– Kapitel 6 –
AIRA
Das Stockwerk der Erdwirker war drückend und dunkel wie immer. Doch Aira hatte den Eindruck, als pulsierten die Felswände in einem warmen, beruhigenden Herzschlag, während sie neben Waris durch den Vorraum schritt. Auch Klecks und Grummler hinter ihnen drehten sich beim Gehen ständig nach allen Seiten um, was darauf schließen ließ, dass sie dieselben Schwingungen wahrnahmen. Ganz offensichtlich hatte die Anwesenheit der neuen Erdwirkerin auf Barshan Anur etwas entfesselt, das stark genug war, um sich sogar auf das monumentale Fundament des Klosters auszuwirken.
Sei vorsichtig
, meldete sich die innere Stimme der Prinzessin von Jandor zu Wort.
Je größer ihre Macht, umso schwerer ist sie zu besiegen, sollte diese Harmonie nicht von Dauer sein
. Aber das Sturmblut in Airas Adern rauschte vor Glück angesichts der vagen Möglichkeit, nun endlich eine Freundin gefunden zu haben.
Waris durchquerte den Vorraum, legte eine Hand auf die Außenwand und schloss die Augen. Zunächst sah sie dabei ganz ernst aus, dann lächelte sie versunken. »Da hingehen«, beschloss sie und zeigte auf einen gedrungenen Bogen, der den Durchgang in den nächsten Raum einrahmte. Aira war noch niemals dort gewesen. Sie durchquerte die unterste Etage des Klosters stets auf dem kürzesten Weg, um sich nicht länger darin aufzuhalten als unbedingt nötig. Diese heimelige Atmosphäre, die heute von den Felsen ausging, fühlte sich jedoch fast so an, als hätte jemand ein wärmendes Feuer dahinter entzündet, das dazu einlud, sich niederzulassen und einander Geschichten zu erzählen. Also folgte sie Waris gespannt in den hinteren Raum. Ähnlich wie in Mooleys Höhle standen auch hier mehrere unbequem aussehende Schlafplätze entlang der runden Wände. In der Mitte befand sich jedoch kein Wärme spendendes Loch, sondern ein Sockel mit einer glatt geschliffenen, kreisrunden Steinkugel darauf. Kein einziges Staubkorn hatte es gewagt,
sich auf deren Oberfläche niederzulassen. Erst als Waris eine Hand darauflegte und tief durchatmete, verstand Aira, woher der frisch polierte Eindruck der Skulptur herrührte: Ganze Scharen von Erdwirkern mussten sie in den vergangenen Jahrhunderten berührt und gestreichelt haben.
»Was ist das?«, fragte sie respektvoll.
»Ist Mutter«, antwortete die Numar. »Mutter Erde. Gibt Kraft.«
»Ah«, machte Grummler, obwohl er so aussah, als verstünde er gar nichts.
»Ihr Götter anbeten«, erklärte Waris an Aira gewandt, ohne ihre Hand von dem Stein zu lösen. »Mein Volk nur Mutter anbeten. Viele Erdwirker Numar. Wir mit Mutter sprechen und mit magischen Wesen.«
»Und mit Drachen!«, fügte Klecks wissbegierig hinzu. »Das stimmt doch, oder?«
Waris nickte. »Drachensprache verstehen, ja. Auch Greife, Hornvögel, Mantikore und Phönixe unserem Ruf folgen – sogar Irrlichter und Lindwürmer.«
»Aber all diese Wesen sollen im Großen Krieg vernichtet worden sein«, warf Aira stirnrunzelnd ein.
Jetzt endlich nahm die Numar ihre Hand von dem Gebilde und blickte sie kopfschüttelnd an. »Du Basaltar gesehen. Und Wasserdrache. Und Shenoa. Warum denken, Tiere seien tot?«
»Weil ... nun ja, ich habe sie für Ausnahmen gehalten.«
»Keine Ausnahmen. Natürliche Magie überlebt. Aber zurückgezogen – in Numarland – Schlucht der stummen Worte.«
»Ihr habt eine Schlucht, die voller magischer Wesen ist?«, hakte Aira fassungslos nach.
Waris nickte. »Wenn mein Volk ruft, sie werden kommen. Aber zu wenige, um besiegen Wachsmonster – wenn Löwe versagt.«
Wenn Löwe versagt!
Bei diesen Worten zog sich Airas Herz krampfhaft zusammen. Schon die ganze Zeit seit Kaydens Aufbruch nagte ein ungutes Gefühl an ihr. Eine seltsame Ahnung, die sie nachts schweißgebadet aufwachen ließ und tagsüber in ihrem Magen rumorte wie ein Pilz, dessen Gift sich unaufhaltsam durch ihren Körper fraß. Es gab keinerlei Grund für diese dunklen Ahnungen – und doch waren sie da. »Du weißt von Kaydens Mission?«, fragte sie vorsichtig.
»Mutter mir geschickt Traum«, berichtete Waris. »Ich erst Meister gesehen, eingehüllt von schwarzem Schleier.«
»Orcas«, flüsterte Aira. »Und nun ist er tot.«
Die Numar nickte. »Dann Löwe gesehen. In meinem Traum er fangen Fisch.«
Vor Erleichterung schlug Aira die Hände vors Gesicht. Auch Klecks stieß ein glückliches Fiepen aus. »Also ist er gesund und am Leben!«, jubilierte sie, doch schon die nächste Aussage der Numar ließ das Lächeln in ihrem Fuchsgesicht gefrieren.
»Fisch war voller Würmer. Fäulnis durchdringen das Meer. Aber Löwe stark – er verschaffen uns Zeit.«
»Zeit wofür?«, presste Aira hervor. »Wenn Kayden in Gefahr ist, müssen wir hinter ihm herfliegen und ihn warnen!« In ihrem Kopf herrschte ein heilloses Chaos aus tausend Gedanken, Gefühlen und Befürchtungen. Sie wusste genau: Ein überstürzter Aufbruch zu einem ungewissen Ziel hatte schon erfahrenere Krieger den Kopf gekostet. Doch die Möglichkeit, dass Kayden in genau diesem Moment in sein Unglück lief, machte sie fast wahnsinnig.
»Suchen Lichtsplitter. Und tausend Säulen!«, sagte Waris, beinahe beschwörend.
Die tausend Säulen! Auch Orcas hatte davon gesprochen, kurz bevor ihm seine Taube den Tod gebracht hatte. Aira erinnerte sich noch sehr genau an seine Worte:
Finde die restlichen Splitter und du hast den Schlüssel zu den tausend Säulen – dem zweiten verlorenen Lichtauge. Es ist ein Kreis aus magischem Gestein, versteckt an einem Ort, den Shizari nicht finden kann.
»Das geht nicht«, antwortete sie schwach. »Denn wir müssen zu viert sein, um die Säulen zu heben, das Licht zu erwecken und die Dunkelheit zu vertreiben. Ohne Kayden und einen Wasserwirker werden wir das nicht schaffen.«
»Aber wir anfangen zu suchen«, sagte Waris.
»Wie denn? Wir haben weder eine Spur von den Splittern noch die Karte, die zu den tausend Säulen führt!« Hoffnungslosigkeit machte sich in Aira breit. Und noch ein anderes Gefühl manifestierte sich in ihr – so stark, dass es ihr beinahe den Atem raubte: Trotz. Eine jener Eigenschaften, die einer Prinzessin unwürdig waren, ohne die ein Sturmblut jedoch nicht existieren konnte. Was auch immer Waris ihr
nun sagen oder vorschlagen würde, sie würde es nicht akzeptieren. Denn für Aira stand längst fest, was nun zu tun war: nach Eliandar fliegen – hinter Kayden her.
Seltsamerweise führte ihre letzte Äußerung aber dazu, dass die Numar wieder lächelte. Dabei schüttelte sie den Kopf. »Karte schon immer da!«, behauptete sie, griff in ihren Beutel und zog die Feder des Basaltars hervor. Ein paarmal drehte sie diese zwischen ihren Fingern, ehe sie nach Airas Hand fasste und sanft mit der Feder über ihre Haut strich. Wie gewohnt erschienen Wolken darauf – diesmal auf ihrem Unterarm. Es waren heute besonders viele, weiß und von Schnee geschwängert. Ein Abbild des Himmels über Avantlan.
Dann nahm Waris ihre andere Hand und legte sie auf den blanken Stein, der Mutter Erde geweiht war. Aira unterdrückte einen Aufschrei, denn auch diese Berührung blieb nicht ohne Konsequenzen: Zahlreiche Linien bildeten sich überall auf ihrer Haut, gerade und gewundene, breite und schmale, sich fortpflanzend wie magische Ranken. Sie konnte nicht sehen, wohin sie führten, denn der Großteil davon verschwand unter ihrer Kleidung.
»Das sind Wege!«, rief Klecks aus. »Hunderte von Straßen und Pfaden! Aira – du trägst die Karte in dir, nein,
auf
dir!«
Du selbst bist der Kompass, der dir die richtige Richtung weist.
Das also war die Bedeutung ihres Mals! Es markierte den Wirker, der die Auserwählten zu den tausend Säulen führen sollte. Warum hatte sie es nie verstanden? Ihre Mutter hatte es gewusst. Orcas hatte es gewusst. Doch keiner der beiden war mehr dazu gekommen, es ihr zu sagen.
»Berührung mit Element aus natürlicher Magie zeigt Karte«, erklärte Waris und Aira musste sich anstrengen, um ihr noch folgen zu können, so sehr nahmen diese neuen Erkenntnisse ihre Sinne in Anspruch. »Basaltar Luftelement. Stein Erdelement. Du berühren andere magische Stücke – dann Karte komplett!«
»Und wo soll ich so etwas herbekommen?«
»Wir werden finden. Wassermagie wird zeigen Flüsse und Meere. Feuermagie Vulkan. Nur ein solcher Berg existieren auf Avantlan. Wenn wir kennen Lage, wir wissen, wie Karte ausgerichtet.« Sie deutete auf die zahlreichen Linien auf Airas Haut. »Jetzt unvollständig. Tausend Säulen erst sichtbar, wenn du andere Elemente anfassen.«
»Also hatte ich recht. Wir können nichts tun«, grummelte Aira, die
weiterhin in ihrem Trotz gefangen war.
»Wir finden Lichtsplitter!«, sagte Waris im Brustton der Überzeugung.
Die Prinzessin entzog der Numar ihre Hand und nahm die andere von der Skulptur. So sehr sie das Gefühl von Hoffnung auch herbeisehnte, es wollte sich einfach nicht einstellen. Nicht in dem Wissen, dass Kayden gerade dabei war, in Shizaris Arme zu laufen. »Und wo sollen wir mit unserer Suche beginnen? Willst du jeden Stein des Kontinents umdrehen und nachsehen, ob ein Lichtsplitter darunter liegt?«
Bei diesen Worten stand zum ersten Mal eine leichte Unsicherheit im Gesicht der Erdwirkerin. Also war sie hierhergekommen, ohne eine genaue Strategie zu haben. Auch Waris hoffte einfach, irgendwo zwischen den Mauern des Klosters einen Hinweis zu finden, wie es nun weitergehen sollte. Sie war nicht die Heilsbringerin, nach der Aira sich gesehnt hatte, sondern einfach ein weiteres Blatt, getrieben vom Wind der Veränderung. Sie konnten nun ein weiteres Mal die Bibliothek und die Inschriften aller Mosaike und Fresken im Kloster durchstöbern oder aufs Geratewohl losfliegen und ihr Glück auf dem Festland suchen – ob nun in Eliandar oder anderswo.
Klecks räusperte sich und aller Augen wandten sich nach unten. Eigentlich erwartete Aira von ihr nun ein Plädoyer zur Rettung Kaydens – so, wie man das von dessen treuester Begleiterin gewöhnt war, doch stattdessen fragte sie: »Wie hat Neera damals den Splitter gefunden?«
Aira seufzte. »Orcas meinte, er habe nach ihr gerufen. Und es gab einen Hinweis: Der Prophezeiung nach
verharrte er in den Lüften.
« Sie hatte diese Informationen unzählige Male durchdacht, aber auch das brachte sie nicht weiter. Denn dieselbe Prophezeiung besagte auch, dass der zweite Splitter ins Wasser fiel, der dritte ins Feuer und der vierte in die Erde. Nur gab es von all diesen Elementarplätzen einfach zu viele in Avantlan.
»Ich sicher: Erdsplitter mich werden rufen!«, verkündete Waris. »Wir aufbrechen!«
Das ging zu schnell. Außerdem lag zu viel Vermutung und Ungewissheit in diesem Plan. Sie konnten doch nicht Barshan Anur seinem Schicksal überlassen und darauf vertrauen, dass Kayden allen Widrigkeiten trotzte, die sich ihm in Eliandar entgegenstellten, nur weil diese dahergelaufene Numar glaubte, ihr Lichtsplitter würde schon irgendwann ein Liedchen trällern, welches nur für sie bestimmt war.
»Oh, nein!«, sagte sie bestimmt, doch da hatte Waris bereits kehrtgemacht und schlug den Weg nach draußen ein. Aira rannte kopfschüttelnd hinter ihr her. »Ganze Armeen von Erdwirkern waren vor dir da. Nach keinem von ihnen hat der Erdsplitter gerufen. Auch nach Mooley nicht, obwohl er seit Jahren zur Verfügung stand. Weshalb bist du so sicher, dass du die Auserwählte bist, die ihn finden wird?«
»Ich wissen«, behauptete Waris schlicht. »Alle wissen, sogar Steine und Felsen in Kloster. Auch Gargoyle und Fuchs. Nur du ungläubig.«
Aira war klar, wovon die Numar sprach. Diese seltsame erdverbundene Macht, die von ihr ausging, erweichte alle. Aber vielleicht war genau dieser Umstand das Gefährliche an ihr. Womöglich war sie gar keine Retterin, sondern ein Spion Shizaris, der gekommen war, um sie alle zu vernichten! Auf dem Weg nach draußen wiederholte die Prinzessin ihre Argumente mehrfach, doch Waris schmetterte sie entweder erneut ab oder erwiderte einfach gar nichts mehr. Vor der Pforte blieb die Numar abrupt stehen und sah sich in alle Richtungen um. Noch ganz gefangen von der hitzigen Diskussion, erkannte Aira nicht sofort, was passiert war.
»Shenoa – weg!«, stieß Waris schließlich fassungslos hervor. Da erst bemerkte auch Aira, dass der riesige Hornvogel nicht mehr an dem Platz weilte, an dem sie ihn zurückgelassen hatten.
»Vielleicht hat er nur einen Erkundungsflug gemacht?«, vermutete Klecks, die mit Grummler hinter ihnen her gerannt kam. »Kiesel weiß sicher Bescheid.« Sie deutete auf den Gargoyle, der mit dem Rücken zu ihnen auf der Ebene saß, die frisch reparierten Flügel stolz gebläht.
Erst nickte Aira, doch noch während sie den ersten Schritt auf Kiesel zu machte, wurde ihr klar, dass irgendetwas an der Sache faul war. Denn dieser drehte sich nicht zu ihr um, wandte nicht einmal den Kopf. Genau wie seine nicht-magischen Vettern auf den Tempeln von Noskiris schien er einfach zu Stein erstarrt zu sein. Dass sie mit dieser Vermutung richtig lag, wurde ihr im selben Moment klar, als sie um ihn herum ging und in seine Augen blickte: Alles Leben war daraus verschwunden – kein Funkeln, kein Blinzeln, keine noch so winzige Staubträne stand darin. Der große Kieserian en Meyssel van Quartz war nur noch eine filigran gehauene Steinskulptur, genau wie damals, als er im Turm von Marvellus Penta sein Dasein gefristet hatte. Eine böse Vorahnung überkam Aira. Also setzte sie einen Fuß auf die Klauen des Gargoyles und
zog sich hoch, bis sie seinen Nacken sehen konnte. Bei dem, was sie dort entdeckte, entfuhr ihr ein Fluch, der aus ihrem tiefsten Herzen kam: »Diese dreckige Erdkröte hat uns hereingelegt!«
»Was ist los?«, rief Klecks voller Sorge.
Aira kraxelte wieder hinab, die Stirn voller Zornesfalten. Selbst Waris schien von den aktuellen Vorfällen so verwirrt zu sein, dass sie keinen Laut hervorbrachte. Erst bei Airas nächsten Worten ging auch dem Letzten ihrer Begleiter auf, wie tief sie allesamt in der Tinte saßen: »Mooley hat den Schlüssel aus dem Nacken des Gargoyles entfernt.« Wind kam auf und pustete eine abtrünnige Haarsträhne aus ihrer Stirn. Die geballte Kraft ihres Elements sammelte sich in ihrer Brust. »Er will verhindern, dass wir die Insel verlassen. Wenn wir nicht sofort handeln, wird er uns Shizari zum Fraß vorwerfen – dieser verdammte Verräter!«