PROLOG
Das Schattenmeer – Sechzig Seemeilen vor Noskiris
Die schweren Ankerketten an Bug und Heck rasselten hinab und fielen, helle Gischt aufspritzend, in die aufgewühlte See. Die Nacht war so finster wie ein Fass voller Teer und weit oben am Himmel hingen schwarzschwere Wolken, aus denen Regen und Schnee stürzten, als wollten sie die Welt damit ersticken. Kaum eine Schiffslänge betrug die Sicht – und das nur, weil entlang der Relings Laternen in eisernen Halterungen saßen und mühsam gegen den Sturm anflackerten.
Auf dem schwankenden Mitteldeck verharrte eine gesamte Schwadron von Elitesoldaten, bewegungslos wie Statuen. In Eisen gehüllt, welches mit der Asche ihrer Feinde gerußt war. Sie kannten weder Hunger noch Durst. Angst war ihnen fremd, denn unter ihren dicken Harnischen schlugen wächserne Herzen.
Die mit silbernen Schlangen verzierten Helme glänzten unheilvoll im kargen Licht und ihre gepanzerten Hände ruhten auf Turmschilden, auf denen das Banner der Einen prangte: ein pechschwarzer Komet vor einer sinkenden blutroten Sonne.
Ein Deck tiefer kniete Shizari, beugte sich über die rauen Planken und malte mit öligen Fingern auf das Holz einen verschlungenen Kreis, aus dem vier Striche führten.
Worte flossen von ihren Lippen.
»Schlange des Himmels. Zerstörerin der Ketten. Gib mir die Kraft, zu tun, was getan werden muss! Segne mich durch dein schwarzes Blut! Du bist mein Weg, mein dunkles Licht.« Die gehauchten Wünsche verklangen, während sie die Silbertafeln auf den Boden auslegte, jeweils vor einen der Striche, sich die Fingerkuppe mit den spitz gefeilten Zähnen aufriss und Namen auf die Tafeln schrieb. Es waren nur vier von zahlreichen Tafeln auf dem Kontinent, aber die vier Wichtigsten.
Shizaris Magie überquerte Meere und Berge, Flüsse und Königreiche – bis zu ihren Kindern, die begierig darauf warteten, dass die Eine ihre Leere füllte.
***
Elk, Sohn von Brant Wolfshall, zog sich zögerlich den ledernen Handschuh von den Fingern, ließ die blasse Hand einen Moment verharren und legte sie dann entschlossen auf die silberne Platte. Ein stechender Schmerz, der bis in seine Eingeweide strahlte, bohrte sich in den jungen Mann. Er wurde aus seinem Turmzimmer in Skander gezogen, eingehüllt in ein schwarzes Glühen, und schließlich erblickte er ihr Antlitz über sich! Es war grausam schrecklich, unerklärlich machtvoll und so überaus erregend. Er erinnerte sich an Windtupfer, wie sie um ihr unbedeutendes Dasein gekämpft hatte, und ein seliges Lächeln bemächtigte sich seiner Lippen.
***
In Dukar bekundete ein anderer Mann seine Demut und erwartete die Befehle der Einen . Begierig berührte er die silberne Tafel.
Sebald Blutspeer weidete sich nicht an ertrinkenden Hunden oder zweifelte an all den Jahren, die er im Schatten seines Vaters hatte verbringen müssen, welcher den Biss und den Hunger nach Macht verloren hatte. Trychon war ein Gigant. Doch der alte Mann hatte sich mit einem kriechenden Frieden abgegeben, der niemals hätte ausgesprochen werden dürfen. Also musste der Sohn das tun, wozu der Vater nicht mehr imstande war.
Längst hatte er die menschlichen Unzulänglichkeiten abgelegt und sich einer neuen, reineren Form zugewandt: der seelentiefen Dunkelheit. Sie war für ihn der Kern allen Seins. Ohne die Schwächen, an denen die meisten litten oder verzweifelten, hatte er sich über sie erhoben – mit einer Krone aus Wachs und einem ebensolchen Herzen.
Mochten ihn unbedeutende Zungen einen Diener schimpfen, sie waren nichts als Könige unter Königen. Er jedoch war die rechte Hand einer Gottheit. Alles darunter war bereits Asche.
Das Schicksal hatte ihn auserwählt. Nicht allein Trychons Thron, sondern ganz Avantlan sollte sein werden.
Ein Stachel saß ihm jedoch hartnäckig im Leib: das entschlossene Gesicht eines Nordmanns. Ihn sterben zu sehen, würde Sebald mit Freuden genießen.
***
In den südlichen Wäldern, die dort begannen, wo die Straße der Götter spurlos verschwand, harrte eine ebenso tückische Frau hinter einem Felsen aus, die nackte Hand wohlig auf die Silbertafel gelegt. Ihr Haar war schwarz wie Ebenholz, die Haut blass und einer Fürstin würdig, die sie auch war. Invidia Penta, deren Bruder erst kürzlich einen tragischen Unfall gehabt hatte und deren Klingen nach dem Rücken eines Mannes gierten, der ihr entkommen war. Sie war der hinterlistige Dolch der Einen.
Von Ehrgeiz zerfressen und von den Männern ihrer Familie maßlos enttäuscht, die geglaubt hatten, es besser zu wissen. Nein, ihr Vater war schon ein Schwächling gewesen und ihr Bruder, Marvellus, ein eitler Narzisst, der lieber Antiquitäten gesammelt hatte, als die Macht in Dukar auszubauen. Beide waren nun tot und als Einzelkind, so stellte sie fest, lebte es sich wesentlich glücklicher.
***
Schließlich war da noch jemand, gut versteckt und verhüllt, als habe derjenige einen Zauber um sich gewoben, der ihn sorgsam verschleierte. Doch diesen vierten Diener begrüßte Shizari mit einem wohlwollenden Nicken. Eine Geste, welche die anderen mit Eifersucht und Neugierde zur Kenntnis nahmen. Aber wer waren sie, dass sie der Dunkelheit widersprachen oder gar in sämtliche ihrer Pläne eingeweiht waren. Dieses Privileg gebührte allein Shizari.
Nun, da alle versammelt waren, die Hände auf die Silberplatten gelegt, begann die Eine , ihre Schlinge um Avantlan zu knüpfen. Knoten für Knoten.
Ihre Stimme, glatt wie Öl, schlängelte sich in die Schatten und wisperte in die Ohren, die gehorsam darauf warteten.
»Sind Eure Truppen bereit, Elk Wolfshall?«
Im fernen Skander schluckte Kaydens jüngerer Bruder seine Furcht hinunter, da er nicht nur gute Nachrichten hatte.
»Ich habe, wie Ihr befohlen habt, sämtliche Truppen Skanders mobilisiert, von Brandawik bis hinauf zu den Häfen.« Er stockte, aber nur kurz, denn die Dunkle roch jede Lüge, jede Unsicherheit, wie eine Schlange, die das Herz eines Hasen pochen hört. »Ich muss Euch leider gestehen, dass einige Truppenteile abtrünnig geworden sind. Sie haben sich Elris Sonner angeschlossen, der sogar die Dreistigkeit besessen hat, in einer nebligen Nacht die Hauptstadt anzugreifen. Er erbeutete einige Schiffe«, stotterte Elk, fasste sich dann aber. »Der Verräter setzte sogar einen Teil der Flotte in Brand, bevor er wieder auf die Klirrende See entschwand.«
Shizari sprach: »Schickt, was Ihr zur Verfügung habt! Bleibt bei dem Plan! Einen Teil der Truppen sendet über die Pässe nach Dukar, einen weiteren zu den freien Stämmen. Nehmt die verbliebenen Schiffe und greift die Küsten der Fjeld an. Eröffnet so viele Fronten wie möglich. Ich will diese Brut nicht in meinem Weg haben, verstanden?«
Elk verbeugte sich tief und unter Schmerzen.
»Was ist mit den Schwarzblutpfeilen ?«, fragte sie und Elk begann zu zittern. Er hatte vor langer Zeit einen Nachtbogen von ihr erhalten, um mit diesen Pfeilen die helle Zauberin auszuschalten.
»Sie alle kamen zurück. Intakt.« Das bedeutete, dass Meridiem nicht von den Pfeilen gefunden werden konnte. Sie musste einen sehr starken Zauber benutzen, der ihren Aufenthaltsort schützte. Ein tiefer Ton grollte aus Shizaris Kehle und Elk duckte sich darunter.
»Prinz Sebald. Ihr habt gehorsam Eure Truppen in Dukar eingenistet«, sprach sie gefasst weiter. »Es ist bald an der Zeit, sie von der Leine zu lassen. Besetzt die Schlüsselpositionen der Stadt! Macht den Fürsten klar, dass sie sich entweder uns anschließen oder sterben. Eine Schatulle mit den dementsprechenden Herzen ist zu Euch auf dem Weg.«
Sebald verneigte sich demütig mit einem Lächeln.
»Invidia, habt Ihr jemanden in Kalandria, wie versprochen?«
»Alles ist vorbereitet, meine Dunkle. Späher auf Schiffen haben den Drachen gesichtet. Er fliegt Richtung Westen – Richtung Eliandars Küsten. Welches Ziel er auch hat, Kayden Wolfshall wird nicht weit kommen.«
»Setzt jedes Mittel dazu ein. Doch vergesst nicht, was ich Euch aufgetragen habe!«
»Niemals. Wollt Ihr noch immer, dass ich den Drachen gefangen nehme, Dunkle?«
»Es mag schwierig werden. Aber ich brauche etwas von ihm. Dafür muss er am Leben bleiben. Trefft Vorbereitungen diesbezüglich! Sobald das Gift vollendet worden ist, werde ich meine Takyn Vor damit füttern und in die Meere entlassen. Ist diese Mission vollbracht, werdet Ihr zu den Türmen segeln und dort die Bergung vorbereiten.«
»Es ist mir eine Ehre, Eine !«, raunte Invidia.
Shizari entließ ihre Diener und drei der Silberplatten verblassten. Eine jedoch blieb blutig.
»Ihr wollt den Preis hinauftreiben, Maus ?«, zischelte sie.
»Ich habe Euch gegeben, was Ihr wolltet. Dennoch traue ich Euch nicht«, kam es unerschrocken zurück. Die Stimme war gedämpft, kaum erkennbar. »Es liegt mir fern, den Preis zu erhöhen. Ich will lediglich sicherstellen, dass Ihr ihn auch bezahlt«, setzte Maus hinzu. Keine Demutsbekundungen, keine Angst.
»Ich werde mein Wort halten«, erwiderte die dunkle Zauberin mit unterdrücktem Zorn.
»Tut es und Ihr werdet bekommen, was Ihr so sehr begehrt. Tut Ihr es nicht, werdet Ihr diesen Krieg verlieren!«
»Ihr wagt es, mir zu drohen?«
»Ich wage es!«
Eine Zeit lang herrschte Schweigen. Doch so sehr die Dunkle sich auch wünschte, mit blanker Furcht ihre Macht zu demonstrieren, sie wusste, dass dies der falsche Weg war – vorerst.
»Wie vereinbart, Maus«, lächelte sie vage. »Sobald das Mondlicht erlischt.«
Auf der anderen Seite gab es keine Erwiderung darauf, was ebenfalls eine Antwort war.
Shizari unterbrach die Verbindung.
Barshan Anur war längst weitergewandert, das wusste sie. Den Plan, auf diese Weise Aira in die Hände zu bekommen, hatte sie jedoch nicht aufgegeben. Neue Wachsungeheuer waren mit dem Blut der Prinzessin angestachelt worden. Sie würden die Windwirkerin finden, früher oder später. Schiffe begleiteten ihre Kinder und sollten das Werk vollenden. Ein mächtiger Gegner war immerhin eliminiert worden – Orcas. Ohne seinen Schutz war es lediglich eine Frage der Zeit, bis das Kloster fallen würde.
Sie hatte in der Zwischenzeit andere Dinge zu tun. Noskiris.
Gallus Felsenfaust brauchte ein neues Herz, bevor der Fettsack unnütz von seinem Thron kippte. Sie brauchte Jandors Armee, denn dort draußen warteten noch immer zahlreiche Feinde. Sie musste diese auslöschen – einen nach dem anderen. Und letztendlich würde sie sich mit Freuden um diese letzten Elementarwirker kümmern und sie in die Finsternis spucken – dorthin, wo sie hingehörten.