Siebzehn

Alva hatte keinen Dienst in der Marinestation. Aber bevor sie in ihrer Wohnung die Wände hochging oder so sehr heulte, dass sie bei dieser elenden Geburtstagsfeier aussah wie ein Koboldmaki, schlüpfte sie in ihre abgetragene Jeans und ging hinüber.

»Braucht ihr Hilfe? Ich hab schlechte Laune.«

Nina wies auf den Wasserschlauch neben den Quarantänebecken. »Wenn es dazu führt, dass du herkommst, kannst du gern immer schlechte Laune haben. Ich frage mich sowieso, warum du nicht Meeresbiologin geworden bist.«

»Weil ich sehr gern Kinderärztin bin und nebenher hier helfe.«

Sie reinigte Becken, wog Fischvorräte ab, half Silje beim Füttern der Heuler, putzte die Futterküche – alles nur um nicht daran zu denken, dass sie Jo heute Abend wiedersehen würde und dass Jo vielleicht nicht ganz so großartig war, wie sie dachte. Sonst waren die Robben ihre Garantie für gute Stimmung. Heute reichte es immerhin dazu, dass sie nicht mehr die ganze Welt in Schutt und Asche legen wollte – was ein Fortschritt war.

Der Frühling hatte pünktlich zu ihrer Geburtstagsfeier beschlossen, seine Aufgabe ernst zu nehmen, und nach und nach lockten der Sonnenschein und die milde Luft ihre Zuversicht doch wieder hervor. Im Zweifel für den Angeklagten. So.

Es war einfach noch ein Thema mehr, das sie mit ihm besprechen musste. Zuerst würde sie ihn fragen, was das mit dieser Viktoria sollte. Und dann, falls die Antwort zufriedenstellend war, würde sie … nein. Sie würde auch so. Egal, welchen Katzenjammer der nächste Morgen bringen würde, an ihrem dreißigsten Geburtstag würde sie Spaß habe. Und dass Jo sich dafür hervorragend eignete, hatte er ja schon bewiesen.

 

Am Sonnabendnachmittag stapfte Alva gemeinsam mit Krister – der nichts weiter zum Vortag sagte –, Annik und Theo den Berg zu Espens Hof hinauf. Sie hatten die Sonne im Rücken, warm und freundlich, und allmählich machte sich sogar etwas wie Vorfreude in ihr breit.

Espen hatte irgendwo noch ein paar zusätzliche Stehtische aufgetrieben, die mit weißen Decken und Windlichtern darauf vor dem Haus aufgestellt waren. Das allmählich orange werdende Sonnenlicht ließ die Szenerie zusätzlich heimelig wirken.

»Wow, da hat sich jemand selbst übertroffen«, sagte Annik.

»Ja, sieht so aus.« Alva blieb keuchend stehen, um nicht völlig außer Atem zu sein, wenn sie hineingingen. Bei näherem Hinsehen erkannte sie, dass sogar kleine weiße Blüten auf die Tische gestreut waren. Espen hatte ein Händchen für schöne Gestaltung, aber die Blumen waren bestimmt nicht sein Werk.

Wie als Antwort auf ihre Überlegung kam Mariana aus dem Haus, die zweite Frau ihres Vaters. Als sie die Neuankömmlinge sah, stellte sie den Korb ab, den sie getragen hatte, und breitete die Arme aus. »Hei, hei, da kommt ja der Rest meiner Familie.«

Alva lächelte. Mariana war die beste Stiefmutter, die man sich nur wünschen konnte – und der beste Beweis dafür, dass Familie nicht nur aus Blutsbanden bestand.

Wie um das zu bestätigen, hopste Theo auf Mariana zu. »Oma Mariana!«

Seitdem ihre Eltern im Dezember nach Lillehamn zurückgekommen waren, war Theo mindestens einmal in der Woche bei ihnen. Mariana störte es kein bisschen. Sie ging in ihrer Rolle als Nennoma für Theo mit Begeisterung auf und überschüttete ihn mit so viel Liebe, dass es für drei Enkelkinder gereicht hätte – die zumindest Espen und Alva ihr wohl nicht so schnell schenken würden. Der Dauerstachel in Alvas Herzen wollte anfangen zu bohren, aber sie ignorierte ihn. »Hallo, mein Liebling«, sagte Mariana zu Theo.

Er wuchs gefühlt drei Zentimeter, als er verkündete: »Ich habe extra einen Anzug an.«

»Wirklich?«

»Alles für Onkel Espen und Tante Alva«, sagte Krister trocken.

»Wie geht’s euch sonst?«

»Gut.« Annik begrüßte Mariana mit einer Umarmung.

»Dir auch, mein Alvakind?«

»Klar. Immer.«

»Ich habe gehört –«

»Nicht du auch noch.« Alva lachte. »Er heißt Jo«, und ich bin gerade unfassbar wütend auf ihn. »Bitte behandelt ihn nicht alle wie das achte Weltwunder.«

»Würde mir nie einfallen.«

»Ich weiß.« Mariana war tatsächlich einfühlsam, was solche Sachen anging. Immerhin hatte sie Alva und Espen mitten in der Pubertät kennengelernt – vermutlich die beste Zeit, entspannten Umgang mit potenziellen Liebhabern der Kinder von der Pike auf zu lernen. Alva gab ihr einen Kuss auf die Wange. Eine geliebte Wolke aus Lavendel und dezentem Puderduft hüllte sie ein. »Hast du dich schon wieder zum Helfen einspannen lassen? Die Blumen sind von dir, oder?«

Mariana begleitete sie ins Haus, wo sämtliche Lichterketten, die sie gestern angebracht hatten, bereits angeschaltet waren und schon im Vorraum eine fast magische Atmosphäre erzeugten. Vielleicht war ein dreißigster Geburtstag doch nicht ganz und gar schrecklich, trotz allem.

»Lasst mich euch die Jacken abnehmen«, sagte Mariana.

»Das kann ich auch selbst …«, begann Alva zu protestieren, doch Mariana schüttelte den Kopf. »Heute ist Geburtstag.«

»Genau genommen erst morgen.«

»Willst du mir widersprechen, Küken?«

»Würde ich nie.«

»Toll siehst du aus.«

»Das musst du sagen. Du bist meine Mutter.« Aber Alva fand sich durchaus selbst auch gut angezogen mit dem knappen schwarzen Kleid und den Nylons mit Fischgrätenmuster. Von Kris, Annik und Theo war vor allem der Jüngste derjenige, der mit Hemd, Anzug und blauer Fliege aussah, als sei er unterwegs zu einem Empfang im Königshaus. Anniks schlichtes, knielanges Kleid fiel in dieselbe Kategorie wie Alvas: gepflegt, aber nicht so, dass man sich nicht mehr darin bewegen konnte. Es spiegelte die Farbe von Theos Fliege. Krister hatte zur schwarzen Jeans ein Hemd in demselben Blau angezogen.

Beim Anblick der Anzugjacke, die er darüber trug, lächelte Alva. »Übertreib es nicht gleich.«

»Für dich, Schwesterchen, ist mir keine Mühe zu groß.« Er legte einen Arm um sie, und sie lehnte sich einen Moment an ihn.

»Gehen wir rein?«

Theo war schon mit seiner Mutter im Schlepptau in die Werkstatt gehüpft. Alva und Krister folgten Arm in Arm.

Wenn sie sich gut angezogen gewähnt hatte – Espen und Svea stellten sie gekonnt in den Schatten. Espen im tadellos sitzenden Anzug mit grüner Krawatte, grünem Einstecktuch und kunstvoll angezausten Haaren, Svea im farblich abgestimmten Kleid, die silberblonden Haare auf ihren bloßen Schultern glänzten im Licht der tausend Lämpchen ringsum. Mit den hohen Schuhen war Svea noch dazu fast so groß wie Krister. »Du bist unfassbar schön«, sagte Alva ehrlich. »Ich werde meine Minderwertigkeitskomplexe in fünf Litern von Tildas Zaubersaft ertränken müssen.« Und nicht nur die, sondern sämtliche Unsicherheiten in Bezug auf Jo gleich mit.

Doch zunächst einmal füllte sich der Raum nach und nach mit vielen anderen Menschen. Hanne und Tom kamen – sie würden später Theo mitnehmen –, gefolgt von Tilda, ihrem Mann und dem Rest der Praxiscrew. Cousine Linnea, Cousin Tobi, Tennisfreunde von Espen, gemeinsame Schulfreunde, Alvas Kollegen aus der Robbenstation. Gefühlt war bald halb Lillehamn in Espens Scheune versammelt. Alva verbot sich, zur Tür zu sehen. Küsschen, Händeschütteln, Anstoßen, Lachen, danke für die Einladung. Die Hintergrundmusik, die Espen ausgesucht hatte, schwebte mit einem angenehmen Rhythmus über dem Stimmengewirr und dem Gelächter. Alvas Telefon steckte im Flur in ihrer Jackentasche. Sie würde auch dort jetzt nicht nachsehen gehen, ob Jo sich gemeldet hatte.

»Alva?« Espen winkte ihr an Bo und seiner Freundin vorbei zu. »Wollen wir?«

Sie schob sich durch die Menge zu ihrem schönen Bruder. »Wir wollen.« Jetzt erst fiel ihr das kniehohe Podest auf, das er neben der als Theke dienenden Werkbank aufgebaut hatte – und das sagte schon etwas über ihre Aufmerksamkeit aus, denn eine Lichterkette markierte den Rand einigermaßen deutlich. »Wann hast du das alles noch gemacht? Ich dachte, wir waren gestern fertig.«

Er hob die Schultern. »Svea war den halben Tag unterwegs, und mir war danach, was Sinnvolles zu tun.«

Ein lockerer Sprung mit seinen langen Beinen brachte ihn auf das Podest. Klar, ihm ging das Ding gerade bis zur Wade. Immerhin bot er ihr galant die Hand an.

Als sie nebeneinanderstanden und die vielen Menschen betrachteten, die ihretwegen hier waren, kribbelte es Alva auf einmal ziemlich in der Nase und in den Augenwinkeln. Sie schluckte die Rührung hinunter und griff nach Espens Hand. »Ich wünsche mir, dass wir noch sehr, sehr viele Geburtstage gemeinsam feiern.«

In seinen Augen, die ihren so ähnlich waren, brannte dieselbe Intensität, die sie auch empfand. »Ich werde mir alle Mühe geben.« Seine Stimme war rau, und das Lächeln wirkte ein bisschen gezwungen. Doch dann drückte er ihre Hand. »Heute sind wir hier. Wir sind gesund. Und wir feiern.«

»Was das Zeug hält.« Sie gab sein Lächeln zurück. »Reich mir mal ein Glas und einen Löffel rüber.«

»Wieso willst du klingeln?«

»Ts.« Alva schüttelte betont irritiert den Kopf. »Weil ich die Ältere von uns beiden bin, du Kleingemüse.«

»Pass auf, was du sagst, Zwerg.« Er angelte sich ein Sektglas und einen Teelöffel von der Theke.

Alva rechnete damit, dass er ihr die Sachen gab, doch er streckte ihr verstohlen die Zungenspitze heraus, bevor er den Löffel an das Glas klingen ließ. Blödmann.

Eine Bewegung an der Tür ließ sie hinsehen, aber es war bloß Kristers Freund Morten. Sie wischte verstohlen die Hände am Kleid ab. Himmel, wie konnte man so nervös sein?

Espen schlug noch einmal mit dem Löffel ans Glas, und das Gemurmel verstummte. Er sah sie auffordernd an.

Ihre Stimme würde kieksen. Ein letzter Blick zur Tür. Dann atmete sie aus und lächelte in die Runde. »Herzlich willkommen. Schön, dass ihr alle da seid, um mit uns zu feiern. Der Kleine hier neben mir hat sich das gewünscht, und ich finde inzwischen, es ist eine ziemlich gute Idee.«

Mariana begann zu klatschen, und vereinzelt fielen weitere Gäste ein.

»Wie ihr wisst, haben wir uns nichts weiter gewünscht, außer dass ihr hierherkommt und mit uns feiert«, fuhr Alva fort. »Für diejenigen unter euch, die es sich partout nicht nehmen lassen wollen, Geld auszugeben: Da drüben auf der Theke steht dieses unglaublich hässliche Spar…«

Espen hob den Porzellanfrosch mit dem Schlitz auf dem Kopf in die Höhe.

»Dieser sehr hässliche Sparfrosch«, setzte Alva ihren Satz fort. »Ihr dürft ihn gern großzügig füttern. Alles Geld, das da heute Nacht drin landet, spenden wir an die Huntington-Hilfe. Es ist also für einen guten Zweck.«

Dieses Mal waren es ihr Vater und Krister, die gleichzeitig anfingen zu klatschen und den Rest der Gäste mitzogen.

»Okay«, rief Espen, als es wieder ruhiger geworden war. »Mehr ist nicht zu sagen, außer: Esst, trinkt, tanzt und habt Spaß! Die Party ist eröffnet.«

Sie umarmten sich gleichzeitig, und Alva hatte das Bedürfnis, ihren Bruder sehr fest an sich zu drücken. Kurz darauf zitterte der Bretterboden unter ihnen. Krister war auf das Podest gesprungen und legte die Arme um sie beide, gefolgt von ihrem Vater und Mariana. Begeistertes Johlen und Klatschen füllte den Raum, bis Espen sich löste und rief: »Ihr sollt feiern! Wer stößt mit mir an?«

Alva stieß mit Espen an. Und mit Krister und Annik. Bevor sie mit Svea anstieß, schielte sie wieder zur Tür. Dann brauchte sie etwas zu essen, weil sie die Mischung aus Tildas Selbstgebranntem und dem Prosecco unangenehm in den Knien spürte, und danach war sie bereit zum Tanzen. Fast. Auf dem Weg zum Badezimmer hielt sie kurz an dem Regal an, das als Garderobe diente, und grub ihre Jacke unter ungefähr zehn anderen hervor. Wahrscheinlich war das nicht sehr klug, denn ihr Smartphone war immer noch dunkel. Vielleicht hatte Jo geschrieben, und Espen hatte hier auf seinem Berg kein Netz? Nein, das war Blödsinn. Sie waren hier in Norwegen, nicht irgendwo in einem Entwicklungsland ohne Netzabdeckung. Außerdem wäre ihr das schon mal aufgefallen. Viel wahrscheinlicher war, dass er eben doch lieber mit Viktoria Rasmussen … Sie brauchte mehr Schnaps und eventuell ein paar Fischfrikadellen.

Als sie sich zwischen ihren tanzenden und plaudernden Gästen an dem Podest vorbeidrängelte, hielt Espen sie am Arm fest. »Bleib mal kurz hier.« Mit einem Kopfnicken deutete er nach vorn, wo jetzt ihr Vater und Svea standen und warteten, dass es im Raum leiser wurde.

Schließlich schlug ihr Vater ebenfalls einen Löffel an ein Glas, und die letzten Stimmen verstummten. Aus dem Augenwinkel sah Alva, wie Krister die Musik leiser stellte.

»Guten Abend auch von mir«, sagte ihr Vater. Er wirkte ein wenig steif und fehl am Platz dabei. »Die meisten kennen mich, aber ein paar fragen sich vielleicht, was der alte Kerl da auf der Bühne will.«

Verhaltenes Lachen antwortete ihm, und er wurde merklich entspannter.

»Ganz einfach: Ich bin mitverantwortlich für diese beiden Prachtexemplare dort vorn. Vor dreißig Jahren um die Zeit habe ich eurer Mutter die Hand gehalten, Kinder. Es war nämlich nicht ganz einfach, euch auf die Welt zu befördern.« Er lächelte erst Espen und dann sie an, und Alva hoffte inständig, dass er keine Geburtsgeschichten zum Besten geben würde. »Am liebsten würde ich jetzt euch allen hier versammelten Menschen im Detail erzählen, warum diese beiden so wunderbare Menschen sind, aber das würde drei Tage dauern. Also mache ich es kurz. Espens Freundin Svea hat heute mit meiner Hilfe eine Diashow der letzten 30 Jahre zusammengestellt, die wir dort an die Wand beamen werden. Und mir bleibt nur zu sagen: Ich bin stolz auf euch. Espen, allein was du letztes Jahr geleistet hast, all das, was du bewältigt hast … Ein Vater könnte nicht glücklicher und stolzer sein als ich.«

Alva knuffte Espen und flüsterte: »Eine Schwester auch nicht.«

Er legte ihr den Arm um die Schulter. »Und ein Bruder erst. Komm, wir gehen die Diashow ansehen. Das war also Sveas große Überraschung.«

Ihr Vater hatte etliche Bilder herausgesucht, an die Alva sich nicht mal mehr erinnerte. Dafür an andere umso besser. Sie betrachtete die beiden rotnasigen Kinder in Schneeanzügen und fühlte immer noch die Vorfreude auf Weihnachten, die an jenem Tag geherrscht hatte. »Weißt du noch, wie du mit dem Schlitten über die Sprungschanze fahren wolltest und sie dabei völlig zerstört hast?«

»Nee, nee, nee. Das warst du.«

»Überhaupt gar nicht. Mit deiner Erinnerung stimmt was nicht.«

Er schnitt ihr eine Grimasse.

Ihr Ferienhaus auf Selerøy, der Bildausschnitt war ein bisschen ungelenk, wahrscheinlich hatte Krister das Bild gemacht. Es zeigte Espen, sie, Papa und Mama. Wann war das gewesen? Man sah Mama die Krankheit noch kaum an. Espen spannte den Arm an, der um ihre Schulter lag.

Zwei sonnengebräunte Kinder in Badehosen, die synchron von dem großen Felsen beim Ferienhaus sprangen.

»Das war der Sommer mit diesen krassen Mückenstichen, oder?«

Alva nickte. »Ich hatte völlig kaputte Knöchel, das weiß ich noch.«

Als sie älter wurden, war ihre Mutter weniger auf den Bildern – nicht weil es diese Fotos nicht gegeben hätte, sondern vermutlich weil ihr Vater und Svea beschlossen hatten, dass sie auf der Party lieber keine Stimmungskiller haben wollten. Espen fiel es auch auf. Alva ertappte ihn dabei, wie er den Mund zusammenkniff und sich gleich darauf eins der Schnapsgläser nahm, die Tilda herumreichte.

Sie selbst war definitiv jetzt schon beschwipst genug, aber sie nahm sich auch eins und stieß mit ihm an, während ihre Freunde rings um sie über die Bilder von ihrem achtzehnten Geburtstag lachten. »Sehr viele weitere Geburtstage«, sagte sie. »Hörst du?«

»Skål.«

Krister tauchte neben ihnen auf. Mit einer knappen Kopfbewegung deutete er zur Tür. »Besuch für jemanden von euch?«

Noch bevor sie sich umgedreht hatte, fing Alvas Herz an zu hämmern, und auf der Stelle war sie wieder nüchtern. Nun, beinahe nüchtern. Er war hier. Jo war hier. Und sie, Alva Solberg, gedachte, mit ihm Spaß zu haben, jawohl.

Er hatte den Bart gestutzt, sodass er bestenfalls noch als Dreitageversion durchging. Irgendwie wirkte er dadurch dunkler als vorher, aber vielleicht machte das auch das gedämpfte Licht. Als Jo ihren Blick auffing, lächelte er, beinahe so breit und strahlend wie auf dem Bild mit dieser Viktoria. Dann wollen wir mal.

Sie tauchte unter Espens Arm hindurch und ging mit schwingenden Hüften und leicht wippenden Schritten, aber – ja, doch – vollkommen koordiniert auf Jo zu. Mit dem kurzen Bart und dem anthrazitfarbenen Hemd sah er noch beeindruckender aus als sonst. Also, falls das möglich war. Sie wollte ihn so vieles fragen. Und, Himmel, sie wollte ihn so sehr küssen und ihm dieses Hemd ausziehen und wild sein.

Doch erst einmal tat sie gar nichts, außer atemlos »Hi« zu krächzen und ihn leicht debil anzugrinsen.

»Hi.« Er grinste auch.

Was ist mit dieser Viktoria? Und schlägst du wirklich Leute zusammen? Bevor wir hier irgendwas Intimeres tun als uns anzugucken, muss ich das … Sie umarmte ihn zur Begrüßung, und wo sie gerade dabei war, küsste sie ihn auch gleich auf den Mund.

Er brummte leise und ließ sich auf den Kuss ein, mit Zunge, was ihr zwischen den Beinen kribbelte.

Sie drängte sich ein bisschen an ihn, und er legte seine großen Hände auf ihren Hintern und brachte sie noch näher.

Alva vergaß die Leute, die Party und Viktoria Rasmussen. Das einzig Wichtige war gerade, ihn zu küssen, Jo durch die Haare zu wühlen, seinen Kopf zu sich herunterzuziehen.

Sie hatte keine Ahnung, wie lange der Kuss dauerte, aber irgendwann lösten sie sich voneinander und grinsten sich wieder an.

»Du bist ein bisschen betrunken.«

»Ich bin sehr betrunken.« Vielleicht war es das viele Küssen oder Jos Nähe oder auch die frische Luft, die aus dem Vorraum hereinwehte, aber sie fühlte sich nicht mehr ganz so beschwipst wie vor ein paar Minuten noch. »Und ich muss dich schrecklich viel fragen.«

»Jetzt, oder darf ich erst reinkommen?«

Alva fand es selbst nicht besonders schlau, ihre überdrehten Hormone diese Entscheidung treffen zu lassen, aber sie verflocht ihre Hand mit Jos und zog ihn zur Bar hinüber, wobei sie ihm gerade noch erlaubte, Espen zur Begrüßung zuzuwinken. »Was willst du trinken? Wir haben … alles eigentlich. Moltebeerenschnaps, Gin. Prosecco. Wein, Bier …«

Er neigte sich zu ihr, und sein Atem auf ihrer Haut ließ sie kichern. »Habt ihr auch so was Frivoles wie Himbeersaft?«

»Echt? Himbeersaft?« Seit wann stellte sie derart blöde Fragen?

Doch Jo lachte nur. »An Himbeersaft ist nichts auszusetzen.«

»Höchstens, dass ich dann die einzige Betrunkene von uns beiden bin.«

»Riskiere ich.«

Sie schenkte sich auch ein Glas ein und stieß mit ihm an.

»Auf dich.« Sein Blick hielt ihren fest. »Die schönste und faszinierendste Frau, die Lillehamn zu bieten hat.«

Normalerweise hätte sie bei einem Satz wie diesem mindestens die Augen verdreht, aber Jo sagte es so schlicht und aufrichtig, dass ihr sogar ihre Fragen verloren gingen.

Während sie noch versuchte, in dem Durcheinander von Rhythmen, Lichtern und Prosecco in ihrem Kopf eine Antwort zu finden, fragte er: »Was wolltest du mit mir besprechen?«

»Dass du … ob du … also …« Selbst in ihrem derzeitigen Zustand erkannte sie, dass das, was sie wissen wollte, vermutlich ein ziemlicher Stimmungskiller war. »Tanzen wir?«

»Das wolltest du mit mir besprechen?« Seine Augenbraue wanderte gefühlt bis zum Haaransatz.

»Nein, aber das andere hat Zeit.« Und vielleicht will ich es auch gar nicht zu genau wissen. »Lass uns tanzen.«

Halb erwartete sie, dass er sich zierte, aber stattdessen stellte er sein Glas ab und bot ihr galant den Arm. »Darf ich bitten?«

Jo legte keinen perfekten Gesellschaftstanz hin wie Espen und Svea, die je nach Musik in einem schnellen Walzer über die Tanzfläche wirbelten oder mit heißen Tangoschritten dokumentierten, was sie heute Nacht noch alles vorhatten. Es war vielmehr seine natürliche Körperbeherrschung, die ihn zu einem tollen Tänzer machte. Wobei er vermutlich auch wie eine Holzpuppe hätte tanzen können, und sie wäre hin und weg gewesen. Weil er so unfassbar gut roch und sie so festhielt und weil seine Zunge und ihre Zunge so gut zueinanderpassten und weil … Irgendwann stand sie mit ihm vor der Theke, wo es etwas heller war, und konnte ihn einfach nur noch ansehen.

»Du hast so krasse Augen.«

Prompt senkte er den Blick, und dieses fast Verschämte daran machte ihn nur noch schöner. Als er wieder aufblickte, lächelte er. »Gehen wir ein bisschen raus?«

Die kühle Luft legte sich wie ein Tuch auf Alvas erhitztes Gesicht. Sie fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar, atmete tief ein und legte den Kopf in den Nacken. Über ihr – über ihnen beiden – spannte sich der Himmel riesig und nachtblau auf, das war sogar trotz des Lichtscheins aus den Fenstern zu erkennen. Sie dehnte sich noch ein bisschen nach hinten, stolperte und landete in Jos Armen, diesen warmen, festen, sicheren Armen. Er legte sie von hinten um ihre Schultern, und sie schmiegte sich an ihn. »Wenn wir dahinten um die Hausecke gehen, ist es ganz dunkel, und man kann die Milchstraße sehen.«

»Kriegen wir das so hin?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, ging er los und schob sie vor sich her. Rechtes Bein, linkes Bein – es war nicht schwierig, wenn man einmal den Dreh raushatte.

Hinter dem Haus lehnte er sich an die Wand, und sie lehnte sich an ihn, und sie betrachteten gemeinsam die Sterne, die immer heller wurden, je mehr ihre Augen sich an das Dunkel gewöhnten. Jo war im Gegensatz zu ihr schlau genug gewesen, eine Jacke mitzunehmen, die er jetzt um sie beide legte. Und so stand sie da und spürte seinen Herzschlag an ihrem Rücken und seinen Atem in ihren Haaren mitten zwischen all den Sternen.

»Du hast gesagt, du wolltest mich vieles fragen.«

»Ja.« Und nichts davon war wichtig, und vielleicht wollte sie auch nicht wirklich eine Antwort hören, die diesen Traum hier beenden könnte. »Wer ist Viktoria Rasmussen?«

Er stöhnte und stieß ein kleines Schnauben aus. »Meine Schwester betreut meinen Instagram-Kanal. Ich hab diese blöden Bilder nicht schnell genug gesehen, aber Kjersti wird sie löschen.«

Sogar mit Prosecco und Moltebeerenschnaps im Hirn war Alva klar, dass das keine Antwort auf ihre Frage darstellte. Aber sie konnte sich leider nicht empört losreißen, weil es in seinen Armen einfach zu gut war. »Hast du was mit ihr?« Wahnsinn, jetzt zitterte ihre Stimme, und bestimmt merkte er allein schon am Vibrieren ihres Brustkorbs, dass sie auf einmal Mühe hatte, nicht loszuheulen. Dämlicher Alkohol. »Oder … ist sie deine Freundin, und ich bin bloß …« Mist. Sie blinzelte, als der Sternenhimmel verschwamm.

»Ich hab nichts mit ihr«, sagte er ruhig hinter ihr. Nicht angegriffen, nicht beschwichtigend. »Wir haben vor zwei Jahren oder so ein paarmal miteinander geschlafen. Ich weiß nicht, ob sie das gern wiederholen würde. Interessiert mich auch nicht besonders.« Sein Griff wurde fester, und irgendwo in ihren Haaren landete ein Kuss.

»Sicher?«, flüsterte sie.

»Sehr sicher.«

Logisch!, höhnte die Verletzung in ihr, die Magnus geschlagen hatte. Und das glaubst du, Naivchen? Willst du dich am besten gleich wieder verarschen lassen?

»Was ist mit den Bildern? Die sahen ziemlich so aus, als hättet ihr was miteinander.«

»Es ist bloß ein Instagram-Account. Ich muss dir als studierter Frau vermutlich nicht den Unterschied zwischen Schein und Sein erklären.« Er fasste sie an den Schultern, und sie ließ sich von ihm umdrehen, auch wenn ihr Rücken gegen die plötzliche Kälte protestierte. »Die einzige Frau, die mich seit Wochen interessiert, steht vor mir. Wenn du willst, gebe ich dir Viktorias Kontaktdaten, aber ich hoffe, du glaubst mir einfach.« Er grinste schief. »Irgendwie finde ich das romantischer.«

»Ich versuch’s, okay?« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. »Wenn du diese Jacke wieder um mich legst.«

»Das genügt mir.« Aber selbst im Dunkeln erkannte sie, dass es hinter seinem Gesicht arbeitete.

Sie trat einen Schritt nach vorn, barg das Gesicht an seinem Schlüsselbein und schob die Arme unter seine Jacke. »Ich hab meinen Brüdern gesagt, ich will mit dir fahren.«

»Du hast …« Er drückte sie fest an sich, und jetzt war es sein Brustkorb, der unter mühsam kontrolliertem Atem zitterte. »Das …«

»Sie fanden’s scheiße, vor allem Kris. Aber es ist mein Leben. Also, wenn du willst, würde ich mitkommen. Zumindest das erste Stück.« Die Magnus-Verletzung in ihrem Inneren johlte. Wolltest du ihn nicht vorher noch was Essenzielles fragen?

»Ich … wow. Und das, obwohl du bis eben gedacht hast, ich hätte was mit Viktoria am Laufen?«

»Ich hatte beschlossen, dass es an der Zeit ist, mich um mich selbst zu kümmern. Und da ich dich bekanntermaßen scharf finde und außerdem noch nie Orcas gesehen habe …« Sie hob den Kopf und küsste ihn.

»Du bist betrunken unglaublich entzückend, aber ich warte mit dem Freudensprung, bis du wieder nüchtern bist.«

»Oder du betrinkst dich einfach auch.«

Er schüttelte den Kopf. »Nur in Ausnahmefällen.«

Als sie wieder die Scheune betraten, war es noch lauter, voller und wärmer als vorher. Jedenfalls kam es Alva so vor. »Ich brauche mehr zu trinken.«

»Wenn du willst, hole ich dir was.«

Sie strahlte ihn an. Es war so leicht, ihm einfach zu vertrauen. »Prosecco, bitte.«

Zweifelnd sah er sie an.

Sie schnitt ihm eine Grimasse. »Und Himbeersaft.«

»Hey, Alva!« Ingrid aus der Grundschule winkte zwischen Tilda und ihrem Mann hindurch. Wen um Himmels willen hatte Espen noch alles eingeladen?

Sie winkte zurück. »Komme gleich zu dir rüber!«

»Von wegen, du hast keine Freunde. Hier ist alles voll davon.«

»Die meisten sind Espens Freunde. Der tollste Mann allerdings ist meinetwegen hier.«

»Das weiß ich nicht, ob der so toll ist.«

»Ist er.« Allein schon weil sie wollte, dass er es war. »Wenn er mir noch einen Prosecco organisiert, sogar noch toller.«

»Die Chance lasse ich mir nicht entgehen.« Doch anstatt sofort Ingrid zu suchen, starrte Alva Jo auf den – ziemlich hübschen, runden, trainierten – Hintern. Sie hätte sehr gern ihre Hände darumgelegt und ertastet, wie er sich ohne Hose anfühlte. Sie sollte das vielleicht erforschen, bevor sie mit ihm lossegelte.

Er brachte Prosecco und Himbeersaft, sie tanzten, dann musste sie mit Tilda und ihrem Moltebeerenschnaps anstoßen und danach mit ihrem Vater. Sie brauchte eine Pause. Und sie musste aufs Klo.

In Espens Bad war es grausam hell, und der Fußboden wippte komisch. Himmel, sie sollte es dringend machen wie Jo und auf Himbeersaft umsteigen. Apropos Jo … bei dem Gedanken an seinen Hintern und das, was sich sonst noch so in seiner Hose verbarg, wurde ihr noch wärmer als ohnehin schon.

Sie öffnete den Badezimmerschrank. Zahnpasta, Zahnseide, Nagelschere … wo zum Geier waren die Kondome? Sie konnte ja schlecht ins Schlafzimmer gehen und im Nachtschrank herumwühlen. Und Espen mit seiner Panik vor Schwangerschaften hatte unter Garantie eine Großpackung irgendwo herumfliegen …

Als sie sich hinhockte, um in der untersten Schublade zu gucken, verlor sie das Gleichgewicht und landete auf dem Hintern. Nicht elegant. Aber da war das, was sie suchte. Sicherheitshalber nahm sie gleich zwei und ließ sie in ihrem BH zwischen ihren Brüsten verschwinden. Geheimagentin Alva Solberg, die Meisterin der unauffälligen Verstecke. Blöderweise gerade nicht die Meisterin der graziösen Bewegungen. Aber es sah ja niemand zu.

Sie nahm noch einen Schluck Wasser aus dem Hahn und ging zurück. Pulsierende Bässe, zuckende Lichtblitze und ungefähr eine Million von Espens Freunden. Wo war Jo? Sie fand ihn an der Bar mit Krister.

»Schwesterchen!« Krister kippte einen Shot hinunter. »Weißt du nicht, wie spät es ist?«

»Es ist …«

»Gleich zwölf, genau.« Ohne ein weiteres Wort ließ er Jo und sie stehen und stieg auf das Podest, wo er die Arme hob wie ein Dirigent. »Zehn!«

Die meisten Gäste begriffen schneller als Alva, worum es ging, und stimmten ein. »Neun! Acht! Sieben!«

Ein bisschen hallten die Worte in Alvas Kopf, aber vor allem machten sie etwas Merkwürdiges in ihrem Herzen.

»Drei! Zwei! Eins!« Wieder hob Kris die Arme, ein Knall ertönte, und dann segelte Konfetti durch den Raum, und rings um Alva fingen alle an zu singen, laut und falsch und begeistert. Sogar Jo. »Happy birthday to you, happy birthday to you! Happy birthday, liebe Alva und Espen« – hier gab es ein kleines Durcheinander – »happy birthday to you.«

Etwas verspätet stellte Alva fest, dass sie heulte. Diese Menschen hier waren für sie gekommen. Und sie sangen für sie. Mit den Blicken suchte sie nach Espen. Ihr Vater hatte ihn in eine harte Umarmung gezogen und klopfte ihm wieder und wieder auf den Rücken.

»Auf die nächsten dreißig!«, brüllte jemand.

»Auf die nächsten dreißig!«, kam das vielstimmige Echo.

Espens Blick über der Schulter ihres Vaters fand ihren. Sie reckte den Daumen und nickte ihm zu. Ein bisschen grimmig möglicherweise, aber er lächelte. Sie lächelte zurück, aber dann wurde sie abgelenkt, weil Jo direkt an ihrem Ohr flüsterte und sie das überall im Körper spürte. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Alva. Danke für die Einladung.«

Sie ließ sich nach hinten gegen seinen Brustkorb sinken und hob ihm das Gesicht entgegen. »Hast du Spaß?«

»Ja, so viel wie seit sehr langer Zeit nicht.« Er küsste sie auf den Mund und dann auf die empfindliche Stelle unter dem Ohr. »Was, sagtest du, wünschst du dir zum Geburtstag?«