Neunzehn

Es musste ein Traum sein, denn nur in einem Traum hätte Jo sich je so gefühlt. So erschöpft und schwebend und gleichzeitig absolut stabil, erfüllt und angekommen. Die Farben von Lillehamn kamen ihm noch bunter vor als sonst, die Luft noch klarer. Alles war deutlich, klar, bunt und gut. So unfassbar gut und ziemlich unwirklich.

Vor ein paar Wochen hatte er Alva noch nicht einmal gekannt – und jetzt wollte sie mit ihm die Küste hochfahren. Er ertappte sich dabei, selig vor sich hin zu grinsen und Alvas Namen zu sagen. Wilma, die ihm nicht vom Hosenbein wich, sah ihn fragend an. »Sorry, ich meinte nicht dich.« Er meinte gar niemanden, er wollte nur einfach diesen Namen aussprechen.

»Gib’s zu, Alter, du bist in sie verknallt«, hätte Zayed gesagt.

Und Aki hätte lässig mit den Schultern gezuckt, weil es in Akis Welt nicht wichtig war. Nicht mal bei Sanna damals, wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war. In Jos Welt aber spielte es eine Rolle. Er atmete die Frühlingsluft ein und ließ die Schultern kreisen.

Am Strand zog er die Schuhe aus und krempelte die Hosenbeine hoch. Vermutlich war das Wasser noch eisig, trotzdem wollte er es auf der Haut spüren. Wie den Wasserfall, den Alva ihm gezeigt hatte. Und es war nicht so, als hätte er nicht jahrelange Übung darin, körperliche Schmerzen zu ignorieren.

Aber die Wellen taten nur im ersten Moment weh, in dem sie seine Füße trafen. Ob man sogar bald baden oder zumindest eintauchen gehen konnte? Eine Minute lang?

Er schloss die Augen und spürte die Sonne auf den Lidern. Seine Füße sanken langsam in den rauen Sand, und seine Knöchel wurden immer wieder vom kalten Fjordwasser umspült. Wie konnte Alva ihr Leben hier aufgeben – für ihn? Wie konnte er das von ihr verlangen?

Natürlich, streng genommen hatte er überhaupt nichts verlangt, sondern sie hatte es angeboten. Und es waren bloß ein paar Monate. Trotzdem. Warum? Er war nicht mehr Aki Lundahl, er war bloß noch Jo, der keine Ahnung hatte, was er mit seinem Leben tun sollte.

Er spürte seine Füße kaum noch. Sie waren rot, als er sie nacheinander wieder aus dem Sand zog und sich in Bewegung setzte, um wieder warm zu werden. Wilma, die an einem Stock geknabbert hatte, rannte begeistert neben ihm her. Nachdem er dreimal am Strand hin- und hergelaufen war, klebten ihm die Jeans zwar immer noch bis zum Oberschenkel nass an den Beinen, aber immerhin war er wieder warm. Sein Kopf aber war immer noch gefüllt mit dieser eigenartigen Mischung aus Seligkeit und Zweifel.

Alva wollte mit ihm zusammen sein.

Das war gut – auch wenn er es nicht verstand.

»Jo?«

Jo drehte sich um und strich instinktiv die Jacke glatt, als er Per, den Hafenmeister erkannte. Er hatte bisher nur einmal bei seiner Ankunft mit ihm gesprochen, und wenn er ihn zufällig beim Einkaufen traf, nickten sie sich zu. Dass Per gezielt zu ihm kam, war mehr als ungewöhnlich. »Hallo, Per.«

»Kann ich kurz mit dir reden?« Pers Blick fiel auf Wilma, und einen irrwitzigen Moment lang dachte Jo, er würde gleich sagen, dass Hundehaltung im Hafen leider verboten sei.

»Sicher«, antwortete er leicht verzögert.

»Wir wollen nächste Woche anfangen, die Boote wieder ins Wasser zu setzen. Kann sein, dass du die FYF dann auch mit dem Bug zum Steg hinlegen musst. Geht das mit dem Hund?«

Verflucht, darüber hatte er noch nicht nachgedacht. Sein Bugeinstieg war einigermaßen breit, aber trotzdem bezweifelte er, dass Wilma mal eben lässig darüber aufs Boot springen würde. »Ich habe eine Woche Zeit, das mit ihr zu üben, sagst du?«

»Richtig.«

Jo sah Wilma an, die vollkommen desinteressiert aufs Meer blickte, und fühlte sich trotzdem ein bisschen, als würde er vor einem wichtigen Spiel seine Teamkameraden abklatschen. Es war eine Herausforderung, und sein Team und er würden sie bestehen.

Und wo sie schon beim Thema Herausforderung waren und das Wetter so gut – wie wäre es mit einem kleinen Probetörn mit Hund: einmal raus aufs Meer und wieder zurück?

Als Wilma und er sicher an Bord waren, schloss er das erste Mal die Reling, schrieb Alva eine Nachricht und machte sich daran, die Segel auszupacken.

 

Wilma hatte zwar verunsichert gewirkt, aber nach einer Weile beinahe entspannt zu seinen Füßen im Heck der Jacht gelegen, während die FYF durch die Wellen pflügte. Nur Wenden war schwierig, weil sie sich jedes Mal aufsetzte, wenn er sich an den Winschen zu schaffen machte, und er sich ohnehin schon konzentrieren musste, um alles zu koordinieren, auch ohne dass er dabei über einen Hund stolperte. Aber alles in allem war er ziemlich zufrieden damit, wie dieser erste Versuch gelaufen war.

Jetzt musste er Wilma nur noch irgendwie beibringen, über den Bug ein- und auszusteigen. Und er sollte eine Hundeschwimmweste besorgen.

Als Lillehamn im Spätnachmittagslicht vor ihm lag, ertappte er sich bei einem Lächeln, und je näher die bunten Häuser kamen, desto breiter wurde es. So weit war es also schon gekommen. Dieser winzige Ort, den er vor einem Jahr nicht einmal gekannt hatte, fühlte sich an wie ein Zuhause. Ein Zuhause, in dem Alva wartete.

Wilma setzte sich auf und schnupperte in den Wind, als Jo die Segel justierte und Kurs auf den Hafen nahm. »Na, riechst du, dass wir gleich da sind?«

Sie reckte die Schnauze noch ein Stück höher.

»Ich freue mich auch.«

Was für ein wahnsinniger Tag. Was für ein überhaupt wahnsinniges Leben! Er hatte gearbeitet – nicht richtig zwar, aber immerhin wieder etwas Sinnvolles getan –, er war auf eine Party gegangen, und er hatte einen Segeltörn gemacht, bei dem weder das Boot gekentert noch der Hund panisch über Bord gesprungen war. Und vor allem war er nicht nur heute neben Alva aufgewacht, sondern er würde es wochenlang tun. Und dann würde sie niemand unterbrechen, der zum Brunch kam. Die Erinnerung an ihre Nacht in der Hütte spürte er im ganzen Körper. Alvas Brüste in seinen Händen, ihr warmer, weicher Körper unter seinem, ihre Beine, die sich für ihn öffneten … Er sollte sich aufs Anlegen konzentrieren, statt sich feuchten Fantasien hinzugeben.

Kaum war das Boot vertäut, sprang Wilma schon mit einem Satz auf den Steg. Sie war eindeutig kein großer Segelfan. »Warte. Ich brauche trockene Klamotten.« Vor dem Lossegeln hatte er sich nicht die Mühe gemacht, außer der Jacke vernünftige Segelkleidung anzuziehen, da seine Jeans ohnehin von dem Strandspaziergang nass gewesen war. An der Stelle bestand auch Verbesserungsbedarf.

Er lockte die Hündin wieder in die Kajüte und schloss die Luke. Als er das Smartphone aus der Tasche zog, blinkte es.

 

Mein Vater vertritt mich in der Praxis. Und Krister bei den Robben – so erstaunlich das ist.

 

Die Vorstellung wurde konkret. Mitsamt seiner nassen Hosenbeine ließ Jo sich neben Wilma auf den Boden rutschen und versuchte, seine Gefühle zu sortieren. Er war darin nicht besonders gut, auch wenn ihm die letzten Monate einiges beigebracht hatten.

Wilma stupste ihn auffordernd an, und Jo kraulte sie mit der rechten Hand hinter dem Ohr. Mit der linken tippte er vier Buchstaben.

 

Okay.

 

Gut, das hörte sich jetzt nicht eben enthusiastisch an. Dabei war er das, oder? Er freute sich, dass Alva mitfahren wollte? Wie würde es sein, auf einmal diesen kleinen Raum mit jemandem zu teilen? Er hatte schon auf engem Raum mit Menschen zusammengelebt. Aber nicht mit einer Frau, die er kaum kannte – und die vor allem ihn kaum kannte. Er würde sich Mühe geben müssen, verdammt viel Mühe.

 

Willst du vorbeikommen?

 

Trotz des Kraulens wurde Wilma unruhig. Wahrscheinlich hatte sie Hunger. Er stand steifbeinig auf und holte ihr Futter aus dem Schrank.

Alva antwortete nicht, und erst nachmittags fiel ihm auf, dass es Sonntag war und sie Dienst bei den Robben hatte. Auch die Robben würde sie eine ganze Weile nicht sehen. Er hoffte nur, dass sie es nicht bereuen würde.

 

Heute nicht. Bin todmüde. Im Moment ist alles sehr überwältigend.

 

»Das kannst du wohl laut sagen«, murmelte er und ließ sich aufs Bett fallen. »Das kannst du wohl laut sagen.«

»Dann kannst du ja gar nicht mitkommen, um Hope auszuwildern«, sagte Nina.

»Nein.« Vieles, auf das Alva sich gefreut hatte, würde sie nicht tun können. Dafür würde sie andere Dinge tun. Jo küssen. Segeln und dabei vermutlich ziemlich an ihre Grenzen gehen. Immer wieder Jo küssen. Ihn kennenlernen. Norwegen kennenlernen. Bisher war sie nie nördlicher als in Bergen gewesen, und es wurde allmählich Zeit.

»Auch bei der Feier zum siebzehnten Mai wirst du nicht dabei sein.«

»Nein.« Alva rollte den Schlauch zusammen, mit dem sie die Quarantänegehege gereinigt hatte. »Wir werden woanders feiern. Vielleicht in Bergen bei meiner Tante.«

»Ich freue mich für dich, auch wenn ich die Show dann selbst machen muss.«

»Ich komme ja wieder.« Sie sagte es auch zu sich selbst. Als sie fertig war mit all ihren Tätigkeiten, stand sie noch eine ganze Weile bei Smule, Loki und Tora. Es waren Robben, keine Kuscheltiere. Sie würde mit Jo und Wilma zusammen sein. Warum waren Wünsche so beängstigend, sobald sie wahr wurden?

Als sie am Montag in die Praxis kam und Tilda, die bereits am Telefon war, den üblichen Gutenmorgengruß zulächelte, erschien es ihr, als würde sie vieles, das ihr seit Jahren vertraut war, zum ersten Mal wirklich wahrnehmen. Kleinigkeiten nur. Tildas pinken Lieblingsstift. Die Amaryllis auf dem Tresen, die kleine Delle in der Wand zum Büro. Fünf Monate hatte sie mit ihren Brüdern ausgemacht, ausgerechnet die fünf Monate im Jahr, in denen die Praxis besonders ausgelastet war.

Sie strich mit den Fingerspitzen über die Tischplatte, ließ den Blick über die hölzernen Postfächer schweifen, das Einzige, was noch aus der Zeit ihres Vaters stammte, und blieb vor dem Bild des Praxisteams an der Wand stehen. Fünf Monate. Was waren schon fünf Monate? Sie würde wiederkommen.

»Guten Morgen, Alva.«

Sie drehte sich zur Tür. »Annik. Warum bist du so früh hier?«

»Kris bringt Theo in den Kindergarten.« Sie sah Alva fragend an. »Alles okay bei dir?«

»Ja, ich habe bloß ein bisschen Angst vor der eigenen Courage. Wie hast du das nur gemacht, alles einfach zurückzulassen?«

»Es gab nicht viel, was mich gehalten hat«, sagte Annik.

»Das stimmt natürlich. Entschuldige. Normalerweise bin ich hoffentlich nicht so taktlos.«

»Nein, normalerweise bist du sehr einfühlsam. Du hast mildernde Umstände.« Sie stellte ihre Tasche ab und öffnete sie. »Ich hab dir was mitgebracht.«

Das Geschenk war in orangefarbenes Seidenpapier gewickelt, mit einer hellgrünen Schleife. »Du hast mir doch schon was geschenkt.«

Annik lächelte. »Das hier ist nicht zum Geburtstag. Los, mach es auf. Ich hatte erst vor, dir das zur Abreise zu schenken, aber dann dachte ich, dass du dich jetzt vielleicht auch drüber freust – gerade wenn die ganzen Abschiede kommen.«

Durch das Seidenpapier ertastete Alva eine Tasse. Vorsichtig wickelte sie sie aus. Es war eine kleine weiße Emailletasse mit der Aufschrift:

 

Life begins at the end of your comfort zone.

 

»Ich hoffe, du magst sie«, sagte Annik. »Und ich hoffe, es stört dich nicht, dass sie gebraucht ist. Meine Mutter hat sie mir geschenkt, als Theo und ich hierher nach Lillehamn gezogen sind.«

»Du …« Spontan umarmte Alva ihre Freundin. »Danke. Die Tasse ist toll. Und ich bin einigermaßen gerührt, dass du mir etwas so Persönliches schenkst.«

»Ich brauche ja im Moment keine moralische Unterstützung. Lillehamn ist inzwischen zu meiner komfortabelsten Komfortzone geworden – nicht zuletzt dank dir.«

»Ich werde sie in Ehren halten und jeden Tag draus trinken.«

»Es wird toll werden, du wirst sehen. Der Abschied jetzt ist schwer, vor allem, weil du so ins Ungewisse fährst. Aber am Ende wird es großartig werden.«

»Deswegen mach ich das.« Wenigstens mit dem Verstand wusste sie das noch.

Svea war aus Oslo nach Lillehamn gekommen, und Annik hatte sogar mit ihrem Kind in einem fremden Land neu angefangen. Was waren dagegen fünf Monate?

»Schick uns nur genug Bilder.«

 

Etwas Ähnliches sagte Hanne am Abend, und als Alva sich am Mittwoch mit ihrer Cousine im Frontstage traf und ihr von ihren Plänen erzählte, sagte Linnea: »Wie toll ist das bitte? Ich bin neidisch wie die Hölle auf deinen Mut.«

Sie saßen nebeneinander am Schanktresen, die Füße auf der Messingreling abgestellt. Wenn Alva den Kopf nur ein bisschen drehte, konnte sie im Spiegel hinter der Theke den dunkelroten Samtvorhang sehen, der die kalte Winterluft aussperrte, wenn jemand hereinkam. »Ich bin gar nicht mutig«, sagte Alva. »Ich wollte bloß mit Jo zusammen sein, und das war die einzige Möglichkeit.«

»Meinst du, er macht noch ein Foto mit mir und signiert mir den Ausdruck, bevor ihr losfahrt? Ich finde es ganz lustig, so was im Café hängen zu haben.«

Alva lachte. »Frag ihn. Er sollte eigentlich schon hier sein. Jarik?«

Der Barkeeper war dabei, Gläser zu spülen. Jetzt sah er auf.

»Schokobier für mich.«

»Für mich auch«, sagte Linnea.

Er nickte und sagte zu Alva: »Kommt sofort.«

»Er mag mich nicht.«

»Jarik?« Alva schüttelte den Kopf. »Der berechnet bloß gerade nebenbei die ideale Flugbahn zwischen Mars und Jupiter oder so was.«

Verständnislos sah Linnea sie an.

Manchmal vergaß Alva, wie selbstverständlich man in Lillehamn alles voneinander wusste – und dass Leute, die nicht hier aufgewachsen waren, das eben nicht taten. »Er war schon in der Schule ein bisschen schräg«, erklärte sie. »Mit dem Kopf immer irgendwo.«

»So wie du, meinst du?«

»Wieso wie ich?«

Linnea lachte. »Du beobachtest die Tür nicht so unauffällig, wie du denkst. Da kommt er übrigens.«

Ausgerechnet in den drei Sekunden, in denen Alva nicht hingesehen hatte, natürlich. Sie drehte sich um, und bei Jos Anblick flirrte so viel Glück in ihr, dass sie Gänsehaut bekam.

»Kein Wunder, dass du in den verknallt bist«, murmelte Linnea. »Endlich weiß ich, wo der Ausdruck ›Tausendwattlächeln‹ herkommt.«

Aber es war nicht nur das, dachte Alva, als er sie umarmte und küsste. Jo war so viel mehr. Attraktiv, ja. Kreativ im Bett, absolut. Aber eben auch großzügig und freundlich. Und er brachte sie dazu, über sich selbst hinauszuwachsen.

Er begrüßte Linnea und schob sich dann auf den Barhocker neben Alva.

Jarik stellte drei Flaschen vor sie hin.

»Danke«, sagte Alva.

»Auf einen gelungenen Abend.«

Sie stießen zu dritt an, dann schob Jo sein Bier zu ihr hinüber und orderte einen Himbeersaft.

Alva betrachtete unschlüssig die beiden Flaschen vor sich. »Du weißt, was passiert, wenn ich betrunken bin.«

»Ich rechne damit.« Seine Zungenspitze huschte über die Unterlippe, während er grinste.

Linnea auf Alvas anderer Seite kramte in ihrer Handtasche. Die einfache Bewegung genügte, um Alva zu erinnern, wie furchtbar es sich anfühlte, das fünfte Rad am Wagen zu sein. Den Rest des Abends sorgte sie dafür, ihre Aufmerksamkeit gerecht zu verteilen. Linnea und Jo machten es ihr leicht. Im Wesentlichen sprachen sie übers Segeln – Linnea war als Teenager mit ihren Eltern von Bergen nach Schottland gesegelt – und darüber, dass Linneas Café fertig sein würde, wenn Alva und Jo zurückkamen. Alles, was weiter in der Zukunft lag, sparten sie aus.

Es passierte, als Jo kurz Richtung Waschraum verschwunden war. Drei angetrunkene Typen, die bereits seit einer Weile immer wieder zu ihnen herübergesehen hatten, quetschten sich neben Linnea an die Bar, obwohl mehr als genug Platz gewesen wäre, Abstand zu halten.

»Hi.«

Alva spürte Linneas Unbehagen fast körperlich, als der Mann seinen Oberschenkel an ihren drückte und sich vorbeugte, um sie anzusehen. Ihre Lippen wurden zum schmalen Strich, sie drehte sich von ihm weg.

Alva fixierte ihn dafür umso zorniger. Sie versuchte, sich an seinen Namen zu erinnern. Er war ein paar Jahre jünger als sie und kam aus einem der kleineren Dörfer in der Nähe.

Seine Freunde bekamen entweder nicht mit, was er tat, oder es interessierte sie nicht. »Du hast echt superschöne Haare.« Ungefragt strich er Linnea über den Kopf.

Sie fuhr herum. »Fass mich nicht an, Arschloch.«

»Hey, hey, hey. Bist ja ganz schön wild.« Anstatt sie in Ruhe zu lassen, rückte er noch näher an sie heran.

Während Alva aufstand, um ihrer Cousine zu helfen, sah sie sich automatisch nach Jarik oder einem seiner Angestellten um. Aber Lucas nahm mit dem Rücken zu ihnen eine Bestellung auf, und Jarik war nirgends zu sehen. Vielleicht holte er Getränke aus dem Lager nebenan.

»Stimmt es, dass ihr Thai-Mäuse –«

Weiter kam er nicht.

Jo riss ihn an der Schulter nach hinten und griff mit der anderen Hand den Kragen. Seine Augen waren nur noch Schlitze, das ganze Gesicht eine Grimasse mühsam zurückgehaltenen Zorns. »Hast du nicht gehört, was die Frau gesagt hat?«

»Hey, Peace, Alter. Man wird ja wohl –«

Jo zog ihn nach oben und hob die linke Faust. Alles passierte gefühlt gleichzeitig. Die Freunde von dem Typen sagten: »Spinnst du, Mann?« und: »Soll ’n das?«, Jo gab dem Grabscher mit der rechten Hand einen Stoß, der strauchelte, versuchte sich an einem der Barhocker festzuhalten und wurde von einem seiner Kumpels aufgefangen, bevor er mitsamt Hocker auf dem Boden landete.

Seine Freunde versuchten ihn zu beruhigen, doch statt es auf sich beruhen zu lassen, verlor der Mann jede Beherrschung. »Willstedich um die Braut schlagenoderwas? Nur zu!« Alvas Fokus schrumpfte auf Jo zusammen, der seine Faust sinken ließ und die Hand öffnete, ganz langsam. »Fuck.« Er war blass, und seine Kieferknochen mahlten.

Irgendwo am Rande ihres Bewusstseins bekam Alva mit, wie der Belästiger von den anderen beiden weggezogen wurde.

»Fuck«, sagte Jo noch einmal. Er mied Alvas Blick und sah stattdessen Linnea an. »Du solltest den anzeigen.«

Linnea hatte bis eben den Typen hinterhergestarrt, jetzt fing sie sich wieder. »Ich … ja. Keine Ahnung. Vielleicht.«

Jo schnaubte verächtlich. »Es gibt Gründe, warum solche Arschlöcher immer wieder davonkommen.« Er griff nach seiner Jacke. »Sorry, ich … Wir sehen uns.« Statt, wie es üblich gewesen wäre, per App zu bezahlen, legte er drei Hundertkronenscheine auf den Tresen und rannte fast nach draußen, ohne einen Abschiedskuss, ohne Alva auch nur anzusehen.

»Wow«, sagte Linnea. »Das war …«

Alva versuchte immer noch zu begreifen, was gerade passiert war.

»Der belästigt so schnell niemanden mehr.«

»Was?« Mühsam versuchte Alva, sich auf ihre Cousine zu konzentrieren. Das wirst du nirgendwo im Internet finden, seine Anwälte haben da gute Arbeit geleistet. Aber es heißt, er ist deswegen aus dem Verein geflogen, weil er einen Typen krankenhausreif geschlagen hat.

Linnea wirkte eher zufrieden als geschockt. »Ich sagte, der Sack betatscht hoffentlich niemanden mehr. Vielleicht zeige ich ihn wirklich an.«

Jo hatte nicht zugeschlagen. Aber sie hatte sein Gesicht gesehen, diese Grimasse aus Zorn. Und auf einmal traute sie ihm alles zu. Verflucht, sie hätte wenigstens versuchen sollen, irgendetwas darüber rauszufinden, als Svea damit ankam. Alles wäre schlauer gewesen, als den Kopf in den Sand zu stecken, wie sie es getan hatte. Oder irgendwo in die hormonwabernden rosa Wolken. Alvas Augen brannten.

Erst jetzt merkte Linnea, was mit ihr los war. »Was ist los? Wo ist Jo?«

Hatte sie das nicht mitbekommen? »Gegangen.« Es gibt Gerüchte.

Was bei allen nordischen Göttern hatte sie sich dabei gedacht, hier alles stehen und liegen zu lassen und mit diesem Mann segeln gehen zu wollen, über den sie kaum etwas wusste?

»Möchtest du auch gehen?«

»Ja.« Aber in einem hatte Jo recht. »Du solltest wirklich Anzeige erstatten.«

»Wenn ich jeden anzeigen würde, der mir blöd kommt, hätte ich nichts anderes mehr zu tun.«

»Und deswegen kann der jetzt die Nächste anmachen?«

»Alva, bitte. Ich will mein Leben nicht mit Kämpfen verbringen.«

Vielleicht war es ihr Schreck über diese neue Facette, die sie an Jo gesehen hatte, oder die Irritation darüber, dass er einfach abgehauen war – jedenfalls war Alva so wütend, wie sie sich selbst kaum kannte. »Jarik?«

Er war wieder an der Bar, immerhin.

»Tu mir einen Gefallen, ja? Finde die Namen von den Typen da drüben raus. Der eine von denen hat meine Cousine beleidigt, als du hinten warst.«

Nur für den Fall.

Sie gingen ein Stück gemeinsam, bevor Alva zur Kongchristiansgate und Linnea zur Uferpromenade abbog. Normalerweise wäre Alva mit am Hafen entlanggegangen. Eigentlich hatte sie damit gerechnet gehabt, diesen Weg heute Abend mit Jo zusammen zu nehmen.

»Tut mir leid, dass der Abend so geendet hat.«

Irritiert schüttelte Alva den Kopf. »Da kannst du ja wohl am wenigsten von allen dafür.«

»Trotzdem tut es mir leid.«

»Ich hab dich lieb, Cousinchen.«

Sollte sie vielleicht doch noch mit zum Hafen gehen? Jo fragen, was zum Henker das eben sollte? Warum er einfach abgehauen war?

Aber wenn sie jetzt mit ihm redete, würde sie heulen und herumschreien. Erst musste sie eine Nacht darüber schlafen. Falls sie denn schlafen konnte.