– Kapitel 10 –
AIRA
Shenoa bot ein Bild des Grauens: sein wundervoller Körper zerschlagen, seine ehemals bunten Federn rot vor Blut. Das Horn auf seiner Stirn leuchtete noch schwach, während Aira neben ihm zu Boden sank. Es war, als entwiche seine natürliche Magie in pulsierenden Schwaden daraus. Waris saß neben dem sterbenden Hornvogel, seinen Kopf auf ihren Schoß gebettet, und weinte still.
Obgleich Mooley seine ganze Energie verschwendet hatte, um Shenoa zu versteinern, hatte Mutter Erde sich seiner erbarmt und ihr abtrünniges Kind ebenso unverletzt aufgefangen wie die Numar. In diesem Moment wünschte Aira sich, jene Erde hätte sich stattdessen aufgetan und ihn verschluckt oder so grausam zerbrechen lassen wie den Hornvogel.
Mooley versuchte nicht zu fliehen. Er blieb einfach auf den Knien im Schneematsch sitzen, das Haar zerzaust und mit unruhig flackerndem Blick. Schuldgefühle und Wahnsinn kämpften darin um die Vorherrschaft, doch Aira fühlte kein Mitleid mit ihm. »Du hast den letzten Hornvogel getötet!«, brachte sie hervor. »Genau wie Orcas und so viele andere! Ich habe eine Frau gesehen, die von einem Wachsmonster zerrissen wurde. Ihr Sohn wird für den Rest seines Lebens eine brennende Narbe auf seiner Seele tragen. Dutzende wurden verschlungen, geköpft oder ertränkt – alles nur wegen dir! Haben sich diese Opfer gelohnt, Mooley? Ist dein Drang nach Freiheit den Tod all dieser Unschuldigen wert?«
Er senkte den Kopf. Kein Wort kam über seine Lippen. Jeder konnte sehen, dass das Schicksal der Bewohner von Barshan Anur ihm nicht gleich war. Auch der Tod des Hornvogels ließ ihn keineswegs kalt. Doch das Geschwür der Dunkelheit in seinem Inneren war immer noch da, schwärend und gefräßig wie alles, was das Brandzeichen Shizaris trug.
»Du hast jeden von uns getäuscht«, legte Aira nach. »Für die Hoffnung auf ein paar Jahre in Freiheit. Doch glaube mir, Mooley: Die Eine , wie du sie nennst, wird dir keine Erlösung bringen, nur neue Sklaverei!«
Mit dieser Aussage schien sie einen wunden Punkt getroffen zu haben, denn die Schultern des Erdwirkers sackten merklich nach unten. Erst nach einer ganzen Weile wagte er es, sie wieder anzusehen. »Für dich ist alles ganz leicht, Sturmblut. Niemand will, dass du dich für eine übergeordnete Sache auflöst. Niemand fordert eine Gewissensentscheidung von dir, die nur in Chaos enden kann. Und selbst ich bin nicht in der Lage, dich hier festzuhalten. Du kannst kommen und gehen, lieben und hassen, leben oder sterben, wann immer du willst. Also urteile nicht über meine Beweggründe, denn du hast keine Ahnung davon!«
»Ich war sieben Jahre lang in einem Turm gefangen und würde mich für den Rest meiner Tage dort einsperren lassen, um die schwarze Frucht der Tothautlande am Wachsen zu hindern.«
Mooley senkte den Kopf. Seine Hände krallten sich in die matschige Erde.
Irgendwo hinter ihnen knirschten die Schritte kleiner Pfoten im Schnee. Dann ertönte ein herzerweichendes Jaulen und Klecks schnellte an Aira vorbei. Sie bettete ihre lilafarbene Schnauze auf den Körper des toten Hornvogels, der noch immer so warm war, dass die Schneeflocken auf ihm schmolzen. Grummler folgte ihr dichtauf, doch er blieb in würdigem Abstand zu dem Leichnam stehen und starrte Mooley an. In seinem Blick lag mehr Vorwurf, als der größte Bildhauer in Stein meißeln konnte.
Da endlich kam auch wieder Bewegung in Waris. Sorgsam hob sie Shenoas Kopf von ihren Beinen, ließ ihn zur Erde sinken und stand auf. Ein Zittern durchlief ihren athletischen Körper, während sie ihren Zeigefinger auf Mooley richtete. »Er sterben muss. Ich werde töten – mit meinen Händen.«
Zu Airas Überraschung blieb der Erdwirker bei diesen Worten gefasst, als hätte er die ganze Zeit darauf gewartet. Nur sachte schüttelte er den Kopf. »Vergib mir!«
»Dir nicht vergeben! Verräter du bist, Verräter du bleibst!«, zischte Waris.
Mooley schrumpfte noch mehr in sich zusammen, als wären es Pfeile und keine Worte, die sie nach ihm schleuderte. »Hab Mitleid! Ich bin ein Erdwirker wie du. Wenn wir zusammenarbeiten, kann ich dir vieles beibringen. All diese Kniffe und Tricks – wer soll sie dich lehren?«
»Ich Numar!«, brüllte Waris. »Ich Häuptlingstochter! Ich ...« Noch während sie schrie, begannen ihre Hände zu glühen. Aira konnte spüren, wie ihr Element sich losriss und eine wütende Sturmböe entfachte. Doch ehe sie sich darüber wundern konnte, fuhr ein Blitz vom Himmel nieder und schlug nur wenige Meter hinter ihnen in einen Baum ein, der sofort lichterloh zu brennen anfing. Mochte es ein Zeichen der Götter gewesen sein oder von Orcas selbst – dieser plötzliche Aufruhr der Elemente brachte sie alle miteinander zur Besinnung. Selbst Waris schien so erstaunt zu sein, dass sie ihre Fäuste zusammenkrampfte und das Glühen erlosch. Wahrlich – die Numar waren seltsame Wesen!
Mooley öffnete seinen Beutel und griff hinein. Hervor kam ein Stein in der Form eines fallenden Kometen, den er Aira nun mit bittendem Blick entgegenhielt: Es war der Schlüssel, der Kiesel wieder lebendig machen würde. Sie seufzte erleichtert auf. Also hatte Mooley die letzte Chance auf Rettung nicht zerstört und dafür konnte es zwei Gründe geben: Entweder war tatsächlich noch ein Rest Güte in ihm oder er hatte den Schlüssel für einen Moment wie diesen aufgehoben – als Tribut für sein Leben. Wie auch immer es sich verhielt, Aira griff schnell zu und schnappte sich das wertvolle Artefakt, ehe er es sich doch noch einmal anders überlegte.
Auf einmal stand Waris neben ihr. »Nicht trauen!«, grollte sie. »Er uns sonst in Rücken fällt – irgendwann! Besser töten!«
»Nein«, flehte Mooley. »Ich könnte euch selbst dann nicht mehr schaden, wenn ich es wollte. Shizari wird mich hinrichten, wenn sie erfährt, dass ich euch habe ziehen lassen. Also bleibt mir ohnehin nichts anderes mehr übrig, als mich auf Barshan Anur zu verstecken. Sobald ihr weggeflogen seid, zieht auch Airas Blutspur davon und die Wachsmonster können die Insel nicht mehr finden. Ich verspreche, dass ich das Dorf wieder aufbauen und den Menschen ein guter Beschützer sein werde.«
Niemand sagte etwas darauf. Auch Klecks und Grummler nicht, deren Kehlen vor Kummer wie zugeschnürt schienen. Waris sah Aira an und ihr stechender Blick wiederholte die Meinung, die sie bereits kundgetan hatte. In einer Hinsicht stimmte die Prinzessin ihr zu: Auch sie traute Mooley nicht mehr. Doch der alte Erdwirker lag ganz richtig, wenn er sagte, dass er ihnen nicht mehr gefährlich werden konnte. Und die Menschen auf der Insel brauchten einen Elementarwirker, der die Schutzzauber aufrecht erhielt und sie vor zufällig anlandenden Piraten beschützte.
»Wir lassen ihn leben«, entschied sie.
»Warum du bestimmen? Wir zu zweit!«, fragte Waris verärgert.
»Nein, wir sind zu viert«, konterte Aira. »Klecks und Grummler, was denkt ihr?«
Die beiden Angesprochenen sahen sie an, als hätte sie in einer fremden Sprache gesprochen. Wahrlich – sie waren noch nicht oft um Rat gefragt worden!
»Ich will niemanden mehr sterben sehen«, piepste Klecks schließlich.
»Und du?«, wandte Waris sich an Grummler. »Du gesehen, wie böse dieser Mann.«
Der Gargoyle nickte. »Jahrelang habe ich miterlebt, wie er sich im Himmelswagen betrunken hat, wie er nachts zurück ins Kloster schwankte und mich von meinen Studien abgehalten hat. Ich konnte ihn noch nie leiden!«
»Hmr«, machte Mooley und hielt seinen Blick.
»Aber dennoch glaube ich, dass auch etwas Gutes in ihm wohnt. Geben wir ihm die Möglichkeit, sich und der Welt zu beweisen, dass er es verdient hat zu leben. Er soll über Barshan Anur wachen – und ich über ihn.«
»Dein Mut in allen Ehren, kleiner Gargoyle«, sagte Aira. »Doch wie willst du auf Mooley aufpassen? Er ist ein Meister der Erde und du ...«
Grummler setzte eine schmollende Miene auf. »Man könnte glatt glauben, du hättest nicht gesehen, was ich mit der Seeschlange in der Höhle gemacht habe!«
Das stimmte. Aber bei diesem heldenhaften Rettungseinsatz hatte Grummler eine Waffe gehabt, die seither verschollen war – sein magischer, kleiner Fingerring. Aira wollte schon den Mund auftun, um etwas Entsprechendes zu sagen, da legte der Gargoyle einen Zeigefinger auf die Lippen und schüttelte unmerklich den Kopf. »Ich werde ihn finden«, flüsterte er.
Aira nickte ihm zu, dann wandte sie sich an Waris. »Es ist entschieden: Wir werden ihn am Leben lassen.«
»Ihr Fehler machen!«, stieß die Numar hervor. »Großen Fehler!«
Mögen die Götter uns davor bewahren, dass du recht hast , dachte Aira.
***
Klecks übernahm die ehrenvolle Aufgabe, den Schlüssel wieder in Kiesels Nacken zu platzieren. Barfuß und mit wehendem Kleid erklomm sie seinen Rücken, vollkommen ungerührt von dem Schneegestöber, das ringsum tobte. Was diese Dinge anging, war sie beinahe so seltsam wie die Numar, deren Hände in brennende Glut fassen konnten.
Der steinerne Komet war kaum in sein Schloss eingerastet, da ging bereits ein Rucken durch den Körper des Gargoyles. Seine Augen begannen zu funkeln, er riss sein Maul auf und brüllte: »Was hast du vor?« Dabei fuhr er herum und Klecks hätte beinahe den Halt verloren. Kreischend klammerte sie sich an seine Mähne.
Auch Aira wich im ersten Moment zurück. Erst da schien sich Kiesel ihrer gewahr zu werden. Er betrachtete sie verwirrt, dann sah er sich nach allen Seiten um und entdeckte Klecks auf seinem Rücken. »Ich verstehe nicht ... Wo kommt ihr plötzlich her? Gerade eben stand Mooley noch hinter mir.«
» Gerade eben liegt viele Stunden zurück, mein Freund. Unser Meister der Erde hat dich ausgeschaltet, um zu verhindern, dass wir die Insel verlassen. Aber wir haben es geschafft, den Schlüssel zurückzubekommen.«
»Er hat mich ausgeschaltet ?«, brüllte der Gargoyle. »Was fällt ihm ein? Oh, ich hasse den verfluchten Schlüssel!«
In der Tat musste es beängstigend sein, in dem Wissen zu leben, dass ein findiger Dieb jederzeit in der Lage war, einen seiner Seele zu berauben. Bislang hatte Aira nie über diesen Umstand nachgedacht.
»Du Armer!«, sagte Klecks voller Mitleid. Zum Trost schlang sie ihre Arme um Kiesels steinharten Hals. »Es ist schrecklich, eine Bürde mit sich zu tragen, die man einfach nicht loswird.«
»Es wird niemals wieder geschehen. Ich achte darauf! Du hast mein Wort!«, versuchte Aira, den Gargoyle zu besänftigen.
Es funktionierte nur leidlich. »Bringen wir den störenden Flusskiesel zum Schweigen – ganz einfach: Schlüssel raus! Hacken wir ihm Flügel und Beine ab – kein Problem, er lebt ja trotzdem weiter!«, echauffierte er sich.
Aira konnte ihn gut verstehen. Er hatte in den letzten Tagen viel Schlimmes durchgemacht. Außerdem war er nicht das einzige Wesen, das grummelig aus einem langen Schlaf erwachte und erst einmal Dampf ablassen musste. Nachdem er sich genügend aufgeregt hatte, setzte glücklicherweise wieder sein Denken ein. »Wo ist denn dieser Hornvogel abgeblieben?«
»Er ist tot!«, schluchzte Klecks. »Mooley hat ihn versteinert und aus dem Fenster des Windturms geworfen, als der Zauber nachließ. Er ist ganz schrecklich zerbrochen!«
»Was?« Kiesel machte einen Schritt zurück. Fassungslosigkeit stand in seinem Wolfsgesicht, dann schüttelte er betrübt den Kopf. »Ich hätte Mooley vieles zugetraut, aber das nicht.«
»Er hat noch schlimmere Dinge gemacht. Sogar Orcas ist wegen ihm gestorben!«, erzählte Klecks in weinerlichem Tonfall.
Es dauerte eine Weile, bis sie den völlig überrumpelten Gargoyle über die Geschehnisse des Tages in Kenntnis gesetzt hatten. Seine Reaktionen darauf reichten von Entsetzen und Wut bis zu tiefster Trauer. Ungläubig schüttelte er den Kopf. »Und ich rege mich über meinen Schlüssel auf. Dabei kann ich froh sein, überhaupt noch einmal Avantlans Luft atmen zu können«, brummte er.
Als Antwort streichelte Klecks ausgiebig sein steinernes Nackenfell.
Aira beschloss, ihre Abreise nicht länger als nötig aufzuschieben. Nun, da Shenoa tot war, mussten sie alle drei auf Kiesel fliegen, doch das sollte kein Problem werden. Immerhin war sie bereits zusammen mit Kayden und Klecks auf seinem Rücken nach Barshan Anur gereist. Kayden ... Was hätte sie dafür gegeben, ihn jetzt an ihrer Seite zu haben! Ob er auch so oft an sie dachte wie sie an ihn? Ob er noch wusste, wie ihre Lippen sich anfühlten?
Sie drängte diese Gedanken beiseite, da sie ohnehin zu nichts führten, und ging zurück ins Kloster, wohin Waris verschwunden war – angeblich, um etwas aus dem Stockwerk der Erdwirker zu holen. Aira vermutete eher, dass sie einen ruhigen Moment mit sich selbst brauchte, um Shenoa angemessen zu betrauern. Sie störte die Erdwirkerin nicht gern dabei, doch ihre innere Stimme mahnte sie zum schnellen Aufbruch. Bald würde der Abend grauen und sie wollte keine weitere Nacht mit Mooley auf der Insel verbringen. Grummler hatte zwar geschworen, ihn nicht aus den Augen zu lassen, aber auch dieses Versprechen konnte Airas aufgewühlten Geist kaum beruhigen.
Sie fand Waris in dem Nebenraum mit den Schlafplätzen, beide Hände auf dem heiligen Abbild von Mutter Erde. Anders als Aira vermutet hatte, trauerte sie nicht, sondern schien hochkonzentriert zu sein. Ihre Pupillen tanzten unter den geschlossenen Lidern und aus ihrem Mund drangen geflüsterte Worte in der Sprache ihres Volkes. Es sah aus, als beschwöre sie die glattgeschliffene Steinkugel oder bete zu ihrer Göttin. Was auch immer es war – Airas Intuition riet ihr, ganz leise in der Ecke stehenzubleiben und abzuwarten.
Nach einer Weile begannen die Hände der Numar zu glühen, genau wie vorhin, als sie Mooley angebrüllt hatte. Doch dieses Mal antworteten nicht die Elemente darauf, sondern Mutter Erde selbst, denn die Kugel fing plötzlich an, sich in ihrem Sockel zu drehen, als hätte jemand den Mechanismus eines kunstvollen Brunnens angeschaltet. Waris hielt die Augen weiterhin geschlossen, spürte nur mit ihren Händen der Drehung nach, flüsternd und murmelnd. Es war, als hätte eine uralte Macht von dem Raum Besitz ergriffen. Kein Zauber und keine Wirkermagie, sondern der Ursprung aller Dinge selbst. War es am Ende wirklich die Erde, die zu Waris sprach?
Noch während Aira fasziniert auf ihre neue Begleiterin starrte, ertönte ein schmatzendes Geräusch. Die Erdkugel verlangsamte ihre Drehung und blieb schließlich ganz stehen. Ein tiefes Seufzen drang aus Waris’ Mund. Sie drehte sich um und sah Aira an, als hätte sie längst geahnt, dass diese dort stand.
»Ich jetzt wissen, wo Splitter liegt. Er mich gerufen durch Erde, Sand und Gestein. Mutter seinen Ruf an mein Ohr gebracht«, verkündete sie. »Wir aufbrechen in Land der Fjeld.«
»Zu den freien Stämmen?«, japste Aira. »Sie sollen große Krieger sein. Aber unnahbar ... ernst und grantig.«
»Ja, wie Numar. Und Ravan. Alle im Norden ernst und grantig. Kein Problem.«
Dein Wort in der Götter Ohren , dachte Aira. Widerspruch war ohnehin zwecklos. Und so würde sie wenigstens sehen, woher Kaydens Mutter gekommen war. Ein Stück seiner Seele stammte aus jener endlosen Graslandschaft. Zumindest in dieser Hinsicht würde sie ihm also doch wieder ein wenig näherkommen.
»Was hast du da in der Hand?«, fragte sie Waris, deren Rechte etwas Kleines, Rundes umklammert hielt.
»Magischer Erdstein. Teil von Mutter«, sagte die Numar und hielt ihr das betreffende Artefakt entgegen. »Für dich, wegen Karte. Du versuchen!«
Der Stein war das Ebenbild der Skulptur in der Raummitte, nur sehr viel kleiner. Waris’ Göttin musste ihn geboren oder ausgespuckt haben, um ihnen zu helfen. Das war das seltsame, schmatzende Geräusch gewesen.
Erwartungsvoll nahm Aira ihn in die Hand. Als nicht sofort die ersten Zeichen mitten in ihrem Gesicht auftauchten, hob die Numar einfach den Saum ihres Kleids hoch und inspizierte ihre Beine. Aira kreischte.
»Warum schreien? Alle Straßen und Wege da – auf deinen Oberschenkeln!«, bemerkte Waris und ließ den Rock wieder fallen.
»Du bist so .... schamlos!«, beschwerte sich die Prinzessin.
Die Numar legte ihre Höckerstirn in Falten. »Was das sein – schamlos?«
Allein diese Frage erklärte alles.
Mit einem langgezogenen Stöhnen beendete Aira die Diskussion. Auch sie musste dringend noch einmal in den Windturm und ihr Alltagskleid durch das Kampfkleid ihrer Mutter ersetzen, denn darunter trug sie eine Hose. Für alle Fälle!
***
Wenig später saßen sie alle drei auf dem Rücken des Gargoyles und richteten ihre Blicke auf das endlose Meer hinaus. Grummler und einige Bewohner aus dem Dorf waren gekommen, um Abschied zu nehmen, darunter auch Brenja und der verwaiste Oley. Sogar Mooley stand mit einigem Abstand zu ihnen auf dem Klostervorplatz, den Kopf gesenkt und die Hände in den Hosentaschen. Er sah so allein und verloren aus, dass Aira vermutlich Mitleid mit ihm bekommen hätte, wäre sein Verrat nicht so frisch gewesen. So aber gedachte sie Orcas’ Asche und dem letzten Hornvogel, der nun in einem kalten Grab neben dem Kloster ruhte. Waris hatte es ausgehoben – mit einem einzigen Wink ihrer Hand. Genau diese legte sich nun von hinten auf Airas Schulter. »Nach vorne blicken«, sagte die Numar. »Tote nicht auferstehen. Wir retten Lebende.«
»Du hast recht«, antwortete sie. Dann schlang sie ihren Umhang um Klecks, obwohl diese ohnehin nicht fror. Das Mädchen kuschelte sich dennoch an ihre Brust.
»Sind deine Flügel auch wirklich wieder fest?«, fragte sie Kiesel, der bereits unruhig auf seinen Löwentatzen tänzelte.
»Diese sinnlose Frage gedenke ich zu ignorieren«, antwortete der Gargoyle.
Er breitete seine Schwingen aus und erhob sich in den dunkler werdenden Himmel. Zielsicher schlug er einen Kurs nach Norden ein – dorthin, wo die See noch klirrte und die Menschen nicht viele Worte machten. Allein bei dem Gedanken daran fröstelte Aira von innen heraus.