Lass das mit dem Kaffee«, hatte Svea gesagt, und theoretisch gab Alva ihr recht. Die halbe Nacht herumzugrübeln und sich morgens mit Kaffee vollzufüllen war nicht eben das, was man tun sollte, schon gar nicht als Ärztin, die es eigentlich besser wissen müsste. Aber es war ihr heute so egal. Sie wollte nur irgendwie diesen Tag überstehen.
Auf ihrem Smartphone waren als Standardeinstellung sämtliche Nachrichten stummgeschaltet. Während sie sich auf ihre Patienten konzentrierte, wollte sie nicht gestört werden. Heute war es fast körperlich anstrengend, das Telefon nicht alle paar Sekunden auf neue Nachrichten zu überprüfen, sondern mit dem Display nach unten einfach auf dem Tisch liegen zu lassen. Dabei wusste sie nicht einmal, was sie mehr aus der Balance bringen würde – falls das überhaupt noch möglich war: eine Nachricht von Jo oder ein stummes, dunkles Display.
Erst am späten Vormittag auf dem Weg in die Teeküche gab sie der Versuchung nach, und prompt schlug ihr Herz, als wäre sie gerade zum Wasserfall hochgestiegen. Mit – auch das noch – zitternden Fingern öffnete sie Jos Nachricht.
Wir haben weiter geübt. Wilma kann es!
Ihre Knie wurden so weich, dass sie sich festhalten musste. Keine Erklärung für gestern? Keine Bitte um Entschuldigung, wenigstens für den plötzlichen Abgang? Gar nichts?
Eine zweite Nachricht kam herein. Hatte Jo gewartet, bis sie die erste las, oder war das Timing Zufall? Dieses Mal schickte er ein verwackeltes Bild von Wilma auf seinem Rücken, auf dem am unteren Rand gerade noch zu erkennen war, wie er unter zerzausten, blonden Strähnen in die Kamera schielte. Gegen ihren Willen lachte Alva, ein kleines bisschen nur und nicht besonders froh.
Aber er konnte noch so zum Küssen aussehen, es änderte nichts an den Tatsachen. Sie konnte nicht so tun, als hätte gestern nie stattgefunden. Und sie war weiß Gott zu alt für Spielchen und Halbwahrheiten. Die halbe Nacht hatte sie damit verbracht, die Szene in der Bar wieder und wieder durchzuspielen. Jos erhobene Faust, die Wut in seinem Gesicht. Er hatte nicht zugeschlagen. Aber wie nah war er dran gewesen?
Findest du nicht, dass wir ein paar Dinge zu besprechen haben?
Natürlich hatten sie das. Er schuldete Alva eine Erklärung. Wenn er nur nicht schon überfordert damit wäre, auf ihre Nachricht zu antworten. Jo ignorierte Wilmas Stupsen an seinem Bein, ließ sich aufs Bett fallen und legte das Telefon neben sich. Nach der grässlichen letzten Nacht sollte man annehmen, er wäre jetzt müde. Aber das Einzige, was er empfand, war das stumpfe, demütigende Gefühl, besiegt worden zu sein. Am Ende hatte sein Vater doch gewonnen.
Er hätte jetzt sehr gern einen Boxsack.
Automatisch griff er nach seinem Telefon, aber Alva hatte in den letzten drei Minuten nicht noch einmal geschrieben. Natürlich nicht, warum sollte sie auch? Und was sollte es bringen, wenn er ihr den ganzen Mist erklärte? Nach gestern war es ausgeschlossen, dass er noch mit ihr zusammen sein konnte. Jemand, der jederzeit die Welt um sich in Schutt und Asche legen konnte, sollte ganz bestimmt keine Beziehung auf einer engen Segeljacht führen. So jemand sollte überhaupt keine Beziehungen führen.
Dabei war doch gerade alles gut gewesen. Jetzt zerriss es ihn vor Sehnsucht nach Alva.
Es wäre besser gewesen, er hätte ihr heute einfach nicht geschrieben. Feige zwar, trotzdem besser für alle Beteiligten. Aber wenn er weiterhin alle Leute aus seinem Leben verbannte, die sich um ihn bemühten, was blieb dann von ihm?
Irgendwie überstand er die nächsten Stunden zwischen Arbeiten (sein Aktiendepot war im Wert gestiegen, und im Mitgliederbereich der App fragte jemand nach Schulungsmöglichkeiten), Nachdenken, Wilma ausführen, Einkaufen und erneutem Nachdenken. Und Alva wartete immer noch auf eine Antwort.
Nachmittags hatte er die Großmutter aller Kopfschmerzen, weil er zu wenig getrunken und zu viel im Kreis gedacht hatte. Doch er wusste, was er tun musste.
Er setzte sich neben Wilma, atmete durch und griff nach dem Telefon.
Es klingelte bloß dreimal, dann meldete sich eine Männerstimme, melodisch und so vertraut, dass er vor Schreck fast wieder aufgelegt hätte. Aber nur fast. »Hei, Zayed.«
Das Schweigen am anderen Ende zog sich. Dann: »Dass ich dich in diesem Leben noch mal höre.«
Jo biss sich auf die Lippen.
»Und, wie geht’s so?«, fragte Zayed.
»Ich …« Es tut mir leid, dass ich unsere Freundschaft zerstört habe. Es tut mir leid, dass ich dich aus meinem Leben verbannt habe. So vieles tat ihm leid. Und nichts davon sagte er. »Ich vermisse dich.«
»Ach ja? Seit wann?«
Die ganze Zeit schon. Wilmas Brustkorb unter seiner Hand hob und senkte sich. »Ich hab mich geschämt«, sagte Jo und hätte schwören können, am anderen Ende ein kleines Lachen zu hören.
Aber Zayed ließ ihn zappeln. »Das solltest du besser.«
»Kann ich’s irgendwie wiedergutmachen?«
»Ich hab dich auch vermisst, Blödmann.«
Erleichterung durchflutete Jo, warm und freundlich. Wenn er die Sache mit Zayed wieder hinbiegen konnte, war mit Alva vielleicht auch noch nicht alles verloren. Wilma stupste ihn an, er hatte aufgehört zu kraulen. »Ich war mir nicht sicher, ob es okay ist, wenn ich dich anrufe. Das Letzte, was ich von dir gehört habe, war, wie du mich angeschrien hast, dass du mich nicht mehr sehen willst.«
»Solange du rumläufst wie eine scharfgemachte Handgranate«, sagte Zayed ruhig. »Man beachte die Feinheiten.«
»Klar.«
»Und ich war verflucht sauer. Weißt du, wie leicht das auf mich hätte zurückfallen können?«
»Ja.« Jo streichelte Wilma, die es nicht kümmerte, ob er ein menschlicher Versager war oder nicht, wenn nur ihr Futternapf voll war.
»Kjersti sagt, du bist irgendwo im Westen?«
»Erst bist du dran.«
»Das geht schnell. Ich werde heiraten.«
»Was? Hat Anna dich endlich rumgekriegt?«
»Nein, ich sie.«
Zayed berichtete, was in seinem Leben los war, und dann erzählte Jo Zayed alles, was er in den Monaten seit seinem Rauswurf erlebt hatte. Von Lillehamn, von Alva – und davon, dass er gedacht hatte, hier ankommen zu können, bis gestern Abend.
Zayed atmete hörbar aus. »Du kannst nicht alle Arschlöcher auf der Welt zusammenschlagen, weißt du?«
»Hab ich ja nicht. Der Kerl hatte nur keinen Gleichgewichtssinn.«
»Du weißt, was ich meine.«
Natürlich wusste Jo das.
»Hast du irgendeine Strategie, was das Handgranatendasein angeht?«
»Hey, es war zweimal. Ist ja nicht so, dass –«
»Du lenkst ab, mein Bester.«
Jo seufzte. »Nein, ich habe keine Strategie. Außer mich halt unter Kontrolle zu halten.«
»Roar«, machte Zayed. »Halte das Biest in dir an der Kette, oder es wird die Welt verrrrnichten.«
»Blödmann.« Jo lachte.
»Weißt du noch, wie Mama immer gesagt hat, Zorn seien nur ungeweinte Tränen?«
Das Lachen blieb ihm in der auf einmal zu engen Kehle stecken.
»Was ist mit deiner Freundin?«
»Glaube kaum, dass sie das noch ist.« Melodramatisch heute, Lundahl?
»Okay«, sagte Zayed. »Rebellischer Vorschlag. Du schmeißt jetzt nicht mit großer Selbstverachtung alles hin, was du dir erarbeitet hast, sondern redest mit ihr. Im Idealfall nicht erst nach Monaten wie mit anderen Leuten.«
Früher hätte Jo irgendetwas Ironisches geantwortet. Jetzt sagte er nur: »Ist gut, dich wiederzuhaben. Und es tut mir leid, dass ich’s in letzter Zeit ein bisschen vermurkst habe.«
»Schon okay. Schick mir ’ne Nachricht, wenn du mit deiner Alva gesprochen hast.«
Alva öffnete ihm in einem engen weißen T-Shirt, schlabberiger Jogginghose und einer Decke um die Schultern. Ihr Lächeln, auf das er so sehr gehofft hatte, war bestenfalls verhalten.
»Hi«, sagte er.
»Hi.«
»Kann ich reinkommen?«
Sie hob die Schultern. »Sicher.«
Ein feiner Hauch ihres Dufts zog an ihm vorbei, als sie sich umdrehte. Und alles nur, weil er zu feige gewesen war, ihr rechtzeitig zu gestehen, was mit ihm nicht stimmte. Er zog die Schuhe aus und stellte fest, dass er zwei verschiedene Socken anhatte. Auf dem Boot war ihm nicht aufgefallen, dass der eine schwarz und der andere grau war.
»Willst du was trinken?« Sie hatte die Decke auf das Sofa geworfen und stand vor dem Kühlschrank. Wie anders war die Situation gewesen, als sie ihm diese Frage letztes Mal gestellt hatte.
Er versuchte vergeblich, ihren Blick einzufangen. »Cola?«
»Seit wann trinkst du die?«
»Ich könnte ein bisschen Zucker im Blut brauchen.«
»Ich habe Milch, Himbeersirup, Kaffee, Tee oder Wasser.« Sie sah ihn immer noch nicht an, aber in ihrer Stimme schwang ganz leise Belustigung.
»Dann Wasser. Mit Himbeersirup.«
Jetzt lächelte sie doch, ein bisschen immerhin. Trotzdem war sie so verflucht weit weg, wie sie da stand und sich bemühte, ihn nicht anzusehen.
Schweigend goss sie ihm ein und schaltete den gläsernen Wasserkocher an. Sein Glas stellte sie vor ihm auf den Küchentresen, sodass ihre Hände sich nicht berühren mussten.
Immerhin. Bis hierher hatte er es geschafft. Jetzt sollte er nur noch die richtigen Worte finden, um ihr den ganzen Mist zu erklären.
Aber Alva war schneller. »Warum bist du gestern einfach abgehauen?« Jetzt sah sie ihn an.
Und er erwiderte ihren Blick. »Weil ich feige war. Weil ich mich geschämt habe. Und weil ich nicht sehen wollte, ob ich«, er atmete aus, »das mit uns vielleicht kaputt gemacht habe.«
Als er ihr hilfloses Schulterzucken sah, wollte er schreien. Oder sie in den Arm nehmen und heulen. »Ganz ehrlich«, sagte sie, »ich weiß es nicht.«
»Wovon hängt das ab?« In seinem Hals kratzte es.
Sie wandte sich dem Teewasser zu. »Mich hat das gestern erschreckt. Nicht dass du Linnea so entschieden verteidigt hast, das fand ich gut. Aber …«
Er hielt sich an dem blöden Saftglas fest, als könnte er dadurch verhindern, dass sie weitersprach.
»Krister hat mich gefragt, ob ich mir sicher sei. Es gäbe«, sie stieß ein kleines Schnauben aus, »Gerüchte. Ich hab das vom Tisch gewischt, weißt du? Und Svea sagte sogar, sie wüsste aus sicherer Quelle, dass …«
»Was?«
Es plätscherte, als sie Wasser in die Teetasse goss. »Ich wollte es nicht glauben. Aber nachdem ich dein Gesicht gestern gesehen habe, glaube ich es.«
Jo schloss die Augen. Bis eben hatte ein Teil von ihm noch Widerstand geleistet, gehofft, dass ihm die Flucht vor sich selbst doch gelungen war. Jetzt gab er auf. Es gab kein Davonlaufen mehr.
»Svea hat gesagt, du wärst aus dem Verein geflogen, weil du jemanden zusammengeschlagen hast.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein bitteres Flüstern. Sie drehte sich zu ihm um und betrachtete irgendwas über seinem linken Ohr. »Ich wollte das nicht wissen.«
Natürlich nicht. Wie all die anderen Frauen, die nicht sehen wollten, dass ihre Typen Arschlöcher waren. »Es stimmt aber«, sagte er.
Wenn ihre Hände wenigstens nicht gezittert hätten, als sie das Teesieb aus der Tasse nahm. Diese ganze verfluchte Szene hier war viel zu sehr wie … damals.
Er nahm einen Schluck Himbeerwasser und dann schnell noch einen. Das Schlucken klang laut in der Stille zwischen ihnen.
Alvas Finger mochten unruhig gewesen sein, aber als sie aufsah, waren ihre Augen trocken und ihr Blick klar. »Erzähl’s mir.«
Er folgte ihr zum Sofa, wo sie sich im Schneidersitz auf das eine Ende faltete. Unbehaglich ließ er sich auf dem anderen Ende nieder, eine Welt weit weg.
Alva pustete in die Tasse, um die sie beide Hände gelegt hatte.
Vor dem Fenster schimpfte ein Vogel.
Der Kühlschrank brummte.
Jo atmete ein und aus.
»Okay«, sagte er dann sinnloserweise. »Okay.« Wo sollte er anfangen? »Ich weiß, dass eine üble Kindheit nicht ewig als Entschuldigung herhalten kann. Das will ich auch gar nicht. Ich fange trotzdem damit an, wenn das in Ordnung ist.«
Ein minikleines Lächeln antwortete ihm.
»Also. Meine Mutter hatte über die Jahre eine ganze Menge ziemlich mieser Typen – meinen Vater eingeschlossen. Damals habe ich mir geschworen, dass ich so nicht werden will. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob es immer geklappt hat. Ich hätte nie eine Frau willentlich schlecht behandelt oder so, aber … Irgendein Reporter meinte mal, Ausnahmespieler seien manchmal ziemliche Egoisten.« Es machte ihm immer noch Mühe, das zuzugeben, aber es musste sein, wenn er Alva nicht verlieren wollte. »In meinem Fall hatte er recht, fürchte ich. Keine Ahnung, ob ich je ein Ausnahmespieler war, aber auf jeden Fall war ich manchmal kein besonders netter Mensch. Im Gegensatz zu dir.«
Sie schwieg, und er wollte den Abstand zwischen ihnen überbrücken, sie berühren, da regte sich eine uralte Erinnerung. Seine Mutter, die zusammengesunken mit einem zerknüllten Taschentuch vor sich am Küchentisch hockte, und daneben ein Mann – sein Vater? –, der nach ihrer Hand griff, wie er nach Alvas hatte greifen wollen. Du musst mir vertrauen, dass ich es nicht so meinte, bitte. Ich liebe dich doch. Danach hatte seine Mutter noch mehr geheult. An mehr erinnerte er sich nicht, nur an diese kurze Sequenz, aber sie genügte.
»Ich kann verstehen, wenn du das mit uns …« Jo fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, mit diesen langen Fingern, die so zärtlich sein konnten – und die sie zur Faust geballt gesehen hatte. »Also, wenn du es dir anders überlegst.«
Sie wollte vor allem erst mal verstehen.
»Ich bin manchmal wahnsinnig wütend.« Pause. »So wütend, dass es … schwierig ist, das nicht rauszulassen.« Seine Kiefer mahlten. »Wie gesagt, ich bin der Meinung, irgendwann muss man als Erwachsener Verantwortung übernehmen. Aber ich habe in den letzten Monaten viel nachgedacht, und … na ja. Ich bin vermutlich ein bisschen verspätet zu der Einsicht gelangt, dass meine Kindheit irgendwas damit zu tun haben könnte. Mein Vater war ein gewalttätiges Arschloch.« Noch eine Pause. »Ist er wohl immer noch, ich habe nur seit ein paar Jahren keinen Kontakt mehr zu ihm. Trotzdem war meine Mutter am Boden zerstört, als er endlich ging, jedenfalls behauptet meine Schwester das. Ich war zehn oder so, ich erinnere mich kaum daran. Ich weiß nur noch, wie die Mutter meines Freundes Zayed mich in den Arm genommen und immer wieder gesagt hat: ›Jetzt wird alles gut, Habibi, jetzt wird alles gut.‹ Zayeds Eltern passten eigentlich nicht in unsere Siedlung, sie waren viel zu kultiviert dafür. Aber sie konnten sich damals nichts anderes leisten. Sie kamen aus dem Sudan, und es dauerte einfach, bis … andere Geschichte. Jedenfalls hatte Feride an dem Tag leider nicht recht. Es wurde nicht alles gut. Meine Mutter fiel völlig in sich zusammen. Sie schaffte es von da an meist nicht mal, rechtzeitig aufzustehen, um meine Schwester und mich in die Schule zu schicken. Ohne Zayeds Eltern wären wir vielleicht überhaupt nicht mehr hingegangen. Sein Pa schleppte mich auch zu meinem ersten Handballtraining. Er meinte, da könne ich meine überschüssige Kraft loswerden.« Bei der Erinnerung daran lächelte Jo in sich hinein, und Alvas Herz zog sich zusammen.
»Hat es funktioniert?«
Jo schielte zu ihr herüber. »Begrenzt. Ich war schnell ziemlich gut, aber ich konnte nicht mit anderen zusammen spielen. Und ich hatte verflucht wenig Geduld. Ich glaube, ich habe in den ersten Jahren mehr Tore im Alleingang geworfen als irgendein anderes Kind dort – aber ich bin auch öfter gesperrt worden als der Rest meiner Mannschaft zusammen. Es hat gedauert, bis ich teamfähig wurde.« Er holte Luft. »Okay, jetzt habe ich mich warmgeredet. Hoffe ich.«
Sie nahm einen Schluck Tee, um überhaupt irgendwas zu tun.
»Ende letzten Jahres waren Zayed und ich in einem Club. Tanzclub, nicht Handballclub oder so. Ich …« Er atmete durch die gespitzten Lippen aus, fuhr sich wieder mit beiden Händen durch die Haare. »Wir hatten gerade ein wichtiges Spiel verloren, weil ich es vergeigt habe. Kannst du im Netz finden, wenn du willst. War eh schon ein Scheißtag gewesen. Meine Freundin hatte ein paar Wochen vorher mit mir Schluss gemacht, dann das durch meine Schuld verlorene Spiel. Ich war echt richtig übel drauf. Aber Zayed hatte eine wichtige Prüfung bestanden, also sind wir in den Club und haben gefeiert. Ich weiß eigentlich, dass Alkohol und diese Wut in mir nicht gut zusammenpassen, aber … Jedenfalls kamen wir irgendwann aus dem Club, und da waren zwei Nazi-Arschlöcher, die auf Zayed los sind. Schubsen, Beine stellen, so was. Keine Messer, glaube ich, also an sich keine große Sache – nicht da, wo wir aufgewachsen sind. Da gibt es immer irgendwo Krieg. Russen gegen Polen gegen Muslime gegen Rechte. Zayed hat einfach den Kopf eingezogen und ist weitergestapft. Ich glaube, er hat sogar noch gesagt, dass ich es gut sein lassen soll. Aber in mir ist da irgendwas gerissen. Über die Jahre hab ich einfach einmal zu oft gesehen, wie Leute mit so was davonkommen. Und das ist leider in dem Moment alles hochgekommen.«
Er stand auf und trat ans Fenster. Alva konnte die Hände in den Hosentaschen nicht sehen, aber sie war sicher, sie waren zu Fäusten geballt.
Sie schluckte, dann fragte sie: »Was ist passiert?«
»Der Anführer kam mit einem Milzriss und einem geprellten Kiefer ins Krankenhaus. Ich auf die Polizeiwache.« Er drehte sich um. Seine Augen wirkten noch heller als sonst.
Alva hatte keine Ahnung, was sie tun oder sagen sollte. Jo am Fenster wurde überlagert von der Erinnerung an Jo, der sie im Arm gehalten hatte, den sie geküsst hatte. Der so zart mit seinem Hund war. Und wie in einer mehrfachen Filmbelichtung sah sie ihn gleichzeitig in einer anonymen, dunklen Großstadtstraße auf einen gesichtslosen Mann einschlagen.
»Der Vereinsvorstand legte mir nah, mich aus dem aktiven Sport zurückzuziehen und die Sache unter den Teppich zu kehren. Ich hab gesagt, lasst es uns lieber öffentlich machen. Natürlich war es scheiße, was ich getan habe, Gewalt ist immer scheiße. Aber ich hätte die Verantwortung übernommen, und vielleicht … keine Ahnung. Vielleicht wäre am Ende irgendwie trotzdem noch was Gutes rausgekommen.«
»Aus der Tatsache, dass du hier bist, schätze ich, die Idee stieß nicht auf Gegenliebe.« Sie war vor allem deswegen so ruhig, weil ihr Verstand die verwirrten Gefühle beiseitegedrängt hatte. Solange sie neue Informationen einordnen musste, bestand keine Notwendigkeit, sich darüber klar zu werden, was die für sie bedeuteten.
»Es gab ein paar Leute im Vorstand, mit denen ich schon öfter aneinandergeraten war. Für die war die Sache ein gefundenes Fressen. Sie meinten, ich müsste dann öffentlich bei dem Typen um Verzeihung bitten – was für mich völlig außerhalb jeder Diskussion war. Und natürlich wollte auch von denen keiner als Rassist dastehen. Am Ende einigten wir uns drauf, dass sie mir eine Abfindung zahlen und ich den Mund halte.« Mit der Andeutung eines Lächelns hob er die Schultern. »Ich war zu feige, es nicht anzunehmen. Und hier bin ich.«
Es war zu viel, das alles. Zu viele Gedanken und Gefühle. Und Bilder, immer wieder. Wenn sie Jo wenigstens nicht trotz allem so gerngehabt hätte. Wenn es ihr nicht ins Herz schneiden würde, ihn derart verzagt zu erleben. »Hier bist du«, sagte sie unentschlossen.
Er schüttelte die Finger aus. »Wie gesagt, ich kann verstehen, wenn … o Gott! Warum kann das nicht alles einfacher sein?« Die Art, wie er sich aufrichtete, hatte etwas von Anlaufnehmen. »Ich mag dich extrem gern. Mit dir wochenlang zusammen auf einem Boot zu sein, fände ich«, minimal hochgezogener Mundwinkel, »ziemlich verlockend und ein bisschen beängstigend. Aber wie gesagt, ich kann gut verstehen, wenn du –«
»Lass das doch einfach mal!« Sie wusste selbst kaum, wo der Ausbruch auf einmal herkam – vermutlich aus derselben Hirnfalte wie der Krister gegenüber. »Gib mir wenigstens Zeit, das irgendwie zu verdauen, bevor du … uns aufgibst.«
»Das impliziert, dass es noch ein ›Uns‹ gibt.«
»Wenn du so heiß hinterher bist, mich loszuwerden, sag es einfach.« Allmählich wurde sie wirklich sauer.
Er fuhr sich durchs Haar. Legte die Handflächen aneinander. Ließ die Hände sinken, schüttelte wieder die Finger aus. »Ich will dich nicht loswerden«, sagte er dann schlicht. »Wäre schön blöd von mir, wenn ich das wollte.«
Die ängstliche Wut, die in ihr aufgeflackert war, verlosch. Alva machte einen Schritt auf Jo zu und noch einen. Aus der Nähe wirkte er müde, besiegt. Sie legte ihm die flache Hand auf die Brust und glaubte, seinen Herzschlag unter ihren Fingern zu spüren. »Lass mich nachdenken, okay?«
Joakim, wie geht es Ihnen damit, tatenlos auf die Entscheidung der Schiedsrichter zu warten? – Ich hab mein Bestes gegeben, Gloria. Mehr kann ich nicht tun. – Glauben Sie, dass Sie es verdient haben, zu gewinnen?
Jo presste die Daumenballen gegen die Schläfen. Das hier war wichtiger als jedes Spiel. Nur leider hatte seine Fantasiegloria recht: Er konnte nur einfach warten. Irgendwie die Zeit totschlagen, sich um N’Core kümmern, mit Wilma laufen, Serien streamen, Push-ups machen, bis er erschöpft liegen blieb. Hoffen, dass die Zeit gnädig genug war, schnell zu vergehen. Weder irgendwelche großen Gesten noch charmante kleine Ideen würden ihm hier weiterhelfen.
»Nicht das Schlechteste«, sagte Zayed, nachdem Jo ihm wie versprochen alles erzählt hatte. »Tut dir ganz gut, so ein bisschen Demut.«
»Danke auch. Die letzten vier Monate meines Lebens haben mir vollkommen gereicht, was Demut angeht. Die waren sozusagen eine einzige große Lektion darin.«
»Nicht darin, keine Handhabe zu haben. Und so wie du es erzählst hast, bist du deiner Alva auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.« Es klang recht zufrieden.
Zu schade, dass die alte Nähe zwischen Zayed und ihm noch nicht wieder ganz hergestellt war. Früher hätte Jo dagegengehalten. Weil er nicht ertragen hätte, in der Defensive zu sein.
Zayeds Worte hallten auch nach dem Gespräch in ihm nach. Nein, Handhabe hatte er keine. Keinen Freiwurf mehr, keinen Siebenmeter. Aber es gab etwas, bei dem er sichergehen wollte. Nicht seinetwegen, sondern für Alva.
Tust du mir einen Gefallen?
Es dauerte, bis sie antwortete.
Kommt auf den Gefallen an.
Frag dich, was du willst und womit es dir gut geht. Nicht, was ich vielleicht wollen könnte. Versprichst du mir das?
Gut, das mochte kitschig oder irgendwie unnötig edelmütig klingen, aber es war ihm verflucht ernst. Wenn er lernen konnte, demütig, wie Zayed es nannte, abzuwarten, dann konnte Alva lernen, sich selbst in den Vordergrund zu stellen.
Als hätte sie das nicht längst, Idiot, lästerte seine innere Stimme. Oder warum, glaubst du, hat sie sich sonst mit ihren Brüdern angelegt?
Ich muss was wissen. Diese Schlägerei – war das die einzige?
Okay, sie ging nicht mal auf seine Nachricht ein. Also konnte er wohl davon ausgehen, dass sie wenigstens dieses Mal sich selbst in den Vordergrund stellte. Aber was sollte er antworten? Zählte das Herumgebalge als Teenager als ›Schlägerei‹? Zayed wollte Demut? Jo hatte selten etwas Demütigenderes erlebt als das hier. Nur leider gab es keine andere Möglichkeit, als es durchzustehen.
Die einzige als Erwachsener, die einzige ernsthafte, die einzige, bei der jemand verletzt wurde.
Weil er immer den Handball zum Abpuffern gehabt hatte. Blieb zu hoffen, dass das Segeln den gleichen Zweck erfüllen würde. Er hatte so sehr das Bedürfnis, Alva zu versichern, dass er ihr gegenüber niemals ausrasten würde. Nie. Der einzige Grund, aus dem er ihr das nicht schrieb, war die Erinnerung an seinen Vater. Er hatte dasselbe behauptet, jedes Mal wieder. Fuck.
Du hast gesagt, dein Freund hatte eine wichtige Prüfung. Was für eine?
Er bewunderte sie dafür, wie methodisch sie sein Leben sezierte und versuchte, ihn zu verstehen.
Die letzte Prüfung für ›Fortgeschrittene makroökonomische Theorie‹.
Danach hätte ich auch gefeiert.
Jo merkte, wie angespannt seine Schultern gewesen waren, als eine Welle der Zuneigung für Alva sie jetzt weich werden ließ. Bisher machte keine ihrer Fragen den Eindruck, als wollte sie ihn endgültig zum Mond schießen. Aber noch stand das Urteil aus.
Wie hat er reagiert?
Es hätte fast unsere Freundschaft zerstört. Zayed hat nicht mein Privileg von Ruhm, heller Hautfarbe und norwegischem Namen. Das alles hätte verflucht leicht auch auf ihn zurückfallen können. Hat ein bisschen gedauert, bis wir wieder miteinander geredet haben.
Wie lange es genau gedauert hatte, musste er dann vielleicht doch nicht im Detail verraten. Alva stellte noch ein paar weitere Fragen, die seine Persönlichkeit analysierten. Und dann … schwieg sie.