sie sechzehn.

Sie zwang sich zu lächeln – im Zweifelsfall erst mal für den Angeklagten – und zog sich zurück. Doch ewig konnte sie sich nicht im Haus herumtreiben. Sie wusch sich noch die Hände, kämmte überflüssigerweise die Haare, sortierte ein paar Teller ins Spülbecken und konnte das Rausgehen dann nicht länger aufschieben.

»Da ist ja endlich der Kaffee!« Espen hielt ihr seine Tasse entgegen, noch bevor sie am Tisch angekommen war. »Ich hab Jo zu unserer Party eingeladen.«

»Und ich habe zugesagt.« Jo trat neben sie und legte den Arm um sie wie am Abend zuvor. Seine Wärme, das inzwischen vertraute Gefühl seines Brustkorbs an ihrer Schulter, dieser Duft, der sofort die Küsse vom Vorabend zurückholte – alles an ihm zog sie an. Sie könnte in diesem Moment vollkommen glücklich sein, würde nicht dieser hässliche Verdacht, von dem sie nicht wusste, wie sie damit umgehen sollte, alles wie ein Störgeräusch überlagern.

Sie versteifte sich unwillkürlich, ganz wenig nur, aber Jo merkte es. Natürlich merkte er es. Es hatte sein Geld damit verdient, das Muskelspiel anderer Leute zu kennen.

»Alles okay?«, fragte er mit diesem unfassbar entzückenden Osloer Tonfall. Sein Atem war warm über ihrem Ohr.

»Klar.« Vollkommen okay. »Nur … Kopfschmerzen.«

»Soll ich dir die Schultern massieren?«

»Nein.« Sie lächelte zu ihm hoch und wand sich dabei aus seiner Umarmung. »Lass mal. Das geht schon gleich wieder.«