Acht

Den Heimweg über hatte Alva vor sich hin gelächelt, so sehr, dass sie es selbst gemerkt hatte. Und am nächsten Morgen musste sie auf dem Weg vom Bad zur Kaffeemaschine ein paar Schritte tanzen, um die Energie zu kanalisieren, die in ihr kribbelte. Sogar als sie in die Praxis kam, hatte sie noch extrem gute Laune.

Kris war schon da. »Hey, Schwesterchen.«

»Hallo, mein Storebror. Ist es nicht ein wirklich schöner Tag heute?«

»Wer ist diese aufgedrehte Person? Wo ist meine Schwester?«

Alva schenkte ihm ihr breitestes Lächeln. »Deine Schwester hat heute Morgen Tanzen als Frühsport ausprobiert. Vielleicht mach ich das jetzt öfter. Wie geht’s Theo?«

»Er hatte wohl nur was Falsches gegessen. Annik kommt gleich.«

Was bedeutete, Alva musste heute niemandes Aufgaben oder Schichten übernehmen, sondern konnte zur normalen Zeit nach Hause gehen. Früh genug, um möglicherweise einen kleinen Abstecher zum Hafen zu machen. Einen ganz kleinen, nur um nach Milla zu sehen. Und vielleicht konnte sie bei der Gelegenheit kurz Jo und Wilma Hallo sagen.

Doch Millas Mutter kam ihr zuvor.

Kaum dass die Praxis offiziell geöffnet hatte, stand sie in Alvas Sprechzimmer, blass und wieder genauso jung und hilflos aussehend wie an dem Tag, an dem Alva sie fiebrig vorgefunden hatte.

Automatisch schaltete Alva ihre Arztstimme an. »Setz dich. Was kann ich für dich tun?«

»Milla ist immer noch krank. Es wird und wird nicht besser. Und ich muss arbeiten.«

»Wo ist Milla jetzt?«

»Sie schläft seit gestern Nachmittag, aber sie wacht immer wieder auf und hustet. Im Moment passt eine Nachbarin auf sie auf.«

Alva sah Millas kleinen, hustengeschüttelten Körper vor sich, auf diesem Futonbett an der kalten Wand. »Was macht deine Suche nach einer neuen Wohnung?« Sie hatten beim letzten Besuch bereits darüber gesprochen. »Das ist wirklich wichtig, sonst wird Millas Husten nie besser.«

»Ich weiß. Aber es ist nicht so einfach. Wo sollen wir denn so schnell hin?«

Kurz überlegte Alva, ob sie Jessica einen Vortrag über chronische Sauerstoffunterversorgung oder wahlweise die Auswirkungen von Schimmelpilzbelastungen halten sollte. Aber nichts davon würde das schlechte Gewissen der jungen Frau verkleinern – oder ihre Überforderung. Der Gedanke, den sie neulich nur kurz hatte vorbeiziehen sehen, wurde auf einmal greifbar. Sie musste mit Krister darüber sprechen.

»Maximal noch eine Woche, okay? Sonst muss ich euch ins Krankenhaus überweisen, wo Milla sich auskurieren kann. Ihr müsst aus dieser Wohnung raus.«

»Aber ich kann sie nicht ins Krankenhaus bringen! Ich muss arbeiten, wie soll ich gleichzeitig bei ihr sein? Und umziehen … wo sollen wir denn hin? Meine Eltern haben mich rausgeworfen. Hier habe ich wenigstens einen Job. Und ich will nicht, dass man mir Milla wegnimmt!«

Alva dachte an die kalte, schmutzige Wohnung bei ihrem ersten Besuch. »Darüber denken wir nach, wenn es so weit ist. Das Wichtigste ist, dass Milla gesund wird und du zu Kräften kommst.«

Sie begleitete die junge Frau zur Rezeption und übergab sie Tilda mit einer Reihe von Verhaltensanweisungen und dem Auftrag, am nächsten Tag mit Milla wiederzukommen. Sie wollte den Kinderschutz nicht einschalten, aber zur Not würde sie es tun.

Nachmittags war sie mit Abstand die Letzte, die die Praxis verließ. Den kurzen Heimweg nutzte sie wie immer für den Versuch, die Gedanken an ihre Patienten abzuschließen. An einigen Tagen gelang das besser, an anderen schlechter. Heute war einer der schlechteren. Fast hätte sie deswegen Krister nicht gesehen, der vor dem Haus, in dem Annik wohnte – und er auch die meiste Zeit –, etwas in den Kofferraum seines treuen alten Model 3 lud. Statt nach Hause ging sie zu ihm hinüber. »Ist das dein Basejumping-Zeug?«

»Ja. Ich lagere es bei Tom ein, damit es aufhört, nach m-mir zu rufen.«

Sein Stottern verriet ihr, dass die Sache nicht ganz so einfach war, wie er vorgab, und vielleicht wäre es auch schlauer gewesen, die Ausrüstung zu verkaufen und nicht einzulagern, aber das war nicht ihr Problem. Sie klopfte sich innerlich auf die Schulter. Manchmal konnte sie das: Probleme dort lassen, wo sie hingehörten.

»Aber wo wir gerade dabei sind: Kannst du im Mai mal ein Wochenende auf Theo aufpassen, falls Rose keine Zeit hat? Ich würde Annik gern nach Stockholm zum Indoor-Skydiving einladen.«

»Du willst sie anfixen.«

Er zuckte lässig die Schulter.

»Ich glaube ja ohnehin nicht, dass du mit dem Rücken je wieder springen solltest, aber wer bin ich schon, dir das zu sagen. Was deine Frage angeht: Klar kann Theo zu mir kommen. Bestimmt freut er sich, wenn er bei den Robben helfen darf.«

»Danke, Schwesterchen. Du bist die Beste.«

»Kein Problem.« Sie sah zum Haus hinüber. »Du wohnst inzwischen eigentlich zu hundert Prozent hier, oder?«

»Achtundneunzig.«

»Könntest du über die letzten zwei bei Gelegenheit nachdenken?«

»Wieso?«

Obwohl er es gewesen war, der zuerst die Idee mit Millas Schimmelbelastung gehabt hatte, setzte sie ihm das Problem noch einmal von vorn auseinander und erzählte im Detail von den Umständen, unter denen Jessica und Milla jetzt wohnten. Sein Gesicht war unlesbar, und sie ertappte sich dabei, wie sie immer schneller sprach. »Diese Wohnung dürfte überhaupt nicht vermietet werden«, schloss sie.

»Und?«, fragte Krister. Es klang ganz weich.

»Und da hatte ich die Idee, dass die beiden in deine Wohnung einziehen könnten, bis sie etwas Neues gefunden haben.«

»Meine Schwester, die Retterin der Entrechteten.« Er schüttelte amüsiert den Kopf.

»Das ist keine Aussage.«

»Okay.« Krister strich sich die Haare aus der Stirn. »Okay.«

»Was bedeutet das?«

»Dass ich bei Gelegenheit darüber nachdenken werde, wie du gesagt hast. Bei Annik und Theo einzuziehen ist nicht …«

»Du hängst doch ohnehin ständig da rum!«

»Es ist ein Unterschied zwischen ›ständig da rumhängen‹ und ›offiziell dort wohnen‹. Ich kann das nicht über Anniks Kopf hinweg einfach entscheiden. Außerdem mag ich meine Wohnung, ich brauche ab und zu meine eigene Welt. Und ich fühle mich überrumpelt und habe im Gegensatz zu dir kein Weltrettergen.«

»Deswegen fliegst du auch Rettungshubschrauber.«

»Das mache ich, weil es sexy ist.«

»Sicher.«

Krister lächelte. »Ich denke drüber nach. Und ich spreche mit Annik. Aber bitte mach Jessica keine Hoffnungen irgendwelcher Art.«

Nun, das war wenigstens etwas. Sicherheitshalber schrieb sie noch in die Ortsgruppe, ob jemand kurzfristig seine leer stehende Ferienwohnung vermieten würde.

 

Jo und sie hatten sich für den Samstag verabredet. Schon als Jugendliche hatte Alva festgestellt, dass manche Tage länger waren als andere. Es waren die, an denen man um zehn morgens schon das Gefühl hatte, es müsste mindestens zwei sein – bis man auf die Uhr sah. Der Freitag vor dem Samstag gehörte zu diesen Tagen. Verblüffenderweise ging er dennoch vorbei. Am Abend dachte Alva einigermaßen ausführlich darüber nach, welche Kleidung sich für den Ausflug eignete. Im Anschluss überlegte sie ebenso ausführlich, ob es angemessen war, ein Picknick einzupacken. Und irgendwann schlief sie ein.

Als sie die Augen öffnete, war es Samstag, und die Sonne schien erstaunlich intensiv für die erste Aprilwoche.

Die Luft war klar, der Himmel blau, die Möwen weiß. An keinem anderen Tag hätte sie Jo lieber die Umgebung von Lillehamn gezeigt. Es war so perfekt, dass sie sich sogar dabei ertappte, nach Gewitterwolken Ausschau zu halten, aber bisher wehte bloß eine angenehme Brise.

Nach einem schnellen Frühstück – eine Schale Müsli mit Früchten und zum Nachtisch der letzte Schokoladenkeks, den sie noch hatte – verwarf sie ihre Überlegungen vom Vorabend. Die kniehohen Stiefel machten zwar – wenn man Svea glauben konnte – schöne Beine, aber sie waren zu unbequem, um damit zum Floefossen hochzugehen. Also Wanderboots zur Bluejeans, was sollte es. Unter dem Anorak trug sie eins ihrer Longsleeves, das sie mochte, weil sein rötliches Dunkelbraun die Farbe ihrer Haare spiegelte.

Kein Picknick.

Der Weg zum Hafen war nicht weit – beziehungsweise wäre er nicht weit gewesen, hätte Alva nicht gegen diese Wand aus Aufregung und Angst und Ein-Spaziergang-ist-ja-nun-wirklich-kein-Grund-durchzudrehen anlaufen müssen. Doch wie es aussah, war sie bereits außer Atem, als sie den Anfang des Stegs erreicht hatte. Nach dem letzten Treffen war sie unbewusst davon ausgegangen, Jo wieder dort anzutreffen, aber sie sah niemanden. Immerhin musste sie nicht forschend den Steg abschreiten und dabei fremden Leuten den Lachs vom Frühstücksbrot gucken, um die richtige Jacht zu finden, wie es im Sommer nötig gewesen wäre.

Jos Jacht hieß – etwas ratlos betrachtete Alva die drei Buchstaben am Bug – FYF. Füff. Fiff? Nun, auf jeden Fall kreativer als Nordwind oder Irmgard. Sie klopfte gegen das Vorschiff.

Von innen kam ein dumpfes Poltern, dann: »Komme!« – und auf der Stelle vergaß ihr Herz, dass es eigentlich hatte gleichmäßig weiterschlagen wollen. Es war albern. Ihr Mund war trocken.

Jos Kopf tauchte im Heck des Schiffs auf, gleich darauf trabte Wilma gelassen am schwankenden Rand des Oberdecks entlang. Vielleicht gab es tatsächlich Hunde, die sich auf Schiffen wohlfühlten, wenn man sie früh genug daran gewöhnte. Jo schloss mit einem Ratschen das Luk.

Er bewegte sich anders auf dem Schiff als sie, Kris oder Espen es taten, vorsichtiger. Vielleicht lag es daran, dass er nicht direkt am Wasser aufgewachsen war. Eher so ein Feriensegler. Mutig, dass er sich dann gleich rauswagen wollte – oder tollkühn?

Mit einem kontrollierten Satz sprang Jo auf den Steg und federte so leicht ab, dass es beinahe kein Geräusch machte. Zumindest keins, das das Kreischen der Möwen oder das Rauschen der Wellen übertönt hätte. »Hi.« Er lächelte und blinzelte gegen die Nachmittagssonne, die seine Augen silbrig schimmern ließ.

»Hi.«

Er zog die Unterlippe zwischen die Zähne, für einen winzigen Moment blitzte seine Zungenspitze auf. Unter dem Kragen des Wollfleece-Pullovers sah Alva es nicht, aber sie war sich sicher, Jo schluckte im selben Augenblick wie sie. »Wollen wir?«

»Ja.« Endlich löste sie den Blick.

Wilma stand auf der Jacht und winselte. Alva sah zu ihr hinüber. Hatten sie das die ganze Zeit überhört, oder hatte der Hund eben erst damit begonnen? Wie lange hatten Jo und sie salzsäulenmäßig auf dem Steg gestanden?

»Komm, Wilma.« Jo klopfte mit beiden Händen auf seine Oberschenkel. Er hatte trainierte Oberschenkel, aber nicht unangenehm. An Alva gewandt, erklärte er: »Sie kann das eigentlich. Wenn sie es eilig hat, springt sie inzwischen sogar richtig schnell aufs Boot oder wieder runter. Aber wir waren erst vor einer Stunde draußen. Wahrscheinlich fragt sie sich, was das jetzt schon wieder soll.«

»Na los, Wilma. Ich kaufe dir ein Fischbrötchen.« Alva wandte sich zum Gehen. Man musste bloß sicher genug sein, dass der Hund einem folgte.

Doch wer neben ihr ging, war Jo, der sie angrinste. »Sie ist unbestechlich.«

Alva ging forscher. »Meinst du?«

Kurz darauf erklang hinter ihnen der dumpfe Aufschlag von Pfoten auf Holz. Jetzt war es an ihr, ein triumphierendes Lächeln zu unterdrücken.

»Verräterisches Vieh«, murmelte Jo.

»Sie weiß nur, mit wem sie sich gut stellen muss, wenn sie ein Fischbrötchen haben will.«

»Brötchen sind nicht besonders gesund für Hunde, vermute ich.«

»Mist. Da magst du recht haben.« Alva hob unschuldig die Hände. »Aber was soll ich tun? Ich habe es versprochen.«

Er senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Raunen. »Vielleicht habe ich einen Plan, wie wir die Sache retten können.«

»Erzähl.«

Sie waren nebeneinander in ein gleichmäßiges Schlendertempo gefallen, ganz selbstverständlich hatten ihre Schritte sich aneinander angepasst. Alva ertappte sich dabei, ihren eigenen Herzschlag zu spüren.

»Wir lenken Wilma ab und schleichen uns am Strand entlang zum Wanderpfad statt durch den Ort.«

Kein Grund, erstickt und viel zu hoch herumzulachen. Sie tat es dennoch. Wie über jeden anderen Satz, den Jo in den nächsten Minuten von sich gab, während sie durch den Sand stapften. Und dazu erzählte sie lauter unsinniges Zeug, als hätte sie fünf Liter Kaffee auf nüchternen Magen getrunken. Himmel.

Am Ende des Strands stiegen sie über die Felsblöcke nach oben zur Straße, wo der Pfad zum Hausberg begann. Man musste Brit Janssons Schafweide überqueren, die sich den Hang hochzog und dann in den steileren Schotterweg überging.

Jo blieb stehen und verfolgte mit dem Blick die Serpentinen, die sich den Berg emporzogen. »Du hast nicht gesagt, dass das ein Work-out wird.«

»Ehrlich gesagt habe ich nicht dran gedacht.« Was ein verflixter Fehler war. Kris behauptete, die Erhebung habe die Bezeichnung Berg nicht verdient, aber man konnte immerhin vom Gipfel aus ganz Lillehamn und einen Teil des Fjords überblicken, und er war anstrengend genug für Alvas Bedürfnisse. Jetzt war es leider zu spät, darüber nachzudenken, dass sie mit verschwitzt am Kopf klebenden Haaren vermutlich keine besonders gute Figur abgeben würde, während Jo, wenn sie ihn richtig einschätzte, wohl eher in Kristers Kategorie fiel, den dieser Aufstieg nicht einmal atemlos machte. Immerhin hatte sich ihr befremdlicher Lachdrang gelegt.

Sie öffnete das Schafgatter.

»Wie geht es deiner Frustration eigentlich?«, fragte Jo.

Alva schloss das Tor hinter ihnen und verriegelte es, indem sie die dafür vorgesehene Drahtschlinge wieder um den Pfosten legte, während sie nach einer Antwort auf Jos Frage suchte. Näher kommendes Läuten zeigte an, dass die Schafe nachsehen kamen, wer sich auf ihrem Territorium herumtrieb.

Noch bevor Alva ihn darauf hinweisen konnte, nahm Jo Wilma kürzer. Ihm schien nicht viel zu entgehen.

»Ich weiß es nicht«, beantwortete sie schließlich seine Frage. »Absurd, oder? Aber ich habe tatsächlich keine Ahnung. In letzter Zeit habe ich genügend Aufgaben gefunden, um diesen Teil meines Lebens gepflegt ignorieren zu können.«

»Was für Aufgaben?«

»Fragst du das, damit ich dir einen weiteren Monolog liefere und dein Kopf zu schweben anfängt? Ich komme mir blöd vor, die ganze Zeit über mich zu sprechen.«

»Aber du interessierst mich«, sagte Jo ohne jede Spur von Verlegenheit. »Und um die Frage zu beantworten: Nein, tue ich nicht. Mit dem Aufstieg hier scheint der Schwebezustand ein Problem zu haben.«

Du interessierst mich, hatte er gesagt. »Also muss ich jedes Mal mit dir einen Berg hochsteigen, wenn ich nicht will, dass du glasige Augen kriegst?«

Jo lachte nur. »Zum Beispiel.«

Sie hätte wirklich vorher darüber nachdenken sollen, wie verflucht steil dieser Anstieg war. ›Anziehend‹ traf vermutlich auf moppelige, unfitte Frauen, die peinlich langsam den Schafhang hinaufkeuchten, eher nicht zu.

Drei von Brits Schafen waren in respektvollem Abstand stehen geblieben und sahen zu, wie Alva mit Jo und Wilma ihre Weide wieder verließ.

»Was hast –«, setzte Alva im selben Moment an, in dem Jo fragte: »Welche –«

Sie lachten.

»Du zuerst.«

»Nein, du.«

»Welche Aufgaben hast du dir gesucht? Bringst du deinen Robben jetzt Kunststücke bei?«

»Kalt. Das macht Bo, unser Biologe. Manchmal auch Nina. Sie ist die Stationsleiterin.«

»Du besuchst einen Klöppelkurs?«

»Noch kälter.«

»Passt auch nicht zu dir.«

»Ich weiß nicht mal genau, was Klöppeln ist.«

»Siehst du? Passt nicht. Erzähl, was ist es?«

So kurz sie konnte, ohne Wichtiges auszulassen, berichtete sie ihm von Milla und Jessica. »Die offensichtliche Lösung wäre, wenn die beiden in die Wohnung über meiner zögen. Aber erstens ist mein Bruder, der dort eigentlich wohnt, nicht davon überzeugt, sich aus seinen vier Wänden rausschmeißen zu lassen und –«

»Wäre ich auch nicht.«

»Er wohnt dort kaum noch. Ohnehin ist er meist bei seiner Freundin. Aber ich weiß auch nicht, ob es nicht trotzdem merkwürdig wäre. Zu nah irgendwie.« Inzwischen war sie so außer Atem, dass sie nur noch langsam nach oben stapfte und zwischen den Sätzen nach Luft schnappen musste.

Jo schwieg, nachdem sie ihren Bericht beendet hatte. Als ein Felsen auf dem Pfad eine besonders hohe Stufe bildete, machte er einen großen Schritt voran und reichte ihr dann die Hand. »Du machst dir sehr viele Gedanken darüber, ob es den Menschen gut geht, die du magst.«

»Ja.« Das war doch normal, oder?

»Aber du weißt nicht, wie es dir geht.«

Sie zog sich hoch und ließ seine Hand wieder los, weil sie ihre in die Hüften stemmen musste, um mehr Luft in den Brustkorb zu lassen. »Sonst bin immer ich diejenige, die andere psychoanalysiert.«

Jo keuchte bei Weitem nicht so wie sie, aber auch sein Gesicht war gerötet, und auf seiner Stirn glitzerte es. Wenigstens. »Stets zu Diensten. Ich hobbypsychoanalysiere dich gern, wenn du mir dafür die Umgebung zeigst. Allerdings habe ich aus echtem Interesse gefragt.«

Sie brachte nur ein lahmes »Danke« heraus, weil er viel näher neben ihr stand, als der Pfad es verlangt hätte. Sein ganz eigener Duft mischte sich mit dem des dampfenden Kiefernwalds.

Er reichte ihr eine Wasserflasche, die er getragen hatte, und sie achtete sorgfältig darauf, seine Finger nicht zu berühren, als sie sie annahm. Sie trank ein paar Schlucke und gab ihm die Flasche zurück. Seine Fingerspitzen streiften ihre, verharrten, und ihr Brustkorb wurde ein bisschen zu klein für ihr Herz. Aber Jo sah nicht zu ihr, sondern setzte die Flasche ebenfalls an. Alva fragte sich, ob er genau wie sie daran dachte, dass seine Lippen dieselben Stellen des Flaschenhalses berührten wie zuvor ihre. Vermutlich eher nicht. Garantiert war sie knallrot im Gesicht, und ihre Haare klebten schwitzig an der feuchten Stirn.

»Wollen wir weiter?«

Sie nickte.

Die übelste Steigung lag hinter ihnen, der Weg führte jetzt nur noch sanft bergauf. Ihre Schritte knirschten gleichmäßig auf dem steinigen Waldweg.

»Warst du schon mal hier?«, fragte sie.

»Nicht so weit oben.«

»Du wirst es mögen.«

»Ich mag es jetzt schon.«

»Auf dem Plateau wirst du es noch mehr mögen.«

»Du auch?« Das Lachen in seiner Stimme war ziemlich deutlich, aber es war ein freundliches Lachen.

»Ja«, sagte sie. »Ich auch.«

»Sicher?«

Sie hätte ihn mit ihrem Kram in Ruhe lassen sollen. »Nicht immer denke ich nur an andere. Und dich kenne ich noch gar nicht gut genug, dass ich mich selbst darüber vergessen würde.«

»Man weiß es nicht.« Alva mochte diese Kerbe, die sich beim Grinsen neben dem Mund in seine Wange grub.

»Ich mag’s halt, wenn es allen gut geht. Daran ist nichts falsch, oder?«

»Solange du dich selbst nicht vergisst, nein.« Auf einmal lag etwas Intensives in seiner Stimme, ein dunkles Brodeln unter der Oberfläche, das nichts mit ihr zu tun hatte.

»Tu ich schon nicht, schließlich erkenne ich es selbst. Ich habe dir doch von diesem Muster aus meiner Kindheit erzählt. In dem Moment, wo meine Mutter versorgt war, Kris nicht zur Logopädie musste oder was auch immer und Espen gesund war, blieb Zeit für mich. Das ist einfach ein Teil dessen, was ich bin. Und wir tragen doch alle irgendwelche Kindheitssachen mit uns rum.«

Jo schwieg. Sein Nicken war kaum zu sehen, und auf einmal erschien die Armlänge zwischen ihnen unüberbrückbar. Einen Moment lang dachte Alva, sie hätte sich nur eingebildet, dass sie einen guten, summenden, schwingenden Draht zueinander hatten. Sie betrachtete die Muskeln an Jos Unterkiefer. Doch dann atmete er durch, sah sie an und lächelte. »Du hast recht.«

»In weiten Teilen hatten wir eine ziemlich gute Kindheit. Ich meine, sieh dich um.« Sie machte eine allumfassende Geste. »Dort in der Senke haben wir mal eine Hütte gebaut. Wir sind jeden Tag hier hochgegangen, mit Werkzeugen und Seilen bepackt, meine Brüder, Hanne, Leon und ich. Das war, als ich zehn war, glaube ich. Wir haben den gesamten Sommer hier verbracht, gehämmert und gesägt. In der fertigen Hütte haben wir gespielt, dass wir in der Wildnis wohnen. Wenn unser mitgebrachtes Essen alle war, haben wir wilde Heidelbeeren gepflückt und Wasser vom Floefossen geholt – das ist unser Hauswasserfall hier. Einmal hat Hannes Mutter uns auch Pfannkuchen gebracht.«

»Wo ist dieser Wasserfall?« War das Sehnsucht in seinem Blick?

»Gleich dort vorn, um die nächste Felsnase herum. Aber erwarte nichts Großes. Da tropft bloß ein wenig Wasser vom Felsen.«

Aber es war Frühling und der Floefossen satt vom Schmelzwasser, deutlich mehr als ein Rinnsal. Als Jo beide Hände unter den frühlingsüppigen, herabrauschenden Fall hielt, wirkte es beinahe andächtig. »Hier kann man draus trinken?«

»Klar.«

Mit zur Schale geformten Händen schöpfte er Wasser und trank, während Wilma sich schlabbernd der Pfütze am Fuße des Floefossen widmete. Alva füllte derweil die Flasche auf.

Jo richtete sich auf. Seine Augen leuchteten. »Das kommt dir jetzt vielleicht eigenartig vor, aber ich habe noch nie vorher aus einem Wasserfall getrunken.«

»Nicht dein Ernst.«

»Wohl mein Ernst. Ich bin früher selten aus der Stadt rausgekommen.« Er zuckte die Achseln, weiße Zähne blitzten auf. So viel zu Kindheitsthemen, die man mit sich herumtrug.

»Auch nicht im Winter?«, fragte sie. »Ich meine … jeder fährt am Wochenende raus in die Natur zum Skilaufen.«

»Nicht ich.« Seine Haare waren nass und unordentlich aus dem Gesicht gestrichen, in den Wimpern hingen Wassertropfen. Es ließ ihn jünger und weicher aussehen. »Danke dafür. Also, für den Wasserfall.«

Ihr Herz schlug, als wollte es ihr aus dem Hals springen, und sie musste mit aller Kraft gegen den Impuls ankämpfen, abzuwinken und irgendetwas Lässiges zu sagen. »Sehr gern.«

Jo machte einen behutsamen Schritt auf sie zu.

Alva blieb wie festgewachsen stehen, während neben ihr der Wasserfall rauschte und über ihr die Möwen kreischten. So nah stand er vor ihr, dass sie zu ihm aufsehen musste, als er sprach. So nah, dass ihr Fluchtinstinkt sich fast nicht mehr unterdrücken ließ. Wenn ein Mann so dicht bei ihr stand und sie auf diese Weise ansah, dann würde er sie irgendwann küssen, und das wollte sie, das wollte sie unbedingt, aber sie konnte nicht ertragen, dass ihr noch einmal jemand das Herz brach, und sie wollte ihn küssen, und … sie musste schon wieder schlucken.

»Du hast einen Dreckspritzer da neben der Augenbraue.« Seine Stimme war kratzig.

»Mach ihn weg«, flüsterte sie, weil die Luft knapp war und die Warnsignale in ihrem Kopf so schrill, dass nur ein Flüstern durchkam. Und weil sie trotzdem wollte, dass er sie berührte.

Die Spitze von Jos Zeigefinger hinterließ einen flammenden Punkt auf ihrer Haut.

Hätte sie Atem holen können, hätte sie vielleicht blöd gekichert, weil er sich den Erdkrumen ins eigene Gesicht wischte, als er sich an der Nase kratzte. Aber so stand sie nur da und versuchte, gleichmäßig zu atmen und das Gewirr in ihrem Inneren unter Kontrolle zu bekommen. Der Teil, der wollte, dass das hier mehr war, etwas anderes war, als nur ein Spaziergang, versuchte tapfer standzuhalten gegen die Notwendigkeit, sich zurückzuziehen, ihr Herz zu schützen. Und irgendwo dazwischen schaffte sie es, ganz normal zu sprechen. »Du hast dir meinen Fleck auf die Nase gerieben.«

»Mach ihn weg.« Noch rauer als vorher.

Alva hob die Hand. Sie spürte Jos Haut überdeutlich an der Fingerkuppe, aber der Dreck war hartnäckig.

»Erledigt?«

Sie schüttelte den Kopf, während sie den Blick nicht von seinen Lippen abwenden konnte, weil er eben seine Zeigefingerspitze mit dem Mund befeuchtete und dann selbst versuchte, den Fleck zu entfernen.

»Hier?«

»Bisschen weiter rechts.« Die Luft summte zwischen ihnen. Jo war immer noch so furchtbar nah. Wenn er das Summen auch wahrnahm, dann müsste er sie jetzt … sie ihn jetzt …

Alva machte einen Schritt zurück in die Sicherheit. Hatte Jo aufgeatmet? »Wo ist eigentlich Wilma?«

»Wieso, sie …« Er sah sich um. »Scheiße! Ich Vollidiot.«

Es war ein Automatismus, den sie früh gelernt hatte. In dem Moment, in dem ihr Gegenüber die Balance verlor, wie subtil das auch geschah, wurde sie selbst ruhig. »Wo würdest du hingehen, wenn du ein Hund wärst?«

»Keine Ahnung. In den Wald? Kaninchen jagen? Wilma!« Jo ballte die Fäuste. »Fuck.«

»Wenn sie hier in der Nähe unterwegs wäre, würden wir das hören. Knackende Zweige, Rascheln, und die Vögel würden richtig Alarm schlagen. Wilma!« Aber es gab tausend Gerüche, die den Hund ablenken konnten. Vermutlich schnüffelte er gerade einer Fährte hinterher und nahm nichts anderes wahr.

»Vielleicht wollte sie nach Hause gehen, weil wir ihr zu langweilig waren.«

»Eher wohl dahin, wo sie war, bevor ich sie gefunden habe.«

Alva schüttelte den Kopf. »Hat sie vorher schon mal versucht, von dir wegzulaufen? Ich hatte den Eindruck, sie ist gern bei dir.«

»Ich füttere sie. Hunde sind Opportunisten. Wenn es woanders was Besseres gibt, ist sie weg, da bin ich sicher.« Irgendetwas ließ Alva denken, dass er nicht nur von Wilma sprach.

»Ich glaube, du unterschätzt das, was zwischen euch ist. Gehen wir zurück und sehen nach, ob sie nach Hause zu deinem Boot gelaufen ist? Wenn nicht, kommen wir wieder hier hoch.« Allein der Gedanke, den Aufstieg noch einmal machen zu müssen, ließ ihre Oberschenkel brennen.

»In der Zeit läuft sie bis nach Jørpeland. Wilma!«

Es gab nicht viele Möglichkeiten, außer hier noch eine Weile zu rufen und dann zurückzugehen und das Beste zu hoffen.

»Wenn sie nicht zu Hause ist, kann ich in die Ortsgruppe schreiben, dass du sie suchst.«

Jos Gesicht zeigte deutlich seine Zweifel.

»Fällt dir was anderes ein?«

»Nein. Ich hoffe nur, sie hat sich nicht mit der Leine irgendwo verheddert.«

»Dann beißt sie sie durch.« Alva machte noch einen halbherzigen Versuch, ein paar Meter in den Wald hineinzugehen, aber der Pfad, den sie als Kinder immer genommen hatten, war von verholzten Brombeerranken überwuchert. Nachdem sie viermal hängen geblieben war und Widerhaken aus ihrer Kleidung gelöst hatte, gab sie auf. Im Sommer würde sie diesen Weg wieder freilegen.

»Wilma!«

Ihre Rufe waren laut und lang gezogen, aber der Hund kam nicht. Schließlich war Jo es, der meinte, sie sollten zurückgehen.

Während sie bergab trotteten, riefen sie, zunehmend desillusioniert, immer wieder nach dem Hund. Alvas Zehenspitzen stießen bei jedem Schritt gegen die Schuhe, und irgendwann protestierte ihr Hintern ebenso wie ihre Knie. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass dieser Abstieg als Kind so anstrengend gewesen war. Sie blieb stehen, schüttelte ihre Beine aus und nahm einen Schluck Wasser.

»Wir waren nicht langweilig.«

Irritiert sah sie Jo an. Er stand ein paar Zentimeter weiter unten als sie, sodass ihre Gesichter beinahe auf derselben Höhe waren.

»Du hast gesagt, Wilma sei weggelaufen, weil wir zu langweilig waren. Aber das stimmt nicht.« In seinen Mundwinkeln saß ein Lächeln.

Alva fiel keine Antwort ein. Statt einer sinnvollen Reaktion grinste sie nur unentschlossen.

»Maximal ein bisschen abgelenkt.«

Die Berührung seiner Hand an ihrer war zu kurz, um ihren Fluchtinstinkt anspringen zu lassen, und sie war federleicht. Aber auf seltsame Weise besiegelte sie etwas zwischen ihnen. Etwas Neues, Gutes. Und einigermaßen Welterschütterndes.

Sie standen noch einen Moment da und sahen sich einfach nur an, bis Jo sagte: »Ich muss den Hund suchen.«

»Wir müssen den Hund suchen.«

Langsam gingen sie den Berg hinunter und riefen immer wieder nach Wilma – die mit unschuldigen, großen Augen vor dem Schafgatter zu Brit Janssons Weide wartete. Als sie näher kamen, klopfte sie mit dem Schwanz auf den Boden.

»Wie im Film, oder?«, fragte Jo. »Der treue beste Freund. Ich setze dich aus, Vieh.«

»Im Film wäre sie nicht so schmutzig. Ich glaube, da hatte jemand mächtig Spaß im Wald.«

Wilma war nicht nur ein bisschen dreckig; ihr Fell starrte vor dem schwarzen Morast, den man überall in den Senken zwischen den Felsen fand.

Jo hockte sich auf den Boden und kraulte der Dalmatinerdame das Ohr – den anscheinend einzigen sauberen Fleck an dem ganzen Hund. »Allmählich gehen mir die Handtücher aus.«

Ungefragt erschien das Bild von Wilma, die sich in einer engen Bootskajüte den Schlamm aus dem Fell schüttelte, auf Alvas innerer Leinwand.

Jo sah zu ihr auf. »Weißt du, ob es im Umkreis von Lillehamn einen Waschsalon oder etwas in der Art gibt?«

»Vergiss es. In Fuglesang ist einer, vom Ortsausgang ungefähr fünf Kilometer die Hauptstraße runter. Aber der hat nur im Sommer geöffnet. Im Winter sind die Besitzer auf Kreta.« Die Lösung war offensichtlich. »Du kannst bei mir waschen.«

»Damit komme ich mir blöd vor.«

»Warum?«

»Weil du eh immerzu die ganze Welt rettest. Außerdem ist Wäsche was Persönliches. Das ist irgendwie … doofes Wort, aber es ist so intim.«

»Es ist nicht intim, es ist bloß Wäsche.«

Seine Zunge flitzte in einer verräterischen kleinen Bewegung über seine Unterlippe, und Alvas ersticktes Lachen drängte schon wieder nach draußen. Jo richtete sich auf. Mit einem Mal stand er wieder sehr nah vor ihr. Sie konnte die Silbersprenkel in seiner Iris sehen und die wenigen struppig abstehenden Haare in seinen sonst glatten Augenbrauen. Das Herz hämmerte ihr in der Brust, und sie spürte einen Hauch von Jos Atem auf der Stirn, bevor er einen schnellen Schritt zurücktrat. »Sagst du, ich soll mich nicht anstellen?«

»Das sage ich. Ich wasche auch manchmal für die Praxis, die Ehre ist also nicht exklusiv die deine. Wilma kannst du im Garten sauber machen, wenn du willst.« Sie plapperte, um nicht die ganze Zeit schlucken zu müssen. »Hast du Wilmas Leine?«