Am Ende entschied sie sich für den grünen, gerippten Rollkragenpullover – den man unter der Jacke ohnehin nicht sehen würde, enge Jeans, halbhohe Stiefel und ihren dunklen Anorak. Um den Hals wickelte sie sich den locker gestrickten Riesenschal.
Während sie zum Hafen hinunterlief, ertappte sie sich dabei, melodielos vor sich hin zu singen. Himmelherrgott, und jetzt staute sich die Luft in der Lunge. Sie ließ sie durch die gespitzten Lippen entweichen. Es war nur ein simpler Spaziergang.
Sollte sie gleich gegen das Boot klopfen? Sich durch Rufen bemerkbar machen? Jo eine Textnachricht schicken, dass sie da war?
Das Problem erübrigte sich, als sie um die Ecke von Jessicas Wohnhaus bog und Jos dunkle Silhouette am Anfang des Bootsstegs vor dem pastellorangefarbenen Abendhimmel erkannte. Die Dalmatinerdame saß ruhig da, während Jo mit knappen Bewegungen hin- und herging. Drei Schritte in die eine Richtung, drei Schritte in die andere Richtung. Dann blieb er stehen und schüttelte die Hände aus, bevor er das Wandern wieder aufnahm.
Alva öffnete probehalber den Mund. Hallo. Hi, da bin ich. Sie räusperte sich. Es waren nur noch wenige Meter bis zum Steg.
Wieder schüttelte Jo die Hände aus und drehte sich dann in ihre Richtung.
»Hi«, sagte Alva. »Da bin ich.«
»Hi.« Unter der Lederjacke trug er einen Hoodie, dessen Kapuze er jetzt zurückschlug. Die blonden Haare waren ein bisschen verstrubbelt, und die tief stehende Sonne spiegelte sich in seinen Augen.
Sie lächelte zu ihm hoch.
Jo lächelte zurück und schob die Hände in die Hosentaschen.
Und nun? War ›Wollen wir den Strandweg entlanggehen?‹ eine angemessene Frage? Wilma erlöste sie, indem sie schwanzwedelnd auf Alva zukam und ansetzte, an ihr hochzuspringen.
»Wilma, nein«, sagte Jo im selben Augenblick, in dem Alva sich wegdrehte, damit der Hund nicht glaubte, sie sei ein Fan von Pfotenabdrücken auf der Jacke.
»Hast du schon was in Bezug auf potenzielle Besitzer von Wilma gehört?« Dankbares Thema, Jos Haustier.
Er schüttelte den Kopf. »Irgendwie hoffe ich gerade, dass sich niemand meldet. Ich hatte nie vor, mir einen Hund zuzulegen, aber ich würde sie wirklich gern behalten.«
»Wird schwierig mit Segeln.«
»Wer weiß, vielleicht mag sie das ja. Ich werde es demnächst mal ausprobieren. Schließlich gibt es auch Hunde, denen es gefällt, beim Autofahren die Nase aus dem Fenster zu strecken.«
»Stimmt.«
Wieder lächelten sie sich an, Jo ebenso tastend und abwartend wie Alva selbst.
»Gehen wir zum Wasser runter?«, fragte sie schließlich.
Jo nickte.
Er hatte wesentlich längere Beine als sie, aber dafür kannte Alva den Weg über die Felsbrocken, die den Strand von der kleinen Promenade trennten, im Schlaf. Sie hatte hier schon nachts Krebse gefangen, als sie fünf Jahre alt war, ihre Füße hätten den Weg sogar im Stockfinstern gefunden. Wilma sprang schwanzwedelnd voran, Jo folgte langsamer. Er mochte über exzellente Körperbeherrschung verfügen, aber er kannte diese Steine nicht, und gegen die Sonne konnte er garantiert den Weg kaum erkennen.
»Sorry, ich hab nicht daran gedacht, dass du nicht von hier bist«, sagte Alva. »Wir hätten den regulären Pfad nehmen können.«
»Kein Problem. Man muss auch mal Neues erleben.« Mit einem großen Schritt von dem letzten Stein hinunter landete er neben ihr im Sand. »Den anderen Weg kenne ich ja schon.«
Schweigend stapften sie zur Wasserkante, ein Irrlichtern aus Fremdheit und Vertrauen zwischen ihnen. Vielleicht hatte Jo recht gehabt mit seiner Theorie, vielleicht war es einfacher, mit Fremden zu sprechen. Außer darüber, dass man Bärte eigentlich nicht mochte, in Sonderfällen aber doch nichts gegen sie einzuwenden hatte. Oder darüber, dass sie gern seine Hand genommen hätte. Oder darüber, dass sein Duft ihr gefiel, von dem sie dann einen Hauch wahrnahm, wenn ihn der Wind in ihre Richtung trieb.
Sie ging ein bisschen schief, weil der Strand auf ihrer rechten Seite zum Wasser abfiel, das immer wieder über ihre vollkommen ungeeigneten Stiefel schwappte.
»Ich habe in letzter Zeit öfter mal Kopfschmerzen«, sagte Jo. »Vielleicht liegt es einfach daran, dass ich nicht dran gewöhnt bin, so lange einfach rumzusitzen. Vielleicht war ich in letzter Zeit auch ein bisschen viel am Bildschirm, jedenfalls …«
»Warum tust du es?« Die Frage war schneller raus, als Alva sie aufhalten konnte. »Sorry, ich weiß, du willst ungern drüber reden, aber du hast leider mein Detektiv-Gen geweckt. Besonders oft passiert es nicht, dass jemand im Winter hier Urlaub macht. Schon gar nicht mit einem Boot.«
Jo grinste zu ihr herunter. »Es ist nicht gut, wenn ich dir zu viel über mich erzähle. Du wolltest dein Herz doch einem Fremden ausschütten.«
Dabei erschien er ihr kaum noch fremd.
»Ich wollte eben auf etwas Bestimmtes hinaus. Meine Schwester hält es für creepy, ich brauche also etwas Mut, um es dir zu erzählen.« Sie mochte das verhaltene Lachen in seiner Stimme.
»Jetzt bin ich noch neugieriger.«
»Jedenfalls – ich habe bis heute keine Ahnung, wodurch es ausgelöst wird, aber wenn ich deinem Robbenvortrag zuhöre, entspannt sich mein Kopf. Es fühlt sich an, als würde sich mein Schädel irgendwie nach oben öffnen. So ein ganz leichtes, summendes Schweben, fast wie bekifft oder so.«
»Ich hab noch nie gehört, dass jemand von Fischgestank bekifft wird.« Ganz kam sie noch nicht hinterher. »Oder davon, den Robben zuzusehen.«
»Mit den Robben hat das nichts zu tun, nur – vermute ich – mit deiner Stimme.«
»Meine Stimme macht dich bekifft? Ich bin mir gerade nicht sicher, wie ich das finden soll.«
Wieder dieses halblaute Lachen. »Sorry, ich weiß, wie sich das anhört. Aber das Wichtige kommt noch.«
»Das war es noch nicht?«
»Nein. Das Wichtige ist: Wenn du lange genug sprichst, kannst du mir deine finstersten Geheimnisse anvertrauen. Sie sind bei mir völlig sicher, denn ich werde deiner Stimme lauschen und mich schwebend zwischen den Sternen herumtreiben und nicht einmal mitbekommen, was du mir erzählst.«
»Das ist … Deine Schwester hat recht. Es ist …« Alva versuchte vergeblich herauszufinden, was seine Geständnisse bei ihr auslösten. Neugier auf jeden Fall. Und eine Art prickelndes, fasziniertes Unbehagen, als hätte er ihr etwas Intimes gestanden.
»Creepy.«
»Ein bisschen. Aber auch spannend. Ich habe davon mal gehört, aber ich erinnere mich nicht.«
»Meine Theorie ist, dass irgendeine Frequenz in deiner Stimme das auslöst.«
»Sicher, dass du kein durchgeknallter Serienmörder bist?«
»Einigermaßen.«
»Das sagen sie alle.«
»Und da liegt das Problem.«
Sie lachte über die betonte Ernsthaftigkeit, mit der er antwortete, und wusste danach schon wieder nicht, was sie sagen sollte. In der hellen Gischt vor ihren Füßen war der dunkle Umriss eines angeschwemmten Stocks zu erkennen. Sie fischte ihn aus dem Wasser. »Darf ich den für Wilma werfen?«
»Mach ruhig.« Er pfiff den Hund zu sich, und während Alva sich noch wunderte, warum der bereits so gut gehorchte, belohnte Jo ihn mit Futter aus seiner Manteltasche.
Alva schwang den Stock. »Guck mal hier, Wilma.« Was sollte schon passieren, wenn sie Jo von ihrem blöden, neidischen Psychoknoten erzählte? Im Zweifelsfall fand er sie zickig und wollte sie nicht wiedertreffen. Was schade wäre, aber in Anbetracht der Tatsache, dass er Lillehamn ohnehin bald wieder verließ, zu verschmerzen. Sie schleuderte den Stock, so weit sie konnte. »Mein Ex-Freund heiratet.«
»Die Sätze müssen länger sein, damit ich schwebe. Diesen habe ich noch gehört. Vermutlich hat der Typ dich nicht verdient.«
»Er selbst ist mir auch total egal. Es ist nur dieses Gefühl …«
» … übrig geblieben zu sein, ich weiß. Willkommen im Club. Meine Ex-Freundin ist jetzt mit einem Kollegen zusammen.«
»Vermutlich hat sie dich nicht verdient.«
Alva hatte erwartet, dass Jo ihren verbalen Ball auffing, wie er es schon ein paarmal getan hatte. Aber er verzog das Gesicht, als hätte er auf etwas sehr Bitteres gebissen. »Keine Ahnung. Ich bin auch nicht wirklich jemand, den ich meiner Schwester als Freund wünschen würde.«
Alvas innere Detektivin horchte auf. »Warum nicht?«
Jo antwortete nicht, und die Alva, die das Bedürfnis, andere froh zu machen, mit der Muttermilch eingesogen hatte, hielt es nicht aus, darauf zu warten. Schnell schob sie hinterher: »Hast du die Beute aus dem Bankraub doch nicht gründlich genug versteckt?«
Es war ein eher kümmerlicher Versuch der Aufheiterung, aber Jo lachte. »Ich dachte, wir seien hier, damit du mir deine Lebensgeschichte erzählen kannst. Also, der Ex bedeutet dir nichts« – den hoffnungsvollen Beiklang unter diesen Worten bildete sie sich mit Sicherheit nur ein – »aber dennoch gefällt dir der Gedanke nicht, dass er jetzt heiratet. Da waren wir stehen geblieben.«
»Bevor du mich damit neugierig gemacht hast, nicht auf meinen Witz einzugehen und stattdessen zu verkünden, dich niemandem zum Freund zu wünschen. So ähnlich jedenfalls.« Sie merkte selbst, dass sie sich um Kopf und Kragen redete. »Dabei gibt es garantiert Studien dazu, wie attraktiv es einen Mann macht, wenn frau den soften, einfühlsamen Kern hinter der harten Schale entdecken kann.«
»Ich bin mir nicht bewusst, das eine oder das andere zu haben.« Trotzdem schwebte ein Lächeln in der Dunkelheit.
»Warum amüsiert dich das?«
»Sprich weiter. Es fängt an.«
Alva musste einigermaßen aufgekratzt lachen. »Ich bin doch nicht deine persönliche Meditations-App.«
»Schade, jetzt ist es wieder weg.«
»Ich weiß immer noch nicht, wie ich das finde.«
»Ich kann nichts dafür.« Er hob die Schultern, und selbst das gelang ihm mit einer Lässigkeit, die sogar Espen nicht besser hinbekommen hätte. »Aber zu deiner Beruhigung: Es scheint weniger zu werden, je mehr Zeit ich mit dir verbringe.«
Ihr Herz klopfte aufgeregter als angemessen.
Inzwischen hatten sie beinahe das Ende des Strands erreicht, wo die Steine immer größer und zahlreicher wurden und schließlich in steile Felsen übergingen. Ohne es abzusprechen, kehrten sie um, Alva nach links, Jo nach rechts – wodurch sie direkt voreinanderstanden. Jo stieß ein kleines Lachen aus, sie selbst vermutlich auch. Gleichzeitig traten sie einen Schritt zur Seite, zur selben. Jos Augen funkelten. Mit einer einladenden Geste machte er den Weg frei. »Bitte, die Dame.«
»Danke, der Herr.« Es gelang ihr, das ganz normal zu sagen, so als täte sie nie etwas anderes, als mit fremden, gut aussehenden – trotz Bart sogar irritierend gut aussehenden – Männern spazieren zu gehen. Hatte sie irgendwann einmal gedacht, er hätte zwar Ausstrahlung, sei aber nicht im klassischen Sinne schön? Wahrscheinlich war sie betrunken gewesen. Um nicht wieder dämlich lachen zu müssen, wandte sie sich endlich dem Rückweg zu.
Von hinten war ihr der Wind nicht so stark erschienen, aber nun trieb er ihr mit voller Kraft Gischt und winzige Schneeflocken ins Gesicht.
Jo stieß einen beeindruckten Laut aus. »Ist kalt bei euch in Lillehamn.«
Die Hände tief in den Jackentaschen, stapfte Alva gegen den Wind. Sie musste die Erkenntnis sortieren, dass sie vielleicht, möglicherweise dabei war, sich ein kleines bisschen in Jo zu verlieben.
»Du wolltest mir erzählen, was dich so frustriert hat.«
Es erschien ihr so weit weg. Der Besuch bei Hanne, das Einsamkeitsgefühl, selbst der elende dreißigste Geburtstag. »So wichtig ist das gar nicht.«
»Sag jetzt nicht, Wilma und ich trotzen hier ganz umsonst Wind und Wetter.« Jo pfiff Wilma heran und gab ihr eine Belohnung, bevor er sie wieder losschickte. »Also, du warst heute Morgen ziemlich down. Warum?«
Unwillkürlich sah sie zu ihm auf, und etwas in seinem Blick hielt sie fest und verhinderte, dass sie die Frage einfach beiseitewischte. Vielleicht war es der irrationale Eindruck, er könnte von ihr enttäuscht sein, wenn sie jetzt tat, als wäre nichts. Wenn jemand anders, Tilda zum Beispiel, so tat, als wären ihre eigenen Probleme nicht der Rede wert, fand Alva das einigermaßen anstrengend. Sie wollte nicht, dass Jo sie anstrengend fand. »Ja, ich war down.« Der Wind wehte ihre Worte davon. Sie musste lauter sprechen, um dagegen anzukommen, und auf seltsame Weise half das dabei, die Dinge auszusprechen. »Es waren viele Kleinigkeiten, die zusammenkamen, und es nervt mich selbst. Ich meine, es gibt echte Probleme auf der Welt. Andere Frauen haben irgendwelche schweren Krankheiten oder sitzen in einem Flüchtlingslager fest oder werden von ihren Männern geschlagen.« Jo blieb stehen und sah sich nach Wilma um. Alva wurde ebenfalls langsamer. »Ich will nicht grundlos rumjammern. Ich glaube, das nervt mich eigentlich am meisten. Ich bin manchmal so traurig, obwohl ich absolut keinen Grund dazu habe.«
Jo sah sie ruhig an. »Definiere ›absolut keinen Grund‹.«
»Nimm dich. Du hast deinen Job verloren und heulst nicht rum.« Sie nahm ihren Spaziergang wieder auf, ging mit schnellen, langen Schritten. Jo blieb mit der Geschmeidigkeit eines Athleten neben ihr. »Ich hab Freunde, Familie, ein Dach über dem Kopf. Ich habe zu essen, zu trinken und einen Job, den ich liebe. Und ich bin frustriert, bloß weil …« Sie wollte nicht jammern.
Schweigend ging Jo weiter. Kein Wunder, dass er zu ihrem Ausbruch nichts zu sagen hatte. Vielleicht hätte sie doch lieber den Mund halten sollen. Er hob ein Stück Treibgut auf und pfiff Wilma zu sich. Erst nachdem er ihr zweimal den Stock geworfen und sie ihn zweimal zurückgebracht hatte, sprach er. »Willst du, dass ich dazu was sage?«
Sie hob die Schultern. Besonders viel hatte sie ihm ja eigentlich nicht erzählt.
»Erstens: Denk nicht, dass ich nicht heule. Das macht nur jeder anders. Zweitens: Ich glaube, es bringt nichts, sich zu vergleichen. Wenn du dir in den Finger schneidest, blutet es und schmerzt, ganz egal, ob jemand anders sich ein Bein abgehackt hat.«
Sie ließ seine Worte nachklingen, und ihr fiel die betonte Gleichgültigkeit des ersten Teils auf – und die Geschwindigkeit, mit der er den zweiten nachgeschoben hatte. »Stand das auch in dem Kalender?«
»In welchem … ah. Nein, das ist von mir.«
Auf einmal kamen die Worte von allein. »Ich habe einen Zwillingsbruder, Espen«, sagte sie. »Als wir klein waren, brauchte er sehr viel Aufmerksamkeit. Für mich war nicht mehr viel übrig, aber irgendwie war das okay. Ich verstand, dass er das dringender brauchte als ich, und ich kam klar – zumindest, bis unsere Mutter unheilbar krank wurde.«
»Mist. Was hatte sie? Oder lebt sie noch?«
»Huntington. Kennt fast niemand, zerstört aber ganze Familien. Es ist ziemlich unschön. Ich kannte meine Mutter nie symptomfrei, nur irgendwann wurde es halt noch schlimmer. Ich habe mir so gewünscht, dass alles normal bleibt.«
»Aber das tat es nicht.«
»Nein. Dabei habe ich mir wirklich Mühe gegeben.« Ohne Vorwarnung war sie wieder acht Jahre alt und deckte den Sonntagsfrühstückstisch. Die leisen Geräusche aus dem Bad, wo Krister ihrer Mutter beim Anziehen half, und aus Espens Zimmer, wo ihr Vater ihn fragte, ob die Bauchschmerzen weg waren und er zum Frühstück kommen könne, überlagerten das Heulen des Winds. Sogar das Ticken der alten Wanduhr war da. Und das Krachen, mit dem der Teller mit dem Rührei runterfiel und zersprang und sie auf einmal wusste, dass nichts wieder gut werden würde, weil keine Mühe der Welt dafür ausreichen würde.
»Was ist passiert?«
»Sie ist gestorben, nachdem sie viele Jahre lang immer … weniger wurde. Ich habe getrauert, natürlich, sie war meine Mama. Aber ein Teil von mir war auch froh, weil ich dachte, dass Papa jetzt vielleicht wenigstens mehr Zeit für mich haben würde. Und mein eigener Schmerz erschien mir so unwichtig gegenüber dem, den er empfand.«
»Ging die Rechnung auf?«
»Welche?«
»Hatte er mehr Zeit?«
»Nicht wirklich. Mein älterer Bruder hat sich auch ziemlich viel um Mama gekümmert, und er ist … na ja. Er war fünfzehn. Er hat sich seine eigenen Möglichkeiten gesucht, die Trauer zu kompensieren. Was man mit fünfzehn so tut. Und dazu Espen und ich, die gerade in die Pubertät kamen. Ich wollte Papa nicht auch noch Sorgen machen, indem ich zu viel von ihm verlangte. Es war einfach nicht wichtig.«
»Wie alt warst du?«
»Zwölf.«
»Du warst noch ein Kind!«
War sie das je gewesen? Wahrscheinlich schon, irgendwie. »Es ist lange her. Was Leute immer sagen, wenn sie ausdrücken wollen, es würde nicht mehr wehtun, ich weiß. Aber in diesem Fall stimmt es. Ich habe dir das bloß erzählt, weil das vermutlich der Anfang dieses komischen Musters war: Ganz gleich, ob mich gerade etwas bedrückt – jemand anders hat immer etwas, das mehr Aufmerksamkeit verdient als mein Kleinkram. Und zwar wirklich objektiv mehr Aufmerksamkeit verdient. Und dann fühle ich mich schlecht, weil ich mir was Banales wünsche, wenn andere doch viel größere Probleme haben.«
Es müsste merkwürdig sein, ihm das alles zu erzählen, aber irgendwie war es das nicht. Jo schien sich tatsächlich dafür zu interessieren. »Zum Beispiel?«
»Mein Zwillingsbruder hatte letztes Jahr ein ziemlich heftiges Thema zu bearbeiten. Leben und Tod sozusagen. Jetzt will er unseren dreißigsten Geburtstag umso größer feiern. Ich dagegen würde ihn am liebsten vergessen. Aber ich weiß, wie viel ihm das bedeutet, also feiern wir.«
Jo sprang über eine anrollende Welle hinweg, und Alva trat genau hinein, natürlich, sodass ihr das Wasser in den Stiefel schwappte.
»Es hört sich alles total albern und selbstmitleidig an.«
»Tut es nicht. Warum willst du deinen Geburtstag vergessen?«
»Ich werde dreißig!«, rief sie gegen das Rauschen der Wellen an. »Mein bescheuerter Ex heiratet – okay, das ist eigentlich egal, das war bloß der Auslöser –, meine beste Freundin bekommt ein Kind nach dem anderen, und ich … weiß nicht mal, was ich mit meinem Leben anfangen will. Irgendwie sollte man mit dreißig doch mal was geschafft haben, oder?«
»Du bist immerhin Ärztin mit einer eigenen Praxis. Ich finde das nicht nichts.«
»Die ich geerbt habe. Wer weiß, ob ich ohne diese Option überhaupt Medizin studiert hätte oder vielleicht was ganz anderes.«
»Auf jeden Fall hast du es geschafft, eine freundliche, anziehende Frau zu werden. Auch das finde ich nicht nichts.«
Hatte er gerade ›anziehend‹ gesagt? Wie konnte jemand, der so … so präsent und sichtbar war wie Jo jemanden so Unsichtbares wie sie als anziehend bezeichnen? Während sie noch das Flattern ihres Herzens beruhigte, sprach er weiter.
»Ich hab’s geschafft, mit neunundzwanzig eigenhändig meine Karriere zu schrotten.« Er hob beide Hände in einer Defensivgeste. »Insofern finde ich, du schlägst dich nicht schlecht.«
»Was für eine Karriere war das?«
»Ist ja vorbei.« Seine Zähne blitzten, als er lächelte.
»Sorry.« Irgendwas musste seine Anwesenheit auch mit ihrem Hirn anstellen, sonst hätte sie kaum hinzugefügt: »Ich finde es nur interessant.« Ich finde dich interessant. »Also, ich meine, ich verstehe einfach gern, was Leute antreibt.« Rede nur weiter, lästerte ihre innere Stimme. Es wird mit jedem Satz schöner.
»Verstehe schon.«
Alva wusste nicht, was sie darauf antworten sollte.
Doch mit Jo zu schweigen war nicht unangenehm. An den Steinen vor dem Bootssteg kletterten sie ohne Absprache nach oben und standen schließlich an der Mole. Inzwischen waren die Farben ringsum verblasst. Die Hände in den Jackentaschen vergraben, sahen sie sich an.
Jo lächelte. »Na dann.«
Alva lächelte zurück. »Na dann.«
Sie sah zu ihm hoch. Ihr Gesicht war hell, und ihre Augen schimmerten umso grüner.
Willst du noch mit reinkommen? Auf ein Bier? Oder einen Tee? Nur ein paar Minuten reden, damit ich dir zuhören kann? Damit ich zusehen kann, wie du dir mit den Fingern die Haare in Ordnung bringst, die der Wind durcheinandergewirbelt hat, so wie du es neulich vor der Seehundstation getan hast? Damit ich entdecken kann, was du unter der Jacke trägst und darunter und …
Er sagte nichts davon, kein Wort. Früher hätte er es getan. Früher hatte er viele Dinge getan. Aber aus irgendeinem Grund wollte er, dass sie fragte, nicht er. »Danke für den Spaziergang.«
»Nein, ich danke dir. Es war eine gute Idee.«
»Dann … schönen Abend noch.«
Er nickte. »Dir auch.«
Die Verabredung war zu Ende.
Er sollte jetzt gehen, bevor das Anstarren peinlich wurde oder seine vernachlässigten Hormone ihn doch noch Sachen sagen ließen, die er nicht sagen sollte.
Warum ging sie nicht?
»Was hast du noch vor?« Im linken Auge hatte sie einen braunen Fleck neben der Pupille.
»Mal sehen. Börsennachrichten gucken oder so was.« Super Leistung, Lundahl. Das war so ungefähr das Romantischste, was man sich vorstellen konnte. Willst du mit reinkommen, und ich zeige dir meine Börsennachrichten?
»Klingt nach einem vergnüglichen Abend.« Und sie hatte blasse Sommersprossen auf der Nase, eine saß genau in der Mitte zwischen den Augenbrauen.
»Ja.« Pause. »Und du?«
»Ich denke, ich werde rebellisch ein paar Praxis-T-Shirts bügeln.«
Jo lachte. »Viel Spaß.« Wilma rollte sich zu seinen Füßen zusammen.
Eine Strähne kastanienbrauner Locken wehte Alva ins Gesicht. Sie strich sie aus der Stirn. »Ich sollte nach Hause gehen. Im Stehen wird mir kalt.«
Wurden Lippen nicht bleich, wenn jemand fror? Ihre waren rot und herzförmig, mit einem ganz fein definierten Rand.
»Wir texten.«
»Okay.«
»Dann … bis demnächst.«
Er schob die Hände tief in die Jeanstaschen. »Bis demnächst.«
Sie wandten sich gleichzeitig und gleich zögerlich zum Gehen. Unter deutlichem Protest stand Wilma auf und trottete hinter Jo her. Er schaffte immerhin sieben Schritte, erst dann drehte er sich noch einmal um und sah Alva nach, die den kopfsteingepflasterten Hafenvorplatz verließ und von der Dämmerung verschluckt wurde.
Er wusste nicht einmal, ob das Schweben im Kopf am Ende noch da gewesen war. Dafür ging er jetzt ganz unbeschwert, wie beim Einlaufen zu einem Spiel, bei dem noch alles offen stand.
Wilma blieb vor dem richtigen Boot stehen und wartete, bis er ein Handtuch geholt hatte. Waschsalon. Er brauchte einen Waschsalon. Es war Routine geworden, der Hündin die Pfoten abzuwischen, bevor sie die Kajüte betreten durfte. Jo betrachtete, wie sie mit wackelndem Hinterteil die Stufen hinunterkletterte, dann schloss er die Luke hinter sich und hängte die Jacke auf.
Das Smartphone hatte er bewusst nicht mitgenommen an den Strand, wo die neuesten Kommentare zu seinem Norsk-Glitter-Interview nichts zu suchen hatten. Jetzt blinkte es ihn anklagend an. Während Wilma sich knurpsend über ihr Futter hermachte, öffnete Jo mit vor Kälte steifen Fingern die Benachrichtigungen. Kjersti hatte zweimal angerufen, seine Mutter dreimal – innerhalb einer Stunde. Das verhieß in der Regel nichts Gutes. Ebenso wenig wie Kjerstis Textnachricht.
Mama dreht ziemlich frei. Ruf sie an, wenn du Zeit hast, vielleicht hilft das.
Direkt darauf folgte eine Sprachnachricht. Jo legte das Telefon auf den Tisch und spielte sie ab, während er sich vor den Kühlschrank hockte und ratlos hineinsah.
›Und ich weiß, dass du Zeit hast, weil ich deinen nicht existenten Terminplan kenne, du kannst dich nicht rausreden. Ich habe vorhin mit Mama telefoniert, bis mir blaue Hirnflüssigkeit aus dem Ohr gelaufen ist, also bist du jetzt dran.‹
Er holte eine Mohrrübe aus dem Kühlschrank und biss hinein. Kauend schickte er Kjersti eine Antwort.
Blaue Hirnflüssigkeit. Du hast eine eklige Fantasie.
War es schäbig, dass er sich davor drückte, seine Mutter anzurufen, und erleichtert war, in wenigen Wochen auf See und damit unerreichbar für das Dauerdrama zu Hause zu sein?
Er ließ die Schultern nach hinten kreisen. Welche Variante war es wohl heute? ›Du meldest dich ja nie, du liebst mich nicht, alle Männer verlassen mich sowieso‹? Oder schon die Endstufe: ›Du wirst schon sehen, was du davon hast, mich ganz allein zu lassen. Ich hab ja hier noch meine Tabletten‹? Das erste Mal hatte sie kurz nach seinem elften Geburtstag damit gedroht, sich umzubringen. Er hatte mit niemandem darüber gesprochen, nicht mal mit Kjersti. Nur Angst hatte er gehabt, jedes Mal, wenn er vor der Handballhalle wartete und sie sich beim Abholen verspätete. Jedes Mal, wenn sie nicht von der Nachtschicht zurück war, bevor er in die Schule musste. Wie sollte man sich auf den Unterricht konzentrieren, wenn man elf Jahre alt war und nicht wusste, ob man beim Heimkommen die Polizei in der Küche vorfinden würde?
Aber irgendwann hatte er aufgehört, Angst zu haben, und stattdessen war die Wut gekommen. Wie konnte sie es wagen, ihm seine schlechten Zensuren zum Vorwurf zu machen? Ihm überhaupt einen Vorwurf zu machen? Sie war es schließlich, die dafür gesorgt hatte, dass er jahrelang auf einem instabilen Lavafeld leben musste, nicht andersrum. Er merkte, dass er die Zähne und Lippen fest zusammengepresst hatte. Es tat fast weh, den Kiefer zu lockern.
Wilma stupste ihn an, und er setzte sich neben sie auf den Boden und kraulte sie, während er den Kontakt seiner Mutter aufrief und das Headset anschaltete. Besser, er brachte es hinter sich. Doch bereits beim ersten Klingeln trieb es ihn wieder hoch. Er musste stehen, wenn er mit ihr sprach. Herumlaufen in der auf einmal zu kleinen Kajüte.
Alvas Mutter war wirklich gestorben, während seine ihn seit Jahren mit ihrem Scheiß unter Druck setzte.
»Endlich rufst du mal an. Ich dachte, dich gibt es schon nicht mehr.«
Früher war bei dieser Art von Begrüßung sein Brustkorb eng geworden, und er hatte angefangen, sich zu rechtfertigen. Inzwischen konnte er weiteratmen, sehr bewusst. »Ich freue mich auch, deine Stimme zu hören.«
»Mach dich nicht lustig, ich bin immer noch deine Mutter. Mir geht es nicht gut, und es ist wohl kaum zu viel verlangt, wenn du dich ein wenig für mich interessierst.«
»Nach allem, was du für mich getan hast, ich weiß.«
»Und das ist eine Menge! Ohne meine Aufopferung wärst du niemals –«
Jo holte Luft. »Mama, ich kann das gerade nicht, echt. Erzähl mir von deinem Buchprojekt.«
Sie schniefte. »Ich fühle mich allein gelassen, Joakim. Eine Mutter kann erwarten, dass ihre Kinder für sie da sind. Aber Kjersti arbeitet rund um die Uhr. Und du hättest jetzt endlich mal Zeit, dich um mich zu kümmern. Stattdessen bist du sang- und klanglos verschwunden, um dich in deinem Selbstmitleid zu suhlen.«
»Merkst du selbst, oder?«, murmelte er, aber es war wohl zu leise, als dass sie es hätte hören können.
»Über diese grauenhafte Einsamkeit kann mich das beste Projekt nicht trösten. Irgendwann werde ich tot sein, und du wirst bereuen, nicht mehr Zeit mit mir verbracht zu haben.«
Um seine Hände zu beschäftigen und nicht nur zu Fäusten zu ballen, ließ er Wasser ins Spülbecken laufen und kippte das letzte Waschpulver hinein, das er hatte. Es gelang ihm, sie auszublenden, fast jedenfalls. Unterwäsche, Socken, T-Shirt. Mehr Platz zum Trocknen gab die Dusche nicht her. Seine Mutter sprach davon, dass sie ihren Teilzeitjob gekündigt hatte, weil die Kollegen unerträglich waren. Natürlich. Schuld war nie sie selbst, nie. Ihre Worte fingen an, hinter seiner Stirn zu einem unerträglichen Sirren zu werden. Entweder er legte sofort auf, er schlug irgendwas kaputt, oder … er atmete durch und fing sich. »Erzähl mir trotzdem von deinem Buch.«
Naseputzen antwortete ihm.
»Bitte, Mama. Es interessiert mich.«
»Ach, es ist nichts, nur eine Spielerei.« Es zischte, und Jo roch beinahe den süßlichen Rauch des Joints. Immerhin würde sie dann aufhören zu heulen.
Er wartete, sie rauchte. Und tatsächlich hatte ihre Stimme die weinerliche Schärfe verloren und war nur noch ein wenig verwaschen, als sie weitersprach. »Leonid hat mich darauf gebracht. Er sagte, ich hätte eine große Weisheit und könne mich wunderbar ausdrücken.«
Jo fragte nicht, wer Leonid war. Es spielte keine Rolle, wo dieser auf dem stetig rotierenden Karussell im Leben seiner Mutter vorbeizog. Aktueller Liebhaber, bester Freund, den sie je hatte, Mann der neuen, wirklich so netten Kollegin – das Karussell würde sich weiterdrehen und Leonid davontragen, und Kjersti und er würden die Scherben aufkehren, wie sie es immer taten.
Jo knetete die Wäsche mit mehr Kraft als nötig und wrang sie aus, bis ihm die Hände schmerzten. Endlich, als er die Socken an die Leine in der Dusche klipste, schaffte er es, das Telefonat zu beenden. Sollte es einem nicht eigentlich besser gehen, nachdem man mit seiner Mutter gesprochen hatte? Stattdessen war er ausgelaugt und übellaunig. Er setzte sich zu Wilma auf den Boden.
Lange saß er einfach da, nichts denkend, ließ sich von den Wellen schaukeln und kraulte Wilma hinter dem Ohr. Fast hätte er nicht mitbekommen, dass sein Smartphone eine neue Nachricht anzeigte. Er tastete neben sich, und als er sah, wer geschrieben hatte, verschwand endlich der letzte Rest seiner unterdrückten Wut.
Wenn du magst, könnte ich dir demnächst unseren Hausberg zeigen. Ist ein bisschen abwechslungsreicher als der Strand.
Wo vorher Leere und Erschöpfung gewesen waren, breitete sich jetzt ein gutes, warmes Gefühl aus. Jemand wollte Zeit mit ihm verbringen, einfach so. Nicht weil er die rechte, untere Ecke mit tödlicher Sicherheit traf, nicht weil er im Zweifelsfall ein Spiel herumreißen konnte. Und aus keinem der anderen tausend Gründe, die alles mit seiner Leistung, aber nichts mit ihm als Mensch zu tun hatten. »Alva«, sagte er leise. Sie hatte ihn gefragt.