– Kapitel 1 –
KAYDEN
Kasai tauchte durch die Wolken.
Komm, Flammenklinge! Wir wollen fallen.
Die Kommunikation zwischen ihnen wurde zusehends besser, aber noch immer hatte Kayden das Gefühl, dass der Drache einen sehr eigenen Sinn für Humor besaß. Er wusste, Kasai meinte mit seinem Ausruf den Tag des Angriffs auf das Kloster, als Kayden von der Mauer gesprungen und
gefallen
war. Der Drache hatte ihn sozusagen
aufgefangen
. Eine Leistung, mit der man nicht allzu oft prahlen sollte, wie er fand.
Er hatte geübt, ohne Sicherung auf dem Drachenrücken zu gehen. Ein erregendes Wagnis, aber es war ihm wichtig, sich auf den Schuppen so sicher wie möglich bewegen zu können. Dabei half ihm der Gleichgewichtssinn, den er auf den Schiffsplanken der
Schlangentöter
verinnerlicht hatte. Und natürlich, dass der Drache dabei seine Flügel kaum bewegte. Eine Abmachung, auf die Kayden nachdrücklich bestanden hatte.
Also war er wagemutig und ein wenig wahnsinnig, wie er dachte, über den Rücken balanciert, den Wind im Haar sowie der Kleidung, und hatte es geschafft, vom Kopf bis zum Ansatz der Schwanzspitze zu tippeln, ohne in Panik zu verfallen oder auf die Knie zu gehen, um nie wieder loszulassen.
Wenn er ehrlich war, dann ähnelte dieses in allen Muskeln seines Körpers tobende Gefühl ganz jenem, als er Aira geküsst hatte. Wobei ihn das lüsterne Grinsen, das sich dabei bis in seine Lenden wühlte, beinahe das Leben gekostet hatte. Verdammt.
Sie würden nach Westen fliegen – oder fallen. Je nachdem, wonach dem Meerdrachen war.
Kayden beendete seinen irren Rundgang auf der linken Schwinge,
stieg sicher über die Schuppen bis zum Nacken, befestigte mit der Ruhe und Sorgfalt eines Soldaten die Satteltasche und ließ sich in den Sitz gleiten.
Tief Luft holend, hakte er die Ösen ein, band das Haar zusammen und machte sich bereit dafür, dass sein Magen gleich in seinen Stiefeln enden würde.
»Vielleicht ein sanfter Abstieg?«, fragte er und die Schuppe, die in seiner Schulter steckte, summte lautlos.
Kasai schien zu lächeln, legte die riesigen, in allen Farben des Meeres leuchtenden Schwingen an, schüttelte das Haupt, fauchte übermütig ein
Jaaaaa!
und tat das Gegenteil davon.
Dieses Mal
fielen
sie nicht bis auf einen sandigen Arenaboden, sondern rasten, sich in engen Schleifen drehend, dem
Meer
entgegen, mitten hinein in eine sich dramatisch verändernde Welt.
Schreie – oder war es gar Jubel? – waren in den Wolken zu hören, als der massige Drachenleib die bauschigen Schleier zerriss, mit einem kleinen Nordmann obendrauf, dem der Wind wie eine alte Legende in die Kehle brauste.
Man hörte ihn lauthals dabei singen:
Das Deck. Es schwankt. Der Wind. Er brüllt …
***
Unter ihm das Meer. Geheimnisvoll, majestätisch. Manchmal sah Kayden die weiße Gischt, welche die muschelweißen Leiber der
Frillingwale
ausstießen, und nichts als Wellen bis zum gewölbten Horizont.
Er hätte sich wohlfühlen müssen, beim Anblick dieser grandiosen Erhabenheit. Doch es schien ihm, als betrachte er zunehmend ein Wesen, welches müde atmend dalag und auf sein unvermeidliches Sterben wartete, weil ein Gift langsam seine Seele verdunkelte.
Während die Sonne versank und ihr Licht der Finsternis überließ, begannen sich die Wolken zwei Strich Backbord voraus wie Berge aufzutürmen. Der Wind wurde schärfer und die Luft begann, nach
Nirahels Zorn
zu riechen.
Kayden und Kasai entschieden, dass es besser war, nicht durch ein tobendes Gewitter zu fliegen, und landeten schließlich auf dem
Endlosen Blau
, das ungewöhnlich ruhig dalag.
Kayden nahm das Fernrohr aus der Satteltasche, schritt den langen Drachenschwanz bis zum Ende entlang, suchte die Dämmerung nach Positionslichtern und hellen Flecken ab, die auf Segel hindeuten konnten. Der Meerdrache schob ihn dabei schwimmend einmal gemütlich im Kreis herum.
Nichts. Weder rot noch grün schimmernde Laternen, keine Segel. Gut so. Allerdings war das Fernrohr, welches er von Mooley bekommen hatte, ein reichlich altertümliches Gerät. Er hatte versucht, die Linse zu säubern, aber da war nichts mehr zu machen. Es konnte also gut sein, dass keine zehn Seemeilen entfernt eine Flotte vorbeischipperte und er das für Flecken hielt. Aber er vertraute seinem Bauch. Wer jetzt noch nicht die Segel gerefft und Anker geworfen hatte, der hatte die Seemannschaft in einem Badezuber erlernt. Gewitterböen waren unberechenbar.
Die ersten Blitze irrlichterten in den Wolken, als würde in ihnen ein Kampf stattfinden, und fernes Grollen drang mit Verzögerung zu ihnen. Kasai hatte die Schnauze unter die Wellen getaucht und sandte einen tiefen Ton in die See. Kayden machte es sich derweil gemütlich. Er zog die Decke aus Drachenhaut aus dem Sattel, befestigte sie an zwei Stangen, die er sich zurechtgeschnitzt hatte, und verhakte diese zwischen den Schuppen, sodass eine Art Zelt entstand. Er holte eine grausam hässliche Tasse aus der Tasche, von der Mooley behauptet hatte, sie könne Tee in Magie verwandeln, sowie einen Beutel mit Nüssen und getrockneten Früchten und atmete tief ein und aus.
Da hockte er, mitten auf dem Ozean, auf dem Rücken eines Drachen, machte sich Tee mit einer Klinge heiß, die eine Zauberin erschaffen hatte, hielt ein Kugelsieb und ließ den Blick in die Dunkelheit schweifen, während die ersten Regentropfen auf die
kuschelige Decke
prallten. Er holte eine handgroße Laterne hervor, die Grummler ihm geschenkt hatte und die lediglich aus einem alten Einmachglas und einem auf Stein wachsenden und grün leuchtenden Pilz bestand.
Dennoch konnte er an nichts anderes mehr denken als Airas Hals, der wie ein Sturm gerochen hatte. An den kleinen Leberfleck gleich daneben – ein winziger Tupfer, der ihn schier wahnsinnig gemacht hatte.
Er verstand nichts von der Welt, aber er konnte sie fühlen. Denn in Airas Nähe schienen Mythen zu erwachen, als sei die Zeit nicht Tag und
Nacht, nicht Jahr und Leben. Sterne waren Ewigkeit. Und einer davon war in ihre Seele gefallen.
Der Regen prasselte, zerwühlte das Meer. Die Böen ließen das provisorische Zelt flappen, die See war Salz und Blut – und Kayden lächelte.
***
Nebel lag über dem
Endlosen Blau.
Keine zehn Schritt weit konnte Kayden sehen. Er drückte den Rücken durch, gähnte müde über die schwappenden Wellen, die an Kasais Schuppen leckten. Die Töne der See hatten einen gleichmütigen Klang, beruhigend und voller Geschichten und Gefahren. Matrosen erzählten sich, wer zu lang auf die wogende Dunkelheit blicke, der würde von ihr in die Tiefe gelockt. Er hatte diesen Aberglauben nie verstanden. Denn dort unten existierte eine vollkommen andere Welt. Eine, in der die Asche des Ravyn mit den Strömungen reiste. Und über dessen Haut Nirahels Atem brauste. Was konnte es Schöneres geben, als der Sturmgöttin und ihrem Geliebten derart nah zu sein?
Kayden holte die Karte hervor, die Mooley ihm mitgegeben hatte.
Sie beschrieb einen steten Kurs nach Westen – Richtung Eliandar. Auf die Gipfel der
Zertrümmerten Kronen.
Von da an weiter in die Hauptstadt Kalandria, wo er sich beim König melden sollte, um die Verfügung zu bekommen, die ihn ermächtigte, zu den
Strahlenden Türmen
weiterzureisen.
***
Nach zwei Tagen kam die Küste in Sicht. Erst zeichnete sich ein feiner Strich am Horizont ab, der sich dann zusehends in die Höhe hob. Kasai bedauerte es, das Meer verlassen zu müssen und bald wieder nichts als Erde unter sich zu haben, und Kayden konnte es ihm nicht verdenken. Sie beide hatten Salzwasser in den Adern, Schuppen hin, Feuer her.
Das Leben ist ein Meer, das viele Wellen hat.
Das hatte Mutter ihm immer wieder versucht zu erklären. Dass der
Wanderer
einen Dreck wusste. Dass ein Herz mehr Kammern hatte als Wolken am Himmel. Nichts auf der Welt war rein oder gewiss, jeder Schritt ein Wagnis mit
unbekanntem Ende.
Die Bergkette der
Zertrümmerten Kronen
ragte gut zweitausend Schritt über dem Meer auf, die zerklüfteten Spitzen von Schnee bedeckt. Kasai segelte durch zwei Felssäulen, sank in ein Tal und landete mit aufgestellten Schwingen auf einem Vorsprung, größer als ein Haus. Unter ihnen ruhte ein See. Ausgewaschener Kalk verlieh ihm ein milchiges Ufer, weiter innen schimmerte er grün und in der Mitte wirkte er wie ein dunkler Smaragd, der das Sonnenlicht aufsaugte. Kayden kannte sich mit Untiefen aus. Dieser See ging weit hinab.
Entlang des Ufers wuchsen knorrige Kiefern und Fichten, deren harziger Duft sich mit der kühlen Luft vermischte. Kayden sammelte etwas Totholz und kehrte zum Lagerplatz zurück, schichtete es sorgsam auf und zog seine Flammenklinge hervor.
Der Drache gab ein missbilligendes Schnauben von sich.
»Was?«, fragte Kayden und schaute auf den ungewöhnlichen Zahn, den er von Meridiem bekommen hatte. »Es sind gerade keine Wachsungeheuer in der Nähe, also halt die Luft an, Großer! Ein Messer ist eben auch ein Werkzeug.«
Du könntest es auch anders entzünden!
Das vibrierende Knurren ergriff Kayden bis in die Knochen.
»Ja ja,
Feuerwirker
und so, schon klar. Nur hat es mir niemand gezeigt, Kasai. Es war reichlich was los auf der Insel, schon vergessen?«
Aber du hast es getan. Auf meinem Rücken.
»Und jetzt knie ich eben im feuchten Sand. Also lass mich ruhig machen.«
Du hast Angst.
»Pffft«, machte Kayden und schaute auf. In der Dämmerung war der Drache kaum auszumachen. Zudem kam wieder einmal Nebel auf und die Luft roch nach Schnee. Wenn das so weiterging mit dem Wetter, dann würde das eine ungemütliche Angelegenheit werden. Nichts gegen einen anständigen Winter. Immerhin hatte er die Schuppe in der Haut, welche Wärme in seinen Körper leitete. Aber das hatten andere nicht. Daran musste er denken. Er entzündete den Holzstoß und die Flammen leckten in den dunklen Himmel. Feuer hatte ihn schon immer beruhigt. Das musste an den Geschichten liegen, die seine Mutter ihm am Kamin erzählt hatte.
Ich hätte es auch tun können, Nordmann.
»Ich wollte es etwas gemütlicher und nicht den halben Bergwald abfackeln
.
«
Kasai gelang es tatsächlich, beleidigt dreinzuschauen.
Wir können sehr gezielt unser Feuer einsetzen.
»Ja, wenn’s um eine Scheune geht oder eine Piratengaleasse. Aber das hier ist etwas für Draußenschläfer, du blaugrüne Wassernixe.« Kayden musste prusten und stellte fest, dass auch Drachen dazu fähig waren. Vermutlich würde der sich mit einem
Lass uns mal so richtig
fallen
dafür rächen.
Das Holz knackte, stob Funken in den Himmel, Kayden blickte gen Osten und Kasai war näher ans Feuer gerückt.
»Sie werden dort sicher sein, oder?
Sie
wird sicher sein.«
Kein Ort ist wie der andere, Nordmann. Die Wolken ziehen. Wasser fließt. Flammen rennen.
Nicht einmal die Erde steht still.
Diese Welt war und ist ein unbeständiger Ort. Nichts darin scheint sicher. Allein die Liebe vermag all diese Ketten zu sprengen.
Liebe. Was war das? Ein Gefühl, ähnlich dem von Wut, Hass oder Hunger? Ein wilder Regen in der Nacht, dessen Trommeln man lauschte? Ein Dachzimmer, welches Geborgenheit schenkte? Ein Vater auf einem Boot, der Netze über das Dollbord zog? Der neue Morgen oder die kommende Dunkelheit? Und doch lag das, was man liebte, manchmal unter einem Stein und kam nicht mehr zurück. Wie Windtupfer.
Das Deck. Es schwankt.
Der Mast. Sich biegt.
Nirahel. Nirahel.
Küss den Sturm in meine Seele.
Zum ersten Mal verstand Kayden diese Zeilen.
***
Beschissener Nebel!
Der See lag da wie tot, die Bäume eingehüllt von einem grauen Wallen. Kasai streckte sich ausgiebig und gähnte, die Kiefer weit aufreißend. Kayden tat es ihm nach, rückte die südlichen Teile eines Nordmanns dorthin, wo sie hingehörten, und hüpfte sich ein wenig die Muskeln locker.
Geschlafen hatte er ohne Träume, dafür aber mit sorgenvollen
Gedanken an Barshan Anur. Was, wenn Prinzchen Wachskrone sich entschloss, das Kloster ein zweites Mal anzugreifen? Nein, die Schiffe waren fortgesegelt. Und ihre Verluste waren verheerend gewesen. Zudem war Orcas vor Ort, der mächtigste Wirker aller Elemente. Sobald dieser wieder auf den Beinen war, würde er den Lichtschild erneuern. Auch Mooley und Grummler hielten die Stellung. Und Aira? Ein heftiges Kribbeln fuhr ihm in den leeren Magen. Sie hatte viel gelernt, konnte jetzt bestens selbst auf sich achtgeben. Dennoch war ihm nicht wohl dabei, sie so weit fort zu wissen. Malte er sich keine düsteren Szenarien aus, lenkten ihn hitzige, ziemlich erregende Visionen ab, voller Haut, wildesten Küssen und … verdammt! So konnte er nicht stundenlang im Sattel sitzen. Zum Glück hatte Kasai gerade den Kopf im See und brummte irgendetwas vor sich hin.
Konzentriere dich, Kayden!
, rief er sich zur Ordnung.
Orcas hat dir eingeschärft, wie wichtig der Auftrag ist.
Die
Strahlenden Türme
sind es, an die du denken solltest.
Er packte den Seesack zusammen, verstaute das Geschirr und ein Stich ging durch seine Hand, als hätte ihn etwas gebissen. Vorsichtig holte er den seltsamen Gegenstand hervor. Es war die in ein Tuch eingeschlagene silberne Tafel, die er im Palast von Jandor dem Berater seines Königs abgenommen hatte. Der Stoff war verrutscht und Kayden legte neugierig einen Finger auf das Metall. Scharfer Schmerz war die Folge und eine spürbare Finsternis versuchte, sich in ihn zu graben. Reflexartig warf er die Tafel zu Boden. Eine Stimme erklang, kalt und von weit her: »Du wagst es, mich zu rufen, Pranos? Ich … Halt! Wer ist da? Ich sehe Wolken und schneebedeckte Berge.« Ein Griff, ein Wurf und die Flammenklinge steckte in der Tafel und begann, sie zu schmelzen. Die Stimme schrie auf und verklang wie ein Echo. »
Kayden
Wolfshall!
«, hatte sie gerufen.
Wenig später brachen sie auf.