– Kapitel 8 –
AIRA
Mooley war nicht in seiner Höhle. Sie suchten ihn überall – am Strand, in Anurvota und nacheinander in allen Häusern der Wirker. Als sie das verlassene Feuerhaus betraten, überfiel Aira ein seltsames Gefühl. Eine unbestimmbare Kälte durchdrang sie, kurz und stechend, wie Eisnadeln, die aus dem Nichts kamen und gezielt in ihr Herz einschlugen. Sie fasste sich an die Brust und sog röchelnd Luft ein.
»Was los?«, fragte Waris.
»Ich ... weiß nicht. Mir ist auf einmal so kalt.«
»Es ist kalt!«, warf Grummler ein. »Nicht nur draußen, auch hier drinnen im Feuerhaus. Das habe ich noch nie erlebt. Man könnte fast glauben, irgendetwas wäre geschehen.«
Aira spürte das furchtbare Wissen einem Geschwür gleich in ihrem Leib wachsen und doch brachte sie es nicht fertig, ihre Befürchtung auszusprechen.
Dafür tat Klecks es: »Ist es Kayden? Ist ihm etwas passiert?« Offenbar wusste sie nicht, an wen sie diese Frage richten sollte, daher sprang ihr Blick zwischen ihren Begleitern hin und her.
Erst sagte niemand etwas, doch dann ging Grummler auf die Feuerstelle in der Mitte des Raumes zu und deutete auf das schwache, orangerot glimmende Leben darin: »Es heißt, die immerwährende Glut würde niemals vergehen – bis zu dem Tag, an dem der letzte Feuerwirker stirbt. Dann erlischt sie.«
Der Hauch einer Erleichterung überkam Aira, doch es reichte nicht, um die Kälte aus ihrem Blut zu vertreiben. Denn sie sah genau, dass das Leuchten der Glut schwächer geworden war. »Wir müssen ihm helfen!«, flüsterte sie.
»Guter Plan. Schwimmt einfach nach Eliandar«, grummelte Grummler, was Tränen in Airas Augen aufsteigen ließ.
»Ich besseren Plan«, behauptete Waris. Sie sah sich um, bis ihr Blick schließlich auf eine Schale voller Feuersteine über dem Kaminsims fiel. Etwas wählerisch kramte sie darin herum und suchte ein besonders großes, fast rundes Exemplar heraus. Dann strich sie mit einer Hand darüber und schloss die Augen. Ihre Lider flatterten, der Stein krachte und knirschte. Funken stoben daraus hervor, während er sich selbst aushöhlte, bis ein kleines Gefäß mit einem Deckel daraus wurde. Waris nahm Letzteren ab und ging neben der immerwährenden Glut in die Hocke. Ganz selbstverständlich griff sie mit bloßen Händen hinein und holte einen glimmenden Brocken heraus, den sie in ihr neu erschaffenes Gefäß warf. Aira traute ihren Augen nicht. Hatten die Numar eine Haut aus Leder?
»Jetzt wir immer Bescheid wissen über Löwe«, verkündete diese. »Wenn Glut schwächer werden, wir fliegen nach Eliandar. Erdwirker-Ehrenwort! Aber ich glauben, er stark genug. Immer irgendwie entkommen.«
Letzteres konnte Aira nicht verleugnen. Kayden hatte tatsächlich ein Talent dafür, aus den unmöglichsten Situationen heil herauszukommen. Und sie durften nicht vergessen, dass er einen Drachen an seiner Seite hatte, was vermutlich ein wirksamerer Schutz gegen unliebsame Gegner war als jeder Sturm aus ihren Händen. Ganz wohl war ihr bei der Sache dennoch nicht. Sie würde diese kleine Feuerschatulle gut im Auge behalten müssen.
Waris schien genau zu wissen, worüber sie grübelte. Ein Lächeln zog sich über ihr grünes Gesicht und sie streckte der Windwirkerin das Behältnis entgegen. »Du aufpassen!«
Das Kästchen war warm. Eine wohltuende Zuversicht ging davon aus. Aira steckte es in ihren Beutel. »Lasst uns weitersuchen«, beschloss sie dann. »Irgendwo wird Mooley sich wohl verkrochen haben.«
Und irgendwann würden sie ihn auch finden. Die Frage war nur, wie er es geschafft hatte, einen so riesigen Vogel wie Shenoa einfach verschwinden zu lassen. Aira befürchtete das Schlimmste, doch sie sprach es nicht aus.
Um zum Haus der Wasserwirker im Westen der Insel zu kommen, mussten sie die Grasebene überqueren, auf der noch vor Kurzem Kambriloss, der Gigant, gestanden hatte. So viele Stunden hatte Aira auf den vielfältigen Ebenen seiner Äste verbracht und nun war nichts mehr davon übrig bis auf ein zersplittertes Baumskelett mit welken Blättern, welches wie ein Mahnmal auf der Ebene lag. Jahrhunderte des Wachsens – zunichte gemacht an einem einzigen Tag. Niedergeschlagen ließ sie sich neben einen der dicken Äste auf den Boden sinken und legte eine Hand auf die Rinde. Kein Singsang ging mehr von dem Stamm aus, kein Rhythmus, der ihren Herzschlag beschleunigte. Das Leben war aus Kambriloss gewichen und es gab nichts, was sie dagegen tun konnte.
»Warum ist es hier nicht wie bei der immerwährenden Glut?«, fragte sie Grummler. »Obwohl ich noch am Leben bin, ist der Geist des Baumes tot.«
Der kleine Gargoyle schüttelte den Kopf. »Du liegst falsch. Sieh genau hin!« Er deutete auf ein Fleckchen Gras inmitten des verkohlten Astwerks. Es war fast vollständig mit weißer Asche bedeckt, die von Kasais Drachenfeuer herrühren musste. Aira stand auf und schritt über die zahlreichen Zweige hinweg. Dann sah sie es: Dort, inmitten der Zerstörung, reckte sich neues Leben empor. Es war nur ein kleiner Schössling, doch wenn man bedachte, dass das Blut ihrer Gegner noch nicht einmal ganz im Boden versickert war, so konnte man es auch als einen enorm schnell wachsenden Baum bezeichnen – genährt von der Asche seines Vaters und dem fruchtbaren Leib seiner Mutter. Das Vermächtnis der Wirker würde noch viele Jahre überdauern, vorausgesetzt sie schafften es, die Lichtsplitter zu finden und Shizari zu stoppen. Und so wie der winzige Kambribaum mutig seine Blättchen in Richtung der Sonne reckte, keimte auch in Aira bei seinem Anblick neue Hoffnung auf.
Ihren Begleitern schien es ebenso zu ergehen. Schweigend, aber mit neuem Mut gingen sie weiter.
Das Haus des Wassers lag innerhalb eines Sees, der von einem traumhaften Wasserfall gespeist wurde. Obwohl dieser Platz sich nicht weit vom Hauptturm befand, war Aira noch nie hier gewesen, Klecks aber offensichtlich schon, denn sie trabte an Grummler vorbei und setzte sich an die Spitze der Gruppe wie die allseits anerkannte Anführerin. Ein schmaler Pfad verlief vom Ufer aus direkt hinter die herabstürzenden Wassermassen. Nirgendwo waren Fußspuren zu sehen, was jedoch keinesfalls bedeutete, dass ihre Suche nach Mooley hier ein Ende hatte. Ein Erdwirker wurde verdächtige Fußabtritte immerhin schneller los, als eine Möwe krächzen konnte.
Hinter dem Wasserfall wurde der Weg felsig, doch es gab weder Algen noch Stolperfallen, die ihnen gefährlich werden konnten. Stattdessen ging es direkt in den Berg hinein und von dort aus über eine Treppe nach unten.
»Ohhhh, gleich werdet ihr es sehen!«, verkündete Klecks stolz, als die Stufen in einen breiten Gang mündeten. Flackernde Lichtspiegelungen in Blau- und Grüntönen zogen sich über die Wände und die gesamte Atmosphäre war von mystischer Ruhe erfüllt – von dem erwartungsvoll herumtänzelnden Fuchsmädchen einmal abgesehen. Aira fragte sich, wie es wohl möglich war, ein Haus unter dem Wasserspiegel zu bauen, doch die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Denn direkt hinter einer opulenten Pforte aus Stein führte der Weg weiter in einen Tunnel aus Luft, der die Wassermassen verdrängte. Nun war auch klar, woher die zahlreichen Spiegelungen und Reflexe an den Höhlenwänden stammten: Es war der immerwährende Tanz des Wassers mit der Sonne. Fasziniert blieb Aira stehen.
»Die Pforte ist verzaubert, genau wie die am Klostereingang. Sie erkennt, wer vor ihr steht und lässt nur die Wirker und Bewohner von Barshan Anur ein«, erklärte Grummler. »Irgendwo da draußen in den Weiten von Avantlan gibt es einen Wasserwirker, der all dies am Leben erhält, ohne es zu wissen.«
»Würden wir ihn nur finden«, murmelte Aira.
Gemeinsam traten sie in den Lufttunnel. Unter ihnen ein Pflaster aus buntem Muschel-Mosaik, über ihnen das klare Wasser des Sees. Fische tummelten sich darin und ausladende Algengewächse streckten ihre grünen Arme nach allen Seiten aus. Klecks’ Fuchsschwanz streifte an der Tunnelwand, was dieser einige Spritzer entlockte und dem Mädchen ein überraschtes Kichern. Nach wenigen Metern endete der Gang in einer riesigen Luftblase, beinahe schon einem Gewölbe. Das Haus der Wasserwirker hatte kein Dach, keine Wände, keine Fenster. Und doch stand es unerschütterlich auf dem Grund des Sees, mit Einrichtungsgegenständen, die nur so funkelten von Juwelen und glattgeschliffenen Steinen, zusammengezimmert aus Treibholz und Schiffsplanken. Auf einem massiven Tisch in der Mitte pulsierte ein blauer Edelstein mit einer eigenen Lichtquelle, der den gesamten Raum mit beruhigenden Schemen erfüllte. Es gab keinerlei Zimmer oder Rückzugsräume.
»Wenn ein Wasserwirker seine Ruhe haben will, gräbt er sich einfach einen Tunnel durch den See und baut sich dort seine eigene Höhle. Die Wassermassen weichen, wenn er es befiehlt. Er kann auf diese Weise ganze Meere spalten und unglaubliche Kuppeln oder Blasen erschaffen«, sagte Grummler, was Aira sehr beeindruckte.
Sicher war allerdings: Auch hier gab es keine Spur von Mooley und Shenoa.
»Zu was genau seid ihr Erdwirker fähig?«, fragte Aira die Numar. »Wo würdest du dich verstecken … und wo auf keinen Fall?«
»Wir sehr schnell Erdhöhlen graben, sogar Wege durch Gestein«, antwortete Waris. »Wenn wir wollen, Erde tun sich einfach auf und uns schlucken. Oder wir Bäume bitten, Dickicht zu erschaffen. So viele Möglichkeiten! Nur eines wir mögen nicht.« Sie ließ ihren Blick vielsagend nach oben schweifen.
»Den Wind«, schlussfolgerte Aira pikiert.
Waris nickte. »Dein Element – seltsam.«
»Ha, geht mir genauso.«
»Ich glauben.« Die Numar grinste kameradschaftlich.
»Auf dem Turm der Winde würde er sich also unwohl fühlen«, überlegte Aira. »Und weil er weiß, dass wir miteinander reden, nimmt er an, wir würden ihn dort niemals suchen.«
»Hm … ja. Aber falls dort verstecken, er nicht Shenoa bei sich haben. Hornvogel viel zu groß für Turm. Außer …« Abrupt schwieg die Erdwirkerin. Ein verstörender Gedanke schien sie zu überkommen, denn sie runzelte ihre ohnehin schon krause Stirn.
»Außer was?«
»Schwieriger Zauber«, murmelte Waris. »Er das nicht getan …«
Wovon auch immer sie sprach – Aira traute Mooley mittlerweile so manche Kuriosität zu. »Erzähl mir davon!«
»Versteinerungszauber. Nicht lange anhalten. Sehr viel Energie kosten. Aber versteinertes Wesen – man kann schrumpfen.«
Es mochte lediglich die plötzliche Nervosität der Numar sein, die sich auf die anderen übertrug. Aber auf einmal schien die Unterwasserwelt, welche sie umgab, weniger schillernd zu sein und die Stimmung innerhalb der Gruppe angespannt. Als würde die Düsternis eines einzelnen Gedankens sich nach und nach durch ihrer aller Köpfe fressen. Ganz klar: Shenoa hatte für Mooley keinerlei Wert, sondern er wollte ihn loswerden. Und dazu musste womöglich nur eine kleine Steinskulptur im richtigen Moment zerschlagen werden.
»Wir sehen auf dem Turm nach«, beschloss Aira. »Wenn er dort nicht ist, werden wir ausschwärmen und jeden Stein und jeden Baumstamm auf Barshan Anur so lange umdrehen, bis wir ihn gefunden haben.«
***
Sie mussten gar nichts umdrehen. Mooley saß auf dem Sims des Westfensters im Turm und starrte ihnen entgegen, als sie den Raum betraten. Er schien gefasst und nicht sonderlich überrascht zu sein. Seine Kleidung wies mehr als sonst den Anschein von Vernachlässigung auf, der Bart war zottelig und sein Blick so glasig, als gäbe es noch eine Taverne, in der man seine Sorgen in einem übergroßen Krug voll Met ertränken konnte. Tatsächlich lag ein solcher auch zerbrochen zu seinen Füßen am Boden.
»Ihr seid gewiefter als gedacht«, sagte er zur Begrüßung. »Eigentlich habe ich erst in ein paar Stunden mit euch gerechnet und mich schon gefragt, wie ich mir die Zeit vertreiben soll, nun, da es nichts mehr zu trinken gibt. Wo wart ihr zuerst? Lasst mich raten … im Feuerhaus?«
»Wo ist Shenoa?«, fragte Aira anstelle einer Antwort. »Und warum tut Ihr das?«
Stöhnend und so krumm wie ein alter Mann hievte Mooley seinen gedrungenen Körper von der Fensterbank herunter. »Du redest immer noch wie eine Prinzessin, Sturmblut.«
Ein zorniger Wind erhob sich in Airas Brust. Was bildete sich dieser verräterische Maulwurf überhaupt ein? Aufgebracht machte sie ein paar Schritte auf ihn zu, doch da griff er – schneller, als man es ihm in seinem angetrunkenen Zustand zugetraut hätte – hinter sich und zog eine kleine Steinskulptur hervor. Bei deren Anblick blieb Aira wie angewurzelt stehen.
»Mein Vogel – du sofort freigeben!«, rief Waris. Ihre Stimme klang dabei um viele Nuancen höher.
Mooley lachte. »Ich nix freigeben – ich runterwerfen!« Sein ausgestreckter Arm wanderte durch das offene Fenster nach draußen, wo er die Figur provozierend hochschleuderte und wieder auffing. »Wenn du noch einen Schritt weiter machst, Numar. Kapiert?«
Diese Ankündigung führte dazu, dass auch Waris auf der Stelle verharrte, als wäre sie selbst versteinert worden. Panik und Verzweiflung standen in ihren Augen.
Aira konnte nicht fassen, wie groß die Veränderung war, die Mooley durchlaufen hatte. Sie hatte ihm nie ganz vertraut, doch zumindest war er ihr immer loyal gegenüber Orcas und den Wirkern erschienen. Was hatte nur dazu geführt, dass er sich derart von seiner Heimat und dem Vermächtnis seines Lehrmeisters abwandte? Grummler schien die gleichen Gedanken zu hegen, denn er drängte sich zwischen ihren Beinen hindurch und stellte sich mit verschränkten Armen vor sie. Wenn er sich so aufspielte, wirkte der kleine Gargoyle so zänkisch wie eine Krämerin, der man den Beutel vom Gürtel geschnitten hatte. »Wie viel Gold bietet Shizari Euch dafür, dass Ihr die Wirker hier festhaltet?«, fragte er direkt.
Der hutzelige Erdwirker zuckte mit den Schultern, wobei er Shenoas Skulptur weiterhin über dem Abgrund balancierte. »Gold wiegt niemals schwer genug, um einen Mann wie mich zu kaufen. Dafür muss man ganz andere Gewichte in die Waagschale werfen.«
»Ihr wollt einer der Ihren werden? Ein Takyn Vor ?«, mutmaßte Grummler.
»Pah!« Mooley spie aus. »Eine Marionette mit einem Herz aus Wachs? Nie und nimmer. Lieber bleibe ich noch weitere zwei Jahrhunderte auf dieser verfluchten Insel!«
»Darum geht es also«, murmelte Aira. »Ihr wollt weg. Runter von der Insel.«
»Sehr gut, Windherz!«, tönte Mooley übertrieben euphorisch. »Weg! Endlich erlöst sein vom Fluch Barshan Anurs, der uns nicht altern lässt, solange wir hier weilen. Ich bin zu ewiger Untätigkeit verdammt. Zu schlechtem Bier und fadem Fisch, den immer gleichen Wegen unter meinen Füßen und Gesprächen mit Leuten, die seit hundert Jahren dieselben Witze erzählen.«
»Ihr seid ein glücklicher Mann, denn Ihr werdet niemals gebrechlich«, konterte Aira. »Die Insel versorgt Euch und ihre Bewohner sind freundlich und gut.«
»Ja, und naiv und langweilig«, brummte der Erdwirker. »Aber was weißt du denn schon von meinem Leid? Bist doch gerade erst ein paar Wochen hier. Und was hast du in der Zeit getan, außer auf einem Baum herumzutanzen und ein paar Wolken über den Himmel zu jagen? Ich mache das alles schon viel zu lange mit und jetzt reicht es. Ich will endlich frei sein! Und die Eine wird es mir ermöglichen!«
»Und für diesen Traum habt Ihr Orcas getötet?«
Darauf antwortete er nicht sofort. Sein Gesicht verzog sich auf schmerzhafte Weise und ganz kurz hatte Aira den Eindruck, als schäme er sich für seine Taten, ehe sich wieder der Schleier der Gleichgültigkeit über seine Züge senkte. »Orcas hätte mich nie gehen lassen«, brummte er, was einen entsetzten Schrei bei Grummler auslöste. Eine Kaskade aus Steinchen prasselte vor Aira auf den Steinboden, doch erst, als sie den kleinen Gargoyle ansah, begriff sie, dass es seine Tränen waren – winzige Tropfen aus Granit. Nun ließ auch er die förmliche Anrede bleiben. »Du hast das Wachsmonster in Fionas Federkleid gesetzt, damit sie unserem Herrn den Tod bringen konnte!«, zischte er.
Erneut zuckte Mooley nur mit den Schultern, als wäre es ein unbedeutender Scherz, der hier verhandelt wurde. Doch jeder konnte sehen, dass er dabei die Finger seiner freien Hand unruhig tänzeln ließ. Nein, ihm war nicht gleichgültig, was er getan hatte. Aber vermutlich stellte er sein eigenes Leid so sehr über die Qualen anderer, dass er sich dennoch zu diesem Schritt entschlossen hatte.
»Was hat die dunkle Zauberin Euch dafür versprochen?«, wollte Aira wissen. »Wenn es kein Wachsherz ist – was dann?«
Mittlerweile schien Mooleys ausgesteckter Arm ziemlich schwer zu werden, denn für einen kurzen Moment zog er ihn an seinen Körper, ehe er ihn wieder aus dem Fenster hinausstreckte. Die Bewegung entging Aira nicht. Vielleicht konnte man ihn so lange hinhalten, bis er unachtsam wurde, und ihn dann gemeinsam überrumpeln. Genau wie Waris gesagt hatte, schien die Versteinerung des Hornvogels ihn den Großteil seiner Wirkermagie gekostet zu haben. Es würde also nicht schwer werden, ihn zu überwältigen – vielleicht durch eine gezielt eingesetzte Windböe?
»Schwarzes Blut«, säuselte Mooley mit Augen, die auf einmal hellwach blitzten. »Ihr von Finsternis durchdrungener Lebenssaft nährt das Feuer der ewigen Jugend in der Einen . Ich werde es bekommen und dann …« Sein Blick schweifte zum Fenster hinaus, während ein langanhaltendes Zittern über seinen Rücken lief.
»Schäm dich!«, rief Klecks, die in der Zwischenzeit unbemerkt ihre Mädchengestalt angenommen hatte. Mit bebendem Kinn stand sie nun neben Aira, die Hände zu Fäusten geballt. »Und was ist mit Kayden? Ist er dir auch gleichgültig? Kümmert es dich nicht, was er von dir denkt?«
Ein launisches Grunzen entwich dem alten Wirker. »Kayden? Dieser selbstverliebte Feuerwirker? Ich werde ihn niemals wiedersehen. Er ist nur ein weiteres Staubkorn an einem endlosen Strand.«
»Ich glaube dir nicht! Er hat den Teil von dir aufgeweckt, der viel zu lang geschlafen hat – den Mooley, der gerne Lehrer war und für das Gute gekämpft hat. Wo ist dieser Mann jetzt hin?«
Es war irritierend, wie erwachsen das kleine Mädchen in manchen Momenten sprach. Fast so, als wäre es nicht ihr kindliches Herz, das diese Worte formte, sondern eine uralte, wissende Seele.
»Dummer kleiner Fuchs. Du hast keine Ahnung, wie es ist, eine solche Bürde wie die meine zu tragen«, sagte Mooley abschätzig, wobei er erneut den Arm einzog und kurz den Ellbogen auf seine Hüfte stützte.
»Oh doch, das habe ich«, flüsterte Klecks.
Ein leises Knirschen aus Mooleys Hand lenkte den Blick aller auf den versteinerten Hornvogel. Noch immer war er ein lebloses Abbild seiner selbst, klein wie ein Kinderspielzeug. Doch die natürliche Magie in seinem Inneren regte sich bereits wieder und brachte eine seiner Klauen zum Zucken. Erst hielt Aira das für ein gutes Zeichen, dann jedoch sah sie Waris’ bleiches Gesicht und begriff, dass Shenoa sich keinen ungünstigeren Moment hätte aussuchen können, um seiner Starre zu entfliehen. Denn die Erdwirkerin hatte bereits bewiesen, dass sie die zerschlagenen Bruchstücke einer Steinskulptur wieder zusammenfügen konnte. Einen zerbrochenen Leib jedoch konnte auch sie nicht heilen. Sollte Mooley den Hornvogel also genau jetzt aus dem Turmfenster werfen, so würde er auf dem Boden zerschellen und sich kurz darauf zurückverwandeln.
»Mir geben – bitte!«, brachte Waris hervor, die genau wie alle anderen erkannte, dass Mooleys Entschluss längst feststand.
»Wärst du mit deinem Federvieh doch nie hierhergekommen!«, spuckte er ihr entgegen. »Du bist schuld an allem, verdammte Numar!«
»Tu es nicht, Mooley! Bestimmt gibt es einen Weg zurück«, flehte Aira.
Doch der Erdwirker verbannte jeglichen Zweifel aus seiner Miene – und vermutlich auch aus seinem Herzen. Nun gab es nur noch eines für ihn: den Befehl seiner neuen Herrin. Und der lautete, die beiden letzten Luft- und Erdwirker so lange auf der Insel festzuhalten, bis die Wachsmonster eintrafen. Er öffnete seinen Griff und ließ den Hornvogel fallen. »Guten Flug, Shenoa, es ist dein Letzter!«
Im selben Moment raste Waris auf ihn zu, umklammerte ihn mit beiden Armen und riss ihn durch die Wucht der Fliehkraft einfach mit. Unter lautem Geschrei stürzten sie beide aus dem Fenster, angezogen von ihrer beider Mutter, der Erde, und deren steinhartem Schoß. Der Windstoß, den Aira hinter ihnen her schickte, um sie aufzufangen, prallte lediglich gegen eine massive Mauer, die urplötzlich das Fenster ersetzte.