Dreiundzwanzig

Ich vermisse sie.« Jo bückte sich und hob den Stock auf, an dessen Ende Wilma vorgestern noch genagt hatte.

»Ich auch. Ich hätte nicht gedacht, dass man einen Hund so sehr vermissen kann.«

»Doch.« Über dem Rauschen der Wellen war Jos Stimme nur schwer zu hören. »Das wusste ich.« Er schleuderte den Stock aufs Meer hinaus, kraftvoll, aber ohne jede Spur von Zorn, sah ihm einen Moment nach und drehte sich dann zu Alva um. Seine Augen waren wieder sehr hell.

»Entschuldige. Ich habe nicht nachgedacht.«

Ohne dass sie es absprechen mussten, traten sie aufeinander zu, Alva legte die Arme um Jos Taille und er seine um ihre Schultern. Jo hatte sich seit ihrer Krise verändert. Obwohl er Wilma hatte gehen lassen müssen, obwohl sie all diese Problemgespräche geführt hatten, wirkte er jetzt ruhiger und zufriedener als vorher. Weicher.

»Müssen wir noch irgendwas für nächste Woche einkaufen?«

Alva hob den Kopf und sah ihn an. »Du bist doch der Segelplaner. Ich dachte, du hast alles schon im Detail durchdacht.«

»Gibt ein paar Sachen, die bisher nicht auf der Liste standen.« Er küsste sie auf die Nase.

Sie erwischte leider nur noch sein kratziges Kinn. »Was denn zum Beispiel?«

»Schokoladenkekse.«

»Oh. Stimmt, die sind wichtig. Was noch?«

»Kondome.«

»Wozu das denn?« Es gelang ihr, ernst zu bleiben.

Jo lachte rau auf. »Vielleicht fällt uns was ein.«

»Vielleicht.« Sie ruckelte sich unter seinem Arm zurecht. »Gehen wir zurück?«

Jo sah auf die Uhr an seinem Handgelenk. »Bis zum Ende des Strands noch? Wir müssen die Last-Minute-Einkaufsliste schließlich vervollständigen.«

Was auch immer das mit der Uhrzeit zu tun hatte. Aber es gab mit Sicherheit Schlechteres, als Arm in Arm mit ihm hier entlangzuspazieren. Sie griff nach seiner Hand über ihrer Schulter und drückte sie. »Was glaubst du, wo wir in einem Monat sind?«

»Kommt wohl drauf an, was wir unterwegs alles entdecken. Wenn Fjorde erforscht oder Berge bestiegen werden müssen, dauert es ein bisschen länger. Oder Städte angeguckt, ab und zu.«

»Oder wenn Männer vernascht werden müssen, dann auch.«

»Ja«, sagte Jo. »Dann wohl auch.«

O Himmel, hatte sie ihn gern.

Zurück am Steg, zögerte er.

»Was ist?«

»Du wirst mich auslachen.«

Alva stemmte die Arme in die Seiten. »Joakim Lundahl. Wann habe ich dich je ausgelacht?«

»Punkt für dich.« Wieder sah er auf die Uhr. »Ich finde es ohne Wilma ziemlich leer in der Kajüte, ich würde lieber zu dir gehen.«

»Dafür, dass du ernsthaft anzunehmen scheinst, ich könnte dich ausgerechnet deswegen auslachen, müsste ich eigentlich mit dir Schluss machen.«

Jo grinste von einem Ohr zum anderen, und Alva fiel auf, was ihr selbst an dem Satz so merkwürdig vorgekommen war.

»Wir haben nie drüber gesprochen, ob wir jetzt offiziell«, sie malte mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft, »zusammen sind. Und was wir uns überhaupt so von einer Beziehung wünschen.«

Nonchalant hob er die Schulter. »Sex.«

»Okay.« Sie hakte sich bei ihm ein. »Gehen wir zu mir.«

 

In ihrer Wohnung brannte Licht. Was zum …?

Oder nein, die Sonne hatte sich nur orange in der Fensterscheibe gespiegelt. Alva drehte sich zu Jo um, der schon wieder mit seiner Smartwatch zu tun hatte. »Was ist los? Ist heute irgendein Spiel, von dem du den Newsticker nicht verpassen willst, oder so?«

»Warum?«

»Weil du ständig an dieser Uhr rumfummelst.«

»Ah. Nein, das …« Er winkte ab und schüttelte zu glatt lächelnd den Kopf.

»Wenn’s weiter nichts ist.«

»Unwichtig, ehrlich.«

Alva öffnete die Tür zu ihrer Wohnung. Kein Licht, sie hatte sich wirklich getäuscht. Schnell zog sie Jacke und Schuhe aus.

Aber diesen umwerfenden Duft nach Zwiebeln, Knoblauch und Basilikum bildete sie sich nicht ein. Und ebenso wenig die beiden Töpfe auf dem Herd, das Messer auf dem Schneidebrett oder die hinter dem Küchentresen hervorlugende, gestreifte Sockenspitze. Unwichtig, soso.

Sie schnappte sich Jo, indem sie mit beiden Fäusten in seinen Sweater griff und ihn in Richtung Sofa steuerte. »Was sagtest du noch gleich über Sex, Liebling?«

»Stopp!« Espen kam lachend hinter dem Küchentresen hervor. »Stopp!«

Alva ließ Jo los und umarmte ihren Bruder. »Na so was. Wo kommst du denn auf einmal her?«

»Jetzt, da du fragst: Ich habe keine Ahnung. Eben war ich noch arglos in meiner Werkstatt und bastelte an einer Lampe für Linneas Café herum, und auf einmal machte es Puff, und ich war hier.«

»Puff, ja?«

Er nickte. »Puff. Einfach so.«

»Eigenartig. Kann das jemand bezeugen?«

Nacheinander tauchten Svea und Annik ebenfalls aus der Küche auf. Hinter dem Sofa kicherte eine kratzige Schlumpfstimme, und Alva war sich sicher, Kristers »Pssst« zu hören, woraufhin das Kichern nur lauter wurde. »Wir sind mit einem Raumschiff hergeflogen«, rief Theo und sprang hinter dem Sofa hervor.

»Wow.«

Krister folgte ihm. »Wir mussten es im Orbit parken, der Garten wäre sonst voll gewesen.«

»Ihr seid irre.« Sie sah von einem zum anderen ihrer liebsten Menschen. In diesem Moment hatte sie jede und jeden von ihnen unfassbar lieb. »Ihr seid total irre. Aber wenn ihr schon mal hier seid, könnten wir zusammen essen. Jemand scheint gekocht zu haben.«

Theo hüpfte neben sie. »Das waren wir!«

»Nein!«

»Doch.«

Der große Topf war gefüllt mit Spaghetti, der kleinere mit selbst gemachter Tomatensoße. Gemeinsam deckten sie den Tisch, verteilten Teller, Gläser und Besteck. Theo trug mit beiden Händen den Wasserkrug, und Svea hatte tatsächlich noch einen üppigen Salat in der Küche versteckt gehabt, der mit Pilzen und Sprossen verziert war.

Krister stupste Alva an und deutete mit den Augen auf Jo. »Es war übrigens seine Idee.« Er zwinkerte ihr zu. »Vielleicht ist er doch nicht ganz verkehrt.«

»Vielleicht nicht.« Sie boxte ihn sanft, bevor sie sich neben Jo setzte.

Als alle Platz genommen hatten und die Spaghetti von den Tellern dampften, hob Espen sein Weinglas, uncharakteristisch feierlich. »Also, vielen Dank für die Einladung.«

»Ihr habt euch ja wohl eher selbst eingeladen.«

»Gehüpft, gesprungen – wen kümmert’s? Außerdem sagte ich: Ich habe keine Ahnung, wie ich hierhergekommen bin.«

»Puff. Ich erinnere mich.«

»Genau.« Immer noch hielt er sein Glas in die Höhe. »Was ich eigentlich sagen wollte: Ich finde es eine super Idee von dir, Jo, dass wir hier noch mal zusammengekommen sind, bevor ihr losfahrt. Auf euch beide und einen tollen Törn.«

Wasser-, Saft- und Weingläser klangen aneinander. »Auf euch!« – »Schickt auf jeden Fall Bilder.« – »Skål.« – »Kommt heile wieder!«

»Muss ich jetzt auch eine Rede halten?«, fragte Jo.

»Quatsch.« Alva machte einen Kussmund und ließ das letzte bisschen ihrer Nudel zwischen den Lippen verschwinden. Sie hatte nicht mitbekommen, wer wann die Musik angeschaltet hatte, aber es war ein leichter, jazziger Rhythmus, der die behagliche Atmosphäre noch verstärkte.

»Könnte ich aber.« Jo ließ seine Gabel an das Saftglas klingen. »Ich freue mich, dass ihr das hier möglich gemacht habt, ohne dass Alva etwas mitbekommt. Wir haben uns vorhin drüber unterhalten, was das mit uns eigentlich ist, ob wir jetzt zusammen sind und was das bedeutet. Auf jeden Fall sind wir jetzt erst mal für die nächsten Wochen zusammen, und das macht mich wahnsinnig glücklich – und irgendwie auch stolz. Ich hätte nämlich im Leben nicht damit gerechnet, hier so eine tolle Frau zu finden. Und dass die mich dann auch noch mag, mit all meinen Fehlern …« Er lächelte ihr zu.

Annik grinste und hob ihr Glas. »Das ist das Schöne an uns. Keiner ist perfekt.«

»Wahre Worte«, sagte Espen.

»Jedenfalls freue ich mich auch, dass ich euch alle kennenlernen durfte. So einen Familienzusammenhalt habe ich noch nicht oft erlebt. Und ich würde mich freuen, wenn – vorausgesetzt, Alva wirft mich nicht vorher über Bord – ich vielleicht im Herbst mit ihr nach Lillehamn zurückkommen könnte und wir dann wieder genauso wie jetzt zusammensitzen.«

Alvas Herz platzte fast, als er ein bisschen verlegen in die Runde lächelte und dann das Glas abstellte.

»Nur wenn’s sein muss«, sagte Krister.

Alva wünschte sich, nah genug bei ihm zu sitzen, um ihm gegen’s Schienbein treten zu können. »Geh du doch nach Hause.«

Aber Jo grinste nur und bot Krister die Faust zum Dagegenboxen. Nun, wahrscheinlich war er aus der Sportkabine anderes gewohnt. Manchmal waren Männer eigenartig.

Während des Essens kreisten die Gespräche um die Praxis (Espen hatte tatsächlich mit Madalena gesprochen, und Hanne wollte im Sommer wieder stundenweise anfangen) und um den Segeltörn, und Alva saugte sich so voll mit ihrer Familie, wie sie nur irgend konnte.

»Habt ihr an Skier gedacht?«, fragte Krister.

»Nein«, sagte Alva. »Oder?«

Jo schüttelte den Kopf.

»Willst du meine ausleihen?«

»Wenn du sie nicht brauchst …«

Krister grinste. »Wohl kaum. Aber da oben findet ihr bestimmt noch irgendwo Schnee. Morgens Ski fahren, abends ins Meer tauchen.«

»Und neben dem Lagerfeuer am Strand einschlafen«, sagte Espen.

Svea nahm den Faden auf. »Während vor euch im Fjord die Orcas spielen. Wir sind nicht neidisch.«

»Kein bisschen«, sagte Annik und lächelte Alva zu. »Denn sicherlich wird es keinen einzigen Tag mit schrecklichem Wetter geben.«

Alva lachte. »Angeblich hört Seekrankheit nach drei Tagen auf See auf. Man darf nur nicht zwischendurch ankern, um Ski zu fahren.«

»Wir nehmen sie trotzdem mit«, sagte Jo.

»Braucht ihr noch Bücher oder so?«

»E-Reader«, antwortete Jo. »Nimmt weniger Platz weg. Und wir haben diverse Onlinekurse runtergeladen.«

»Echt?«, fragte Annik. »Was für welche?«

»Meeresbiologie«, sagte Alva. »Nur ein paar Basiskurse, zum Spaß. Und Jo … darf ich’s sagen?«

»Klar.«

»Jo überlegt, noch eine Physiotherapieausbildung zu machen.«

»Oh, oh«, sagte Espen, und Krister lachte. Seine Ex-Freundin war Physiotherapeutin gewesen. Die Beziehung war eher unschön zu Ende gegangen. Alva hatte Jo davon erzählt, und er begriff sofort, worauf Espens Äußerung sich bezog.

»Ich bewerbe mich dann einfach bei euren Kollegen in Fuglesang.«

»Untersteh dich.«

»Langweilig wird’s uns auf jeden Fall nicht werden.«

Alva verbiss sich ein Lachen. »Zur Not essen wir Schokokekse.«

Sehr viel später, als alle nach Hause gegangen waren und Alva in Jos Arm auf dem Sofa lag, sagte er: »Du hast verfluchtes Glück mit deinen Leuten.«

»Das weiß ich«, sagte Alva. »Glaub mir, das weiß ich.« Sie küsste ihn auf die Wange. »Und noch mehr mit dir.«

»Nein, ich mit dir.«

»Auch das stimmt wohl.« Sie hob den Kopf und küsste ihn.

 

Am Sonntagmorgen, als sie Lillehamn verließen, schien die Sonne, als wollte sie versuchen, Alva doch noch zum Bleiben zu bewegen.

Am Kai hatte sich nicht nur die ganze Familie samt Papa und Mariana versammelt, sondern auch das Praxisteam und Alvas Kollegen aus der Robbenstation. Sogar Jamal war gekommen und hatte ihnen eine ziemlich große Tüte Pistazien-Baklava mit auf den Weg gegeben.

Langsam waren sie auf den Fjord hinausgetuckert, gefolgt von zwei Seekajaks, in denen Krister mit Theo und Tom mit Ella versuchten, mit der FYF mitzuhalten. Jetzt waren die Segel gehisst, Jo steuerte die Jacht, und Alva winkte, winkte, winkte.

Sie war froh, dass der Wind gut stand und sie schnell von Lillehamn wegbrachte. Im Schutz der kleinen Inseln und Holme zwischen Lillehamn und Stavanger lag das Meer noch glatt; wild würde es erst später werden. Der schemenhafte Rest von Lillehamn verschwamm am Horizont.

Vor ihnen wartete die offene, weite See.

»Bereit fürs Abenteuer?«, fragte Jo.

Alva drehte sich ein letztes Mal um. »Bereit fürs Abenteuer.«

ENDE