Am Freitag hetzte Alva nach der Arbeit zu den Robben und schaffte es gerade noch rechtzeitig vor Feierabend zum KiWi, um die Getränke für die Party zu holen. Kristers Auto parkte schon auf Espens Hof, als sie vorfuhr. An das Wohnhaus angegliedert war eine kleine Scheune, die Espen normalerweise als Werkstatt für seine Basteleien und alle paar Jahre auch als Partyraum nutzte. Durch das kleine Sprossenfenster der erleuchteten Scheune sah Alva Krister auf einer Leiter stehen. Verrückter Idiot, warum musste ausgerechnet er mit seinen kaputten Knochen da oben herumkrabbeln? Und wann hatten sie überhaupt besprochen, jetzt schon mit dem Schmücken anzufangen? Bis eben war sie stillschweigend davon ausgegangen, dass die Vorbereitungen am nächsten Tag stattfinden sollten.
Sie parkte rückwärts direkt vor dem Vorraum, der Wohnung und Scheune verband.
Musik empfing sie, als sie die Tür öffnete. »Der Getränkeservice ist da!«
»Sekunde!«
Sie hievte die erste Bierkiste aus dem Kofferraum und trug sie in die Werkstatt.
Krister war gerade von der Leiter gestiegen. »Ich hab doch gesagt, ich komme.«
»Als würde ich dich auch nur eine einzige Kiste schleppen lassen.« Sie stellte das Bier ab und umarmte ihn kurz. »Was tust du außerdem auf der Leiter?«
»Ähm … Lichterketten anbringen?«
»Hab ich dir das erlaubt?«
»Das schaffe ich gerade noch. Der Chirurg meines Vertrauens findet es völlig in Ordnung.«
»Der Chirurg deines Vertrauens ist ein Idiot«, sagte sie liebevoll. »Ernsthaft. Sicher, dass du da nicht eine zweite Meinung außer deiner eigenen einholen solltest?«
»Wo sind diese Getränkekisten?«
Alva verdrehte demonstrativ die Augen und wandte sich wieder dem Kofferraum zu. »Die Frage ist eher: Wo ist dein nichtsnutziger Bruder? Ich habe das ganze Zeug ins Auto geschleppt, du fällst aus – nein, keine Widerworte, du fällst aus. Ich wüsste, wer jetzt mit Ausladen dran wäre.« Ächzend zerrte sie die nächste Kiste nach vorn.
Krister tauchte ungefragt neben ihr auf und griff danach. Dummerweise war er sowohl größer als auch stärker als sie.
»Finger weg, Storebror. Das meine ich ernst. Wann wurde überhaupt beschlossen, dass das hier«, sie deutete vage auf das Innere, »heute stattfindet und nicht morgen?«
»Ich dachte, Espen hätte das mit dir besprochen.«
»Espen hat gar nichts. Er hat nur gefragt, ob ich die Getränke besorgen kann.«
»Ich weiß bloß, dass Svea morgen früh wohl keine Zeit zum Schmücken hat, weil sie noch irgendwas vorbereiten will.«
»Und was, wenn ich heute keine gehabt hätte?«
»Dann hätten wir es wohl ohne dich hinbekommen müssen.«
Sie gestattete ihm gnädig, ihr beim Reintragen der Kisten zu helfen. Schließlich war er erwachsen und musste wissen, was er tat. »Wo sind die beiden überhaupt?«, fragte sie, nachdem sie die letzte Kiste neben der Werkbank abgestellt hatte, die bereits sauber und ordentlich auf ihre Funktion als Schanktheke wartete.
»Wollten irgendwelchen Dekokram aus dem Schlafzimmer holen.«
Alva stöhnte. »Das glaub ich jetzt nicht. Die lassen dich – uns – hier alles machen, während sie im Schlafzimmer angeblich irgendwas suchen?«
»Man kann in Schlafzimmern durchaus auch Sachen lagern.«
»Stimmt, das hatte ich bei dem regen Verkehr in meinem Schlafzimmer völlig … ups.«
Krister grinste nur und schüttelte den Kopf. »Apropos. Kommt der Handballer denn nun zur Party?«
»Ich gehe davon aus.« Kristers Frage war das gewesen, was sie noch gebraucht hatte, damit die vielen Überlegungen und Abwägungen der letzten Tage endlich ein Gesamtbild ergaben. Es trug den Titel: ein bisschen Wildheit.
Er stieg wieder auf die Leiter, wo er anscheinend dabei gewesen war, eine Discokugel an einem Balken anzubringen. »Hast du irgendwo noch längere Schrauben gesehen?«
»Wahrscheinlich sucht Espen die gerade unter der Bettdecke. Ich werde garantiert nicht nachgucken gehen.«
Sie hockte sich vor den Partykühlschrank, den Espen für solche Fälle an der Wand stehen hatte, um die Flaschen einzuräumen. Vielleicht war es ganz gut, dass Espen noch nicht hier war. »Kris?«
Er stützte das Kinn auf die auf dem Bogen der Leiter gefalteten Hände und betrachtete sie. »Ja?«
Alva holte Luft. Er war ihr Bruder. Er würde ihr höchstwahrscheinlich nicht den Kopf für das abreißen, was sie fragen wollte. Der Kühlschrank piepte protestierend, und sie schloss ihn unverrichteter Dinge wieder.
»Was ist los?«
»Ich hab über was nachgedacht.«
»So weit nicht ungewöhnlich.«
»Blödmann.« Sie betrachtete die Flasche in ihrer Hand. »Ich hab mir überlegt …« Wie schwer konnte das bitte sein? Wieder holte sie Luft. Es fühlte sich mehr nach Anlaufnehmen an. »Was wäre, wenn ich ein paar Monate nicht da wäre?«
Krister zog eine Augenbraue hoch.
»Ich hab mir überlegt, dass ich gern eine Weile mit Jo segeln will.«
Nun gut, da er immer noch schwieg, würde sie ihm umso ungehinderter all ihre Argumente vortragen können. »Mir ist klar, dass es für euch dann ein bisschen eng wird, vor allem, weil der Mai ja schon recht verplant ist. Aber wenn wir mit Madalena aus Fuglesang reden und Papa vielleicht mit einer halben Stelle einspringt, könnte es …«
Er sah sie an, und sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass es hinter seinem unlesbaren Gesicht arbeitete.
»Funktionieren«, brachte sie ihren Satz zu Ende. »Und es wären nur ein paar Wochen, im Gegensatz zu anderen Leuten, die über Monate ausfallen.«
Krister räusperte sich.
Alva wartete.
»Setzt dir dieser dreißigste Geburtstag wirklich so zu?«
Irritiert starrte sie ihn an.
Krister legte den Schraubendreher auf das Podest der Leiter, stieg die Stufen herunter und war mit wenigen Schritten dieser ungerecht langen Beine bei ihr. Er konzentrierte sich, bevor er sprach. »Ich fange langsam an zu begreifen, dass diese Zahl für dich mehr Bedeutung zu haben scheint als für mich. Aber deswegen musst du jetzt nicht mit dem Nächstbesten, der zufällig in deine Richtung guckt –«
»Was soll das denn bitte heißen?«
»Ich sage nur, dass du dir das überlegen solltest.«
»Habe ich, Papa.«
»Süß.« Ungefragt reichte er ihr eine Flasche an, und sie öffnete den Kühlschrank wieder. »Abgesehen davon: Wann will dein Jo lossegeln? In zwei Wochen? Findest du es nicht ein bisschen knapp, uns so kurzfristig hängen zu lassen?«
»Das sagt ja wohl der Richtige.« Alva schob die Flasche zu den anderen, dass es klirrte. Dann knallte sie den blöden Kühlschrank wieder zu und stand auf. »Weißt du was? Ich hab’s bis hier oben hin satt.«
Die nächste Flasche, die Krister ihr hatte geben wollen, hing einen Moment in der Luft, bevor er die Hand sinken ließ.
»Ich bin die, die immer da ist, die alles macht, auf die sich alle verlassen können. Und ich habe dazu keine Lust mehr! Ihr könnt zur Abwechslung auch mal was für mich tun!«
»A---«
Zum ersten Mal, seit sie sehr klein und wütend gewesen war, verspürte sie eine selbstgerechte Befriedigung darüber, dass ihr Bruder manchmal an seinen Worten hängen blieb.
Seine Nasenlöcher weiteten sich, der Mund verzog sich zu einem grimmigen Lächeln. »Aber d---as muss sich vielleicht nicht darin äußern, dass du uns mit der P---raxis hängen lässt.«
»Und was hast du getan?«, fauchte sie. Vielleicht hätte sie heute irgendwann mal etwas essen sollen, wahrscheinlich war sie deswegen so gereizt. »Du bist ja wohl derjenige, der –«
»Ich hab’s verstanden.«
Aber sie war noch nicht fertig. Jahre der stillen Frustration, die sie sich nicht einmal selbst eingestanden hatte, ballten sich zusammen, mischten sich mit der Unsicherheit, was Jo anging, und kochten hoch. »Ich hab nicht mal Lust auf die blöde Party, und trotzdem bin ich hier. Weil! Ich! Immer! Für! Alle! Da! Bin!« Sie trat gegen die Getränkekiste und zuckte zusammen, als der Schmerz durch ihren Fuß zischte.
Kristers Kiefer mahlten.
Vielleicht war es ein bisschen unfair gewesen, die Sache an ihm auszulassen.
»W-warum hast du dieser Party zugestimmt, wenn du keine Lust dazu hast?«
War das nicht offensichtlich? »Es war Espen wichtig.«
»Es war Espen wichtig.«
»Sagte ich, oder?«
»Dir war es nicht wichtig. Du hast nicht mal Lust dazu.«
Seufzend öffnete sie den Kühlschrank wieder. »Sagte ich ebenfalls. Gib mir zuerst die Wasserflaschen und die Säfte.«
Schweigend räumten sie den Kühlschrank ein.
»Ich sehe nicht, wie das gehen soll«, sagte Krister bei der vorletzten Flasche. »Ich meine, so spontan Ersatz für dich zu finden, einzuarbeiten und alles. Und auf die Gefahr hin, dass du mir wieder an den Hals springst, finde ich, du solltest … dir überlegen, ob Jo wirklich der Richtige dafür ist.«
»Ich kann mich nicht dran erinnern, dir jemals vorgeschrieben zu haben, mit wem du dich treffen sollst.«
Er lächelte vorsichtig. »Vielleicht wäre uns allen eine Menge erspart geblieben, hättest du das getan.«
Die Tür zum Vorraum wurde geöffnet, und ihr Zwilling erschien, Hinterteil voran. Svea und er brachten allen Ernstes das große Sofa aus dem Wohnzimmer hier herein – so pünktlich, als hätten sie abgewartet, bis das Geschrei in der Werkstatt verstummte.
Zwei Stunden später war die Werkstatt tatsächlich in einen Partyraum verwandelt. Es schauderte Alva jetzt schon bei dem Gedanken, all die Lichterketten wieder einzupacken. Aber die Stehtische, die Espen irgendwo aufgetrieben hatte, die Sitzecke mit Sofas, Sesseln und Kissen, die Tischdecken und Tücher an den Wänden und vor den Regalen – all das war wirklich schön und feierlich. Vielleicht war das mit der Party doch keine ganz dumme Idee.
Alva und Svea hatten es sich auf dem Sofa bequem gemacht, Krister lag ausgestreckt auf dem Teppich davor, und Espen lümmelte auf dem Kissenstapel herum, während sie ihr Werk betrachteten.
»Worüber habt ihr euch vorhin eigentlich gestritten?«, fragte Espen.
Krister betrachtete die Zimmerdecke. »Alva findet, unsere Lastverteilung sei einseitig.«
Sie trat ihn gegen den Fuß. »Das war nicht der Punkt.«
»Was dann?«
Mit Svea im Raum, die ihr von dieser Schlägereisache erzählt hatte, wurde es auf einmal schwer, Espen von ihrem Plan zu berichten. Ihrem Wunsch. Was auch immer. »Ich … ich würde gern eine Weile wegfahren.«
»Okay«, sagte Espen gedehnt. »Und wohin? Und wann?«
Aus dem Augenwinkel sah Alva, wie Svea sie eindringlich anblickte.
»Ich will ein Stück mit Jo die Küste hochfahren.«
»Kann ich verstehen, dass ihr euch darüber gestritten habt.« Aber Espen klang freundlich wie immer. »Wie soll das gehen?«
Das elektronische Gedudel seines Weckers am Samstagmorgen war so grauenhaft munter, dass Jo das Telefon am liebsten gegen die Wand geworfen hätte. Er öffnete ein Auge halb und tastete nach dem Snooze-Button. Er musste eine andere Melodie einstellen. Demnächst. Jetzt drehte er sich wieder um und zog die Decke noch einmal über den Kopf.
Beim Zähneputzen wirkte er im gnadenlosen Licht der Badezimmerleuchte über dem Spiegel blass. Gestern hatte er es nicht so gemerkt, gestern war er wie im Rausch gewesen. Die Kamera, die Leute, die ihm das Gefühl gaben, wichtig zu sein. Jetzt war er nur noch Jo, zerzaust und verkatert und mit einer ruinierten Karriere. Fuck.
Nach dem Duschen blinkte sein Smartphone erneut, aber es war nicht Alva, sondern bloß Thore, der ihm eine Sprachnachricht geschickt hatte: »Ziemlich scharf, deine Neue! Ist das nicht die Fotografin, die immer die Aufnahmen für SkanJersey macht?«
Jo ließ das Handtuch sinken und starrte das Telefon verständnislos an, als könnte es seine stumme Frage beantworten. Es dauerte beschämend lange, bis er begriffen hatte, was Thore meinte, und dann fing, durch seine Frustration und Übermüdung genährt, die alte Wut an, in ihm aufzusteigen.
Er würde Kjersti später anschreien, erst wollte er sich das Ausmaß des Grauens ansehen. Er öffnete Instagram; sein Telefon war auf seinem privaten Account eingeloggt, den nur Zayed, Kjersti und vielleicht zwanzig andere kannten. Er postete dort selten, im Wesentlichen nutzte er das Konto, um seinen Freunden zu folgen. Und sich selbst.
Seit Monaten hatte er @aki_thetwister nicht aufgerufen. Er vertraute Kjersti, dass sie vernünftige Bilder postete, und normalerweise tat sie das. Die meisten Kommentare gingen ihm ohnehin nur auf die Nerven. Er war Handballspieler. Das war das, was er konnte und wollte. Er hatte nie darum gebeten, auch Projektionsfläche für irgendwelche komischen Fantasien zu sein.
Der neueste Post auf dem Account – der, auf den Thore sich wohl bezogen hatte – bestand aus zwei Bildern und war erst vor einer Stunde hochgeladen worden: er selbst mit gestutztem Bart und breitem Lachen, den Arm um Viktorias Schulter gelegt. Das zweite Bild war das, wo sie ihn küsste. Es sah auf verstörende Weise wesentlich intimer aus, als die Situation in Wirklichkeit gewesen war. Gefühlt eine Million Kommentare drunter. Na super.
Bei der Bildunterschrift hatte Kjersti sich übertroffen. Best of times with @therealviktoriarasmussen. Dazu ein rotes Herz und eine Flamme. Was sollte das?
Jetzt scannte er die Kommentare doch. Herzen und Flammen dominierten, dazwischen mal wieder »Schönes Paar« oder »super« in verschiedenen Sprachen. Ein paar der obligatorischen »You’re sooooo hot, I love you«, aber auf den ersten Blick keine Heiratsanträge. Und niemand wollte ein Kind von ihm, immerhin.
Sein Daumen schwebte schon über dem Homebutton, um die App zu schließen, als ihm Sannas Kommentar auffiel. Freue mich für euch beide. Love always.
Er hatte nicht mal die Log-in-Daten für den Account. Also schrieb er Kjersti, sie möge die Fotos mit Viktoria bitte umgehend löschen. Fehlte noch, dass Alva diesen Schwachsinn zu sehen bekam. Dann legte er das Telefon zur Seite. Es war Zeit, sich auf den Rückweg nach Lillehamn zu machen. In sein neues Leben, wie auch immer das aussehen würde.
Alva öffnete Instagram und hätte es am liebsten gleich wieder geschlossen. Stattdessen starrte sie den neuesten Post wie hypnotisiert an.
Jo posierte in sehr vertrauter Umarmung mit einer Frau, die ihn auf einem der Bilder auf die Wange küsste, und er hatte nicht nur dieses Strahlen im Gesicht, sondern sah die Frau auch noch verliebt an. Während sie sich seinetwegen mit Krister herumgestritten hatte, hatte er mit dieser Frau … was auch immer gemacht. Viktoria Rasmussen. Schlank, hübsch, langhaarig. »Das kann nicht dein Ernst sein, Jo.«
Erst flüsterte sie es nur, dann schrie sie. »Das glaub ich jetzt nicht!« Mit ihm die Küste hochsegeln, ha! Wie naiv war sie überhaupt? Ihr Zorn mischte sich mit rasendem Selbsthass.
Was, bitte, hatte sie sich denn eingebildet?
Statt das Telefon gegen die Wand zu schleudern, zwang sie sich, die Bilder noch einmal anzusehen.
Jo wirkte so vertraut mit dieser Frau. So gelöst. Diese selbstverständliche Umarmung, dieser Kuss, dieses entspannte Lachen. Auf einmal wurde Alva noch elender.
Sie lebte schon lange genug auf diesem Planeten, um die Spielregeln zu kennen: Männer wie Jo – Aki, was auch immer – gehörten zu Frauen wie Viktoria Rasmussen, nicht zu kleinen, knubbeligen Ärztinnen aus dem Hinterland. Was, wenn diese Viktoria in Wirklichkeit die Betrogene war und sie die … bequem verfügbare Nebenfrau? Vor ihrem geistigen Auge blitzte die Erinnerung an den Lippenstiftrand auf Magnus’ Hemd auf, und etwas in ihr fing an zu flattern. Nicht freudig, sondern eher wie der Rest einer zerrissenen Flagge in sehr böigem Wind.
Joakim Lundahl Freundin. Die meisten Links waren älter und verkündeten entweder das Zusammenkommen mit seiner Ex oder die Trennung von ihr. Joakim Lundahl Viktoria Rasmussen. Auf Norsk Glitter war eine ganze Bilderreihe eines jüngeren, sehr blonden Jos mit einer jüngeren Viktoria. Arm in Arm, herumalbernd, von beiden Seiten an einer Zuckerwatte leckend. Alva schloss die Augen, aber die Bilder blieben da. Sie überflog einen zweiten, allerdings ziemlich aussagelosen Artikel auf Norsk Glitter und scrollte weiter. Nur mithilfe eines Ausflugs zum Küchenschrank, um die jämmerlichen Reste aus der Kekspackung zu holen, schaffte sie es, nicht den Instagram-Account von dieser Viktoria aufzurufen, und öffnete stattdessen ein Video auf dem Sportkanal.
… Halle kocht, Leute. Das habe ich noch nicht gesehen.
Das Video hatte mitten im Satz des Kommentators begonnen. Man sah Handballspieler über ein Feld laufen, kleine Figuren, weit weg.
Ja, man kann die Entscheidung der Unparteiischen in diesem Spiel nicht immer nachvollziehen. Und hier ist Mannschaftskapitän Aki Lundahl, auch er scheint ziemlich aufgebracht zu sein.
Die Kamera schwenkte auf Jo, zerzaust, verschwitzt und sichtlich hochkonzentriert. Er beobachtete das Geschehen auf dem Feld, wippte auf den Zehen, gespannt wie ein Pfeil vor dem Abschuss, dann öffnete er den Mund und öffnete die Hände in einer Geste der Fassungslosigkeit.
Schwenk auf einen Mann am Spielfeldrand, anscheinend war das der Trainer. Er rief etwas. Schwenk zurück auf Jo. Beherrschtes, konzentriertes Nicken. Er hatte die Anweisung verstanden.
Vielleicht habt ihr den Austausch zwischen Trainer Bergstrom und seinem Spitzenmann gerade gesehen. Ich wette, wir bekommen gleich eins dieser Manöver zu sehen, denen Lundahl seinen Beinamen zu verdanken hat. Kann der Twister das Spiel noch drehen? Der Ball ist bei Janssen. Janssen zu Magnussen. Lauvik. Wieder Janssen. Da! Jetzt kommt Lundahl!
Dafür, dass Alva keine Ahnung von Handball hatte – und bisher auch kein Interesse – betrachtete sie das Geschehen auf dem Display ziemlich fasziniert. Und jedes Mal, wenn Jo ins Bild kam, fing ihr Herz an, aufgeregt zu klopfen, obwohl er sie angelogen hatte und dann zu dieser Viktoria gerannt war.
Was ist da auf dem Spielfeld los, Leute? So ein aggressives Spiel habe ich wirklich lange nicht gesehen! Foul! Für mich sah das eindeutig aus wie ein Foul, aber die Schiris lassen weiterspielen.
Kameraschwenk auf Jo, der vor Wut kochte. Was ihn nicht zu hindern schien, das Spiel im Blick zu behalten, denn er fing einen Pass aus der Luft und dribbelte los.
Und Joakim Lundahl ist anscheinend der Kragen geplatzt. Seht euch diese Kraft an, diese absolute Körperbeherrschung! Das sind 90 Kilo reine Muskelmasse, die da über das Feld fliegen.
Muskelmasse, angetrieben von entfesseltem Zorn, dachte Alva und versuchte, die Erinnerung an Sveas Worte zurückzudrängen.
Was für ein Spiel, was für ein Spiel! Die Emotionen brodeln hier, nicht nur beim Publikum. Und – das kann ja wohl nicht wahr sein! – hat Martinsen ihn am Trikot gerissen? Es sieht ganz so aus. Zwei Minuten für Martinsen, sehr berechtigt, meiner Ansicht nach. Und Rot für Lauvik! Mit Joakim Lundahls Beherrschung scheint es nun vollends vorbei zu sein. Guckt euch an, wie zielgerichtet er draufhält.
Der Reporter schien ein großer Fan von Jo zu sein.
Auweia, Leute, auweia. Das war verdammt nah am Stürmerfoul!
Jo hielt auf die Verteidiger am Kreis zu, ohne auch nur im Geringsten abzubremsen, lief, einen langen Schritt, zwei, drei, sprang ab – und in diesem Moment prallten zwei andere Spieler mit ebensolchem Tempo von hinten gegen ihn, nicht erkennbar, ob mit Absicht oder nicht. Alva konnte nicht einmal so schnell gucken, wie alles geschah. Sie hörte nicht mehr, was der Reporter sagte. Im Sprung hatte Jo den Ball ins Tor gedonnert, das Publikum jubelte, johlte, pfiff. Jo kam taumelnd und durch den Zusammenprall mit den anderen Spielern aus der Balance gebracht, auf, versuchte, sich durch einen weiteren Schritt zu fangen, und stürzte.
Was ist da passiert? Das sieht nicht gut aus, sagte der Reporter. Alva spürte ihr Herz im Hals klopfen. Doch Jo kam unsicher wieder auf die Füße, schüttelte die Beine aus und – das Video war zu Ende.
Das nächste sprang automatisch an. Der Twister: Aki Lundahl 4ever! Es war ein Fanvideo, in dem kurze Filmsequenzen aneinandergereiht worden waren. Normalerweise hätte Alva es sich nicht angesehen, aber jetzt saß sie wie hypnotisiert davor. Jo, der aus der Ecke gelaufen kam, den Ball fing, andrehte und ins Tor warf, Jo, der mit diesem breiten Lachen einem Freund den Arm um die Schultern legte. Wieder ein Tor. Noch eins und noch eins. Jo, der nach einer Niederlage aussah wie kurz vor dem Heulen und von einem Kollegen umarmt wurde. Und dann wieder das Lachen. Und noch mehr Tore. Dann in Blockbuchstaben überblendet: Aki the Twister, wir lieben dich! 4ever!
Sollten sie mal.