Achtzehn

Tatsache Nummer eins: Es war hell im Zimmer.

Tatsache Nummer zwei: Sie brauchte Wasser und eine Kopfschmerztablette.

Tatsache Nummer … o mein Gott. Sie war nackt. Also, ganz und gar nackt. Und Jos Schulter, auf der ihre Wange lag und auf die sie hoffentlich nicht im Schlaf gesabbert hatte, war auch nackt. Der ganze Jo war … nein. Das da an ihrem Oberschenkel war Stoff. Eine Boxershorts. Seine Boxershorts, in denen sich ziemlich deutlich … Sie zog die Hand zurück.

Vorsichtig hob sie den Kopf, um Jo nicht aufzuwecken, und glitt unter der Decke hervor.

»Bleib hier.«

Oh. »Nur schnell ins Bad«, flüsterte sie.

»Kommst du wieder?«, nuschelte er.

»Ja.« Sicher. Logisch. Sobald ich damit klargekommen bin, dass ich wohl doch mehr getrunken habe, als ich dachte.

Alva passte auf, dass sie nicht über die vor dem Bett verteilten Kleidungsstücke stolperte, und floh ins Bad. Kaltes Wasser, sie brauchte kaltes Wasser. Nachdem sie sich drei Hände voll ins Gesicht geschaufelt hatte, ließ sie es über die Unterarme rinnen und starrte sich grinsend im Spiegel an. »Himmel, siehst du übel aus.«

Ihr Spiegelbild zuckte die Schultern.

Was gestern noch ein kläglicher Versuch von Smokey Eyes gewesen war, würde inzwischen Draculas Tochter Ehre machen. Hatte Dracula eine Tochter? Egal. Bestandsaufnahme, Teil zwei. Ja, sie war betrunken gewesen. Aber nicht so schlimm, dass sie sich nicht daran erinnern konnte, wie Jo und sie im Flur herumgeknutscht hatten. Und wie sie ins Schlafzimmer gestolpert waren und wie Jo ihr das Kleid ausgezogen und sie sein Hemd aufgeknöpft hatte. Und wie seine Hände sich auf ihren Brüsten angefühlt hatten, während sie auf ihm saß, wusste sie auch noch sehr genau. Also würde sie sich auch dran erinnern, wenn sie mit ihm geschlafen hätte. Wenigstens etwas.

Als sie zurück ins Schlafzimmer kam, lag Jo auf der Seite, den Kopf in die Hand gestützt wie in Sirdal, und sah ihr lächelnd entgegen. Auf einmal war ihr ziemlich deutlich bewusst, dass sie immer noch nichts anhatte. Auch wenn er sie schon nackt gesehen hatte, war es beunruhigend, so im hellen Tageslicht vollkommen ohne Deckung zu sein. Sie musste sich anstrengen, die Arme nicht vor der Brust zu verschränken. Aber gleichzeitig fand sie es auch erregend. War sie vorher schon einmal nackt auf jemanden zugegangen, der im Bett auf sie wartete?

Das Zimmer war nicht groß, trotzdem kam ihr der Weg zum Bett weit vor. Jos hochkonzentrierter Blick hielt ihren fest, als sie Schritt für Schritt auf ihn zuging. Seine Augen wirkten dunkler als sonst, und seine Unterlippe war feucht. Wie hypnotisiert betrachtete sie seine Zungenspitze, die daran entlangstrich, und ihre Scham pochte.

Sie schlüpfte wieder unter die Decke, ganz nah zu ihm. Sie brauchten keinen Übergang – es war klar, was sie beide in diesem Moment wollten.

Wie gut, dass sie Espen heute Nacht diese Kondome … »Ach du Scheiße. Wie spät ist es?«

»Gleich –«

Aber Alva krabbelte schon über Jos Oberkörper und angelte nach ihrem Smartphone auf dem Nachttisch. Wer war auf die vollkommen unsinnige Idee verfallen, sich nach dieser Party zum Brunch zu treffen? Vermutlich wieder mal sie selbst. Aber da hatte sie noch nicht geahnt, dass Jo jetzt bei ihr sein würde. »Wie kann man so blöd sein, sag mal? Wir müssen aufstehen, meine Familie ist in zehn Minuten hier.«

»Warte.« Irgendwie schaffte er es, sie beide so umzudrehen, dass sein Gesicht über ihrem war. Sie mochte es, seinen muskelbepackten Körper auf sich zu spüren. Sehr zart küsste er sie. »Ich würde das gern demnächst fortsetzen.«

»Vielleicht ergibt sich ja die Gelegenheit, irgendwo zwischen hier und Ålesund.«

Er drückte sich hoch; sein Becken lag noch auf ihrem, aber das Gesicht war so weit weg, dass er sie nachdenklich mustern konnte. »Du meintest das letzte Nacht also wirklich ernst.«

»Ja.«

Verwundert schüttelte er den Kopf. »Alles hier einfach pausieren? Deine Patienten, die Robbenstation … für … mich?«

»Nein, weil ich segeln will.« Sie versuchte, sich unter ihm herauszuzappeln. »Du wirst mir zu schwer.«

Er hob das Becken und gab sie frei. Immer noch lag dieser verblüffte Blick in seinen Augen.

»Was? Blaues Nordmeer, Orcas, türkisfarbene Strände. Weißt du noch? Du hast mich damit geködert.«

»Das weiß ich noch. Ich hätte nur nie geglaubt, dass du es ernsthaft in Betracht ziehen könntest.«

»Warum nicht?« Sie sagte es leicht dahin, aber in Wirklichkeit war sie sich ihrer Sache längst nicht so sicher. »Es sei denn, du willst mich doch nicht dabeihaben.«

»Doch«, sagte er langsam. »Das will ich. Das will ich sehr.« Er lachte ein bisschen hilflos. »Ich verstehe nur nicht, warum du …«

»Du kannst nicht hierbleiben, weil du diesen Vertrag hast, oder? Und wir wollen mehr Zeit miteinander haben. Was soll Schlimmes passieren, außer dass wir uns blöd finden und ich in Trondheim in den Zug steige?«

»Aber du hast hier deine Freunde. Deine Familie. Deine Praxis.«

Sie seufzte. »Ja, die ist tatsächlich ein Problem, für das ich noch keine Lösung habe. Und ich habe wahnsinnig Angst davor, mich deswegen richtig mit meinen Brüdern in die Wolle zu kriegen, aber … hey.« Ihr Lächeln geriet wohl nicht ganz überzeugt. »Es ist mein Leben.«

»Ich will nicht, dass du meinetwegen –«

Sie hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Vor dem Haus klappte eine Autotür. Verflixte Elektroautos, die man nicht kommen hörte! »Apropos Brüder.« Schnell sprang sie aus dem Bett. »Ich hab nicht mal Kaffee gekocht.«

Im Flur waren Stimmen zu hören. Vielleicht sollte sie sich dieser Tage doch angewöhnen, die Haustür abzuschließen.

»Alva?«

»Komme!«

»Jetzt und hier?«, flüsterte Jo.

»Blödmann.« So leise klang es genauso zärtlich, wie sie es meinte. »Los, zieh dich an.« Sie warf ihm seine Hose, T-Shirt und Socken zu.

»Wem gehören denn die Schuhe hier?«, rief Espen im Flur. »Ich dachte, hier gibt es Frühstück!«, und Krister setzte nach: »Kaffee ist im Schrank, oder?«

Alva küsste Jo auf den Mund – und dann noch mal –, bevor sie irgendein T-Shirt von dem Stapel auf dem Stuhl überzog. Wo war die Hose von dem Pyjama-Shorty? Gleichzeitig die Hose anzuziehen und zur Tür zu hüpfen funktionierte nicht besonders gut. Sie musste sich an der Wand festhalten, um nicht umzufallen. »Kommst du gleich nach? Ich meine, ich weiß, es ist ein bisschen komisch, aber du hast die eh alle gestern schon getroffen und …«

Ein eigenartiger Ausdruck schlich sich auf sein Gesicht. »Ich muss dringend zu Wilma.«

»Es ist dir zu offiziell, oder?«

»Auch das. Aber Wilma hat inzwischen vermutlich wirklich das Boot zerlegt.«

Ihre Familie hatte sich bereits fast vollständig um den Frühstückstisch versammelt, als Alva mit Jo hinter sich aus dem Schlafzimmer kam. Ihre Brüder blickten ihr – höchst interessiert – entgegen, Svea saß neben Espen am Kopfende und Annik und Theo mit dem Rücken zu ihr. Wenigstens waren ihre Eltern noch nicht da.

Alva versuchte sich zu erinnern, wie sie an einem normalen Morgen geguckt hätte, was sie gesagt, wie sie sich bewegt hätte. Das Problem war nur: Es gab keinen Präzedenzfall. An einem normalen Morgen war Alva Solberg nicht die, die ihre Gäste warten ließ, weil sie sich nicht von dem schönen Mann in ihrem Bett trennen konnte. An einem normalen Morgen hätte sie ihnen vielleicht ein bisschen zerzaust die Tür geöffnet und sie hereingebeten. »Guten Morgen, macht es euch bequem, ich will nur schnell duschen.« Vielleicht hätte sie in die Runde gelächelt.

Alva lächelte in die Runde. »Hi. Schön, dass ihr da seid.«

»Dito.« Espen grinste so breit, dass es verboten werden sollte. »Wenn auch natürlich leicht verspätet.«

»Aber das kommt ja in den besten Familien vor«, fügte Krister mit einem grimmigen Unterton hinzu. Alva konnte es Jo keine Sekunde verdenken, dass er mit diesen Typen nicht frühstücken wollte.

Annik half Theo dabei, sein Brot zu bestreichen, aber der interessierte sich ebenfalls mehr dafür, dass ein fremder Mann im Zimmer stand. Wenigstens sagte er nichts.

Dafür lehnte Espen sich jetzt interessiert nach vorn. »Was ist ’n das für ein Fleck, den du da am Hals hast?«

Svea stöhnte auf. »Ehrlich, Jungs, sind wir hier im Kindergarten?« Sie drehte sich um. »Guten Morgen, Alva. Hallo, Jo.« Ihr Nicken ihm gegenüber fiel knapp aus, und sie musterte Alva einen Moment zu lange und zu prüfend. Dann kam sie anscheinend zu einem Entschluss, denn ein helles Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Wir haben wohl einen Stuhl zu wenig.«

»Mein Hund wartet, ich muss nach Hause«, sagte Jo freundlich.

»Ich bring dich zur Tür.«

Jo nickte noch einmal in die Runde, dann schob Alva ihn fast aus dem Zimmer.

Sie stand neben ihm, während er seine Schuhe band. »Tut mir leid wegen der Idioten da drin.«

»Kein Problem. Da habe ich schon ganz andere Sachen erlebt. Ich mag deine Brüder.«

So sehr wünschte sie sich, sie könnte von ihren Brüdern aus vollem Herzen das Gleiche behaupten. Aber Krister schien – mit welchem Recht auch immer – bei seiner Meinung geblieben zu sein, dass Jo nicht zu ihr passte. Und Svea mit ihrer Geschichte … Natürlich würde sie Espen davon erzählen. Als hätte irgendeiner von denen ein Mitspracherecht über ihr Leben.

Sie blickte Jo nach, bis er sich an der Straßenecke zu ihr umdrehte. Dann küsste sie ihre Fingerspitzen und ließ den Kuss zu ihm schweben.

Er sprang hoch und fing ihn aus der Luft, torkelte ein bisschen, als wäre der Aufprall zu heftig gewesen, und fing sich grinsend wieder, bevor er die Hand an die Lippen führte.

Alva drückte die Schultern nach hinten und ging zurück zu den anderen. »Seid ihr fertig mit der Pubertät? Kann ich mich dazusetzen?«

»Ein Stuhl wäre neben Svea noch frei«, sagte Espen hilfsbereit.

Alva verengte die Augen zu bösen Schlitzen. »Du geh doch nach Hause.«

»Willst du Kaffee?«

»Ja, bitte.«

Doch es war Annik, die die Thermoskanne rüberreichte.

»Danke«, sagte Alva.

Sie schenkte sich ein.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches warfen ihre Brüder sich einen Blick zu. Espen räusperte sich. »Lillesør?«

Alva verkniff sich ihre übliche Bemerkung, dass wenn, dann er der Kleinere von ihnen beiden war. Sie pustete vorsichtig in die Tasse und ließ den Kaffeedampf über ihr Gesicht streichen. »Ich vergebe euch den Mist von eben großmütig, wenn mir mal jemand die Lefser gibt.«

»Wir haben uns was überlegt«, sagte Krister.

Svea … Alva konnte nicht einmal wirklich sagen, was es war, vielleicht nur irgendetwas in der Art, wie Svea Luft holte, aber sie war sich sicher, ihre Freundin stimmte nur begrenzt mit Kris überein.

Annik reichte ihr den Teller mit den dünnen Fladenbroten.

»Danke. Was habt ihr euch überlegt?«

Wieder dieser Blickwechsel zwischen ihren Brüdern. Am Ende war es Annik, die sprach. »Krister war einigermaßen erschüttert, als du ihn Freitagabend so angebrüllt hast.«

Sollte sie dafür etwa um Verzeihung bitten? Dafür waren ihre Synapsen heute Morgen definitiv zu langsam. »Er kann das vertragen«, sagte sie stattdessen.

»Ich glaube, dieses Dreißigwerden tut dir nicht gut, Schwesterchen.«

Sie neigte sich nach vorn und schenkte ihm ein Lächeln. »Warte mal ab, großer Bruder. Ich fange erst an.«

»Jedenfalls«, sagte Espen friedfertig, »haben wir lange geredet, nachdem du wutentbrannt nach Hause gegangen bist. Ziemlich lange. Kris war echt richtig fertig.« Krister räusperte sich, aber Espen ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Du hast recht, weißt du? Du bist wirklich immer für alle da. Und wir … würden uns gern revanchieren.«

Alva sah verständnislos von einem zum anderen. Ganz vorsichtig flackerte ein Hoffnungsfunke irgendwo sehr tief in ihrem Inneren.

»Deswegen haben wir zusammengelegt und dir einen Kinogutschein gekauft. Zum Dreißigsten.« Kristers Gesicht war vollkommen unlesbar.

Alva schluckte.

Kristers Mundwinkel zuckte den Bruchteil eines Millimeters. Espens Nasenlöcher waren geweitet, seine Schultern bebten vor unterdrücktem Lachen.

Und Alva hatte keine Ahnung, was hier gespielt wurde. »Läuft was Gutes im Kino?«

Svea zupfte schweigend an einem Salatblatt.

Annik seufzte. »Was die Kindsköpfe da drüben dir eigentlich sagen wollen, ist: Wir finden eine Lösung für die Praxis, falls dir das ernst ist und du mit Jo segeln gehen willst.«

Falls dir das ernst ist. Sich etwas zu wünschen, von etwas zu träumen – das war das eine. Und jetzt saßen sie hier, ihre liebsten Menschen, und überreichten ihr die Erfüllung dieses Wunschs, einfach so. Wilde Freude, wilde Panik, Übermüdung, Verliebtheit, Unsicherheit – alles kochte in Alvas Innerem hoch und kam als komische Mischung zwischen Lachen und Weinen heraus. »Es ist mir ernst. Ich freu mich wie wahnsinnig. Auf so vielen Ebenen.«

»Gut«, sagte Krister schlicht, »dann lass uns planen, wie das hinzukriegen ist.«

»Mama, mir ist langweilig«, sagte Theo auf Deutsch.

Annik hob die Schultern. »Ich fürchte, mein Schatz, da musst du jetzt durch. Vielleicht hat Alva was zum Malen für dich?«

»Klar. Im Arbeitszimmer in der zweiten Schublade im Schreibtisch ist Papier.« Alva nickte in die Richtung. »Und Buntstifte auch irgendwo, glaube ich.«

Theo wechselte ins Norwegische zurück. »Kommst du mit, Mama?«

Doch statt Annik schob Svea kratzend ihren Stuhl zurück. »Ich komme mit. Los, gehen wir malen.«

Alva sah den beiden nach. Sie hatte nicht vergessen, was Svea gesagt hatte, und auf einmal wog es schwerer als gestern Nacht oder heute Morgen. Jetzt, da es eben nicht mehr nur ein Traum war, mit Jo zu fahren, sondern eine sehr konkrete Möglichkeit.

»Ich bin die einzige Kinderärztin im Landkreis«, sagte sie langsam.

Krister grinste. Espen grinste.

Sie holte tief Luft. »Und ich müsste neue Segelklamotten kaufen.« Klar, Prioritäten.

»Du bekommst ja schnell kalte Füße.«

»Ich bekomme keine kalten Füße! Ich will nur alle Eventualitäten durchdacht haben. Also, wie machen wir das mit der Praxis? ›Wir schaffen das schon‹ lässt mich nicht ruhigen Gewissens freinehmen.«

»Es hat getaugt, als Kris sich zermatscht hat«, sagte Espen.

Krister schnitt ihm eine Grimasse. »Das war ja auch eher spontan.«

»Ansichtssache.«

»Leute«, sagte Annik lauter, als Alva ihr zugetraut hätte. »Es geht hier gerade ausnahmsweise nicht um euer Herumgezicke, sondern um Alva.«

Ein warmes, helles Gefühl breitete sich in Alvas Brust aus. Sie lächelte Annik an. »Es geht um uns alle. Espen und Svea wollen im Mai Urlaub machen, ihr drei wollt nach Deutschland … und ich sprenge das jetzt alles.«

»Kalte Füße«, sagte Krister sachlich.

Espen rührte überflüssigerweise in seiner Kaffetasse herum. »Eventuell kann ich mich durchringen, mit Madalena zu sprechen.«

»Du wundervollster Zwilling von allen.« Alva wusste, was ihn das kosten würde. Espen gehörte nicht zu denen, die gern zu Kreuze krochen. »Es löst aber unsere unmittelbare Praxisbelegung noch nicht.«

»Frag Papa, vielleicht macht er’s ja wirklich.«

Es klingelte. Weil sie ihre Brüder in diesem Moment entsetzlich lieb hatte, verbiss Alva sich eine spitze Bemerkung darüber, dass einige Menschen in dieser Familie offensichtlich wussten, wie man eine Klingel betätigte.

»Kommt rein!«, rief sie. »Ist offen.«

Doch kurz darauf klingelte es ein zweites Mal.

»Ich geh schon.« Krister stand auf. »Ihr habt Geburtstag.«

 

Alva wusste selbst nicht, warum es ihr so schwerfiel, ihren Vater zu fragen. Vielleicht, weil sie all das Ungewöhnliche dieses Tages – dieses neuen Lebensjahres – erst einmal einordnen musste. Oder einfach, weil sie feige war.

Eine Stunde später hatte sich ihre gesättigte, lärmende Familie im Wohnzimmer verteilt. Ihr Vater und Mariana saßen auf dem Sofa, auf dessen Lehne Theo herumturnte. Krister hatte sich wieder einmal auf dem Teppich ausgestreckt. Annik und Svea hatten darauf bestanden, die Küche allein aufzuräumen. Espen verteilte Prosecco und Sanddornschorle.

»O Gott.« Alva hob abwehrend die Hand. »Nie wieder Alkohol.« Sie war zu unruhig, um sich hinzusetzen, und trug stattdessen die letzten beiden Teller in die Küche, wo Annik gerade die Spülmaschine zuklappte.

»Das war’s.«

»Die beiden Teller noch.«

Sobald Annik die Küche verlassen hatte, sagte Svea: »Dir ist das wirklich ernst mit Jo, oder?«

Alva lehnte sich an den Tresen. »Ich will’s zumindest ausprobieren. In den Zug steigen kann ich immer noch.«

»Hast du ihn gefragt wegen … du weißt schon?«

»Noch nicht.«

»Aber du bist dir sicher, dass das nicht nur eine Kurzschlussreaktion ist, weil du Torschlusspanik hast oder so was, ja?«

Alva nickte.

»Sag Bescheid, wenn du reden willst.«

»Klar.«

Als sie gemeinsam ins Wohnzimmer zurückkehrten, sah der Rest der Familie ihnen bereits entgegen.

Mariana fing Theo ein und legte den Arm um ihn. »Pssst. Heute feiern Alva und Espen Geburtstag. Knut hält eine Rede.«

Alva setzte sich neben Krister auf den Boden, und ihr Vater hob sein Glas. »Liebe Alva.« Während ein Teil ihres Bewusstseins noch die Leerstelle füllte – schließlich musste es »Liebe Alva, lieber Espen« heißen – sprach er schon weiter. »Vielen Dank, dass wir heute Morgen hier sein und weiter mit euch feiern können. Deine Brüder«, Krister und Espen sahen sich an, »haben mich gefragt, ob ich für eine Weile in der Praxis einspringen könnte.«

Er sah sie über sein Glas hinweg an, und sie fühlte sich auf einmal sehr jung.

»Und ich … habe Ja gesagt.«

»Papa!«

Aber bevor sie aufstehen und ihn umarmen konnte, räusperte er sich. Waren das Tränen, die da in seinen Augen glitzerten? »Als ich über die Praxis sinniert habe, über euch drei, über das, was ihr mir bedeutet …« Seine Stimme zitterte tatsächlich, dann drückte er die Schultern zurück und sah ihr ins Gesicht. »Da ist mir aufgefallen, dass ich kaum etwas über dich weiß. Du hältst so selbstverständlich alles zusammen, ich habe in den letzten Jahren furchtbar wenig darüber nachgedacht, was dich wohl beschäftigt und was du brauchst. Ich werde deswegen noch viele Nächte schlecht schlafen, aber auf jeden Fall möchte ich dich deswegen um Verzeihung bitten.«

Alva starrte ihn an, das faltig gewordene Gesicht mit dem hellgrauen Dreitagebart, das kantige Kinn, das auf einmal gar nicht mehr entschlossen vorgereckt wirkte. Der Blick ihres Vaters war weich und bittend, und ganz tief in ihr löste sich etwas. »Da ist nichts zu verzeihen«, sagte sie leise.

»Dreißig Jahre, Alva«, sagte er rau. »Dreißig Jahre, in denen ich so viel verpasst habe, weil du dich nie in den Vordergrund gedrängt hast.« Er presste die Lippen zusammen. »Ich würde sagen, das ist eine ganze Menge.«

Das, was sich gelöst hatte, drückte ihr jetzt in der Kehle. »Du bist ein toller Vater. Du hast alles getan, was du konntest.«

»Ich habe dich viel zu wenig gesehen, Alva. Ich habe dir viel zu selten gesagt, wie sehr ich dich liebe und wie stolz ich auf dich bin.«

»Doch, hast du. Gerade gestern Abend.« Es kam quietschig heraus. Sie biss sich auf die Lippen.

»Nur als Zwillingspaket, aber nicht allein. Dabei bin ich das, Alva. Ich bin verdammt stolz auf all das, was du geleistet hast. Auf die tolle Frau, die du geworden bist, wozu ich viel zu wenig beigetragen habe. Du hast das alles ganz allein geschafft. Und ich habe dich unsagbar lieb.«

Jetzt heulte sie. Durch die Tränen sah sie ihren Vater an, dann stellte sie ihr Glas ab, stand auf und umarmte ihn. »Ich hab dich auch lieb, Papa.«

»Verzeihst du mir?«

Sie lachte und weinte gleichzeitig. »Natürlich.«

»Dann stößt du mit mir an?«

»Ja.«

»Dich in der Praxis zu vertreten ist das Mindeste, was ich tun kann.«

Das Geständnis ihres Vaters ließ sie weich, offen und schutzlos zurück. Und erschöpft. Wobei das möglicherweise auch Nachwirkungen der letzten Nacht waren.

Sie saß einfach nur im Schneidersitz in ihrer Ecke des Sofas und tat gar nichts, außer sich an ihrer Teetasse festzuhalten und Teil ihrer Familie zu sein. Espen, Krister, Mariana und Annik fingen irgendwann an, Poker zu spielen, und ihr Vater setzte sich tatsächlich mit Theo auf den Teppich und zeichnete mit ihm Meerestiere.

Orcas in tiefblauem Nordmeer.