– Kapitel 12 –
AIRA
Bedächtig drehte Aira das Steinkästchen mit der immerwährenden Glut in ihren Händen. Der Flug von Barshan Anur ins Land der Fjeld verlief ereignislos, was in Zeiten wie diesen schon als Erfolg zu werten war. Die erste Nacht hatten sie auf einem kleinen Eiland kurz vor der Küste von Dukar verbracht und nun saßen sie erneut auf dem Rücken des Gargoyles, der einer ungewissen Zukunft entgegensteuerte. Keiner ihrer Begleiter war zum Reden aufgelegt und so hing auch Aira ihren eigenen Gedanken nach, die sich weniger um die Suche nach dem Lichtsplitter oder das Wohlergehen der zurückgelassenen Inselbewohner drehten, wie bei Waris und Klecks, als vielmehr um Kayden.
Seit seiner Abreise vermisste sie ihn. Es verging keine Stunde, in der sie sich nicht nach seiner Wärme sehnte, nach dem Feuer seines Blickes und der alles verzehrenden Hitze, die seinen Berührungen innewohnte. Und doch hatte sich etwas verändert. Wenn sie nun an ihn dachte, tat es weh. Eine seltsame Form von Schmerz – wie Eiswasser, das ihre Blutbahn flutete, um sie von innen heraus erstarren zu lassen.
Sie öffnete das Gefäß und betrachtete die Glut, die weiterhin beruhigend glomm und knisterte. Vielleicht war es also nur die Kälte in Airas Händen, die ihr weiszumachen versuchte, irgendetwas sei passiert. Dennoch wurde sie den Gedanken nicht los.
»Was wird geschehen, wenn Grummler seinen Ring nicht mehr findet? Glaubst du, Mooley könnte ihm etwas antun?«, riss Klecks sie aus ihren Überlegungen. Die Kleine hatte den Platz in Airas Mantel beibehalten. So wie sie sich früher stets an Kaydens Brust gekuschelt hatte, schmiegte sie sich nun an ihre. Ihr blondes Haar flatterte im Wind und ausnahmsweise hatte sie heute so gar nichts Tierisches an sich.
»Nein«, antwortete Aira, obgleich sie dieselbe Befürchtung hegte.
»Mooley über Leichen gehen«, schaltete Waris sich ein. »Leiche von Meister. Leiche von Hornvogel. Also auch Leiche von Gargoyle.«
Die Numar saß hinter ihnen, von wo aus sie alle Himmelsrichtungen am besten überblicken konnte. Dabei hatte sie dauerhaft eine Hand am Griff ihres Kurzschwerts, als rechnete sie mit dem plötzlichen Angriff eines Wachsmonsters aus der Luft. Seit ihrem Aufbruch von Barshan Anur trug sie zu Airas Erleichterung eine Hose. Eigentlich hatte die Prinzessin ihr eine komplette Ausrüstung menschlicher Kleidung hingelegt, aber diese Hose war bereits ein großes Entgegenkommen seitens ihrer Begleiterin gewesen, wenn Aira deren Reaktion richtig verstanden hatte. Denn »Numar Kleidung tragen, weil kalt. Nicht weil verdecken. Mantel reicht.«.
Es war dennoch ein Gewinn, sie nur noch halb so schamlos zu wissen wie zuvor.
»Mooley ist klar, dass er in Shizaris Augen versagt hat. Er wird stillhalten«, bekräftigte Aira.
»Oder schicken Botenvögel in Tothautlande ...«, brummte Waris.
Sie vertieften die Diskussion nicht mehr, da sie ohnehin zu nichts führen würde. Die Entscheidung, Mooley am Leben zu lassen, war bereits gefällt und nun würden sie mit den Konsequenzen leben müssen, wie auch immer diese aussahen.
Sie überflogen den südlichen Ausläufer von Dukar mit seinen bewaldeten Ebenen und passierten Dukaran ganz bewusst außerhalb der Sichtweite seiner Bewohner. Die Händlerstadt war ein Nest von Intriganten und feindlichen Spähern, wie Aira mittlerweile wusste. Von der freudigen Aufregung, die sie beim ersten Betreten der Stadt empfunden hatte, war seit ihrem knappen Entkommen aus dem Turm von Marvellus Penta nichts mehr übrig. Umso froher war sie, als sie auch die Straße der Götter hinter sich gelassen hatten und am Horizont die geschwungenen Kuppen der Grasberge auftauchten. Diese natürliche Grenze trennte die freien Stämme der Fjeld seit Anbeginn der Zeiten von ihren Nachbarländern. Ähnlich wie das Volk der Numar, deren Königreich durch ein Gebirge und eine gähnende Schlucht vom Rest des Landes abgespalten war, hatten die Fjeld so eine sehr eigene Zivilisation ausgeprägt, die Aira bislang nur aus Büchern kannte. Es sei ein rückständiges Volk ohne Kultur und Manieren, hieß es darin. Doch da diese Lektüre gänzlich von den Chronisten Jandors stammte, durfte man wohl annehmen, dass eine leichte Zensur stattgefunden hatte. Ein König, der in einem vergoldeten Palast lebte, fünf Götter anbetete und stets darauf bedacht war, seine Maler und Bildhauer zu bestechen, tat vermutlich recht daran, seinem Volk keine alternativen Wege aufzuzeigen.
Gallus … Seit ihrer überstürzten Abreise aus Jandor hatte Aira kaum einen Gedanken mehr an ihn verschwendet. Sie gedachte fast täglich ihrer Mutter, doch ihr Vater, der seine Töchter nicht geliebt und seine Ehefrau getötet hatte, war es nicht wert, sich Sorgen um ihn zu machen. Um seine Untertanen hingegen bangte Aira. Was würde geschehen, wenn Shizari auch den Palast von Noskiris infiltrierte? Jandor war kein Land, das sich mit heldenhaften Rettern oder mutigen Kriegsherren schmücken konnte. Außer den wenigen Shadid und einer verweichlichten Armee gab es niemanden, der sich der dunklen Zauberin in den Weg stellen würde.
Je näher die Grasberge mit ihren schneebestäubten Kuppen kamen, desto zappeliger wurde Waris auf dem Rücken des Gargoyles.
»Was ist mit dir?«, fragte Aira schließlich. »Ängstigt dich etwas? Witterst du Gefahr?«
»Nein.« Die Numar stieß einen Schwall angehaltener Luft aus und sank sichtbar in sich zusammen.
»Du hörst nichts, habe ich recht? Der Lichtsplitter ruft nicht nach dir.«
Waris schwieg, was bereits Antwort genug war.
»Vielleicht ist der Flugwind zu laut?«, mutmaßte Klecks.
Die Numar zuckte mit den Schultern.
»Natürlich, jetzt ist wieder der Gargoyle mit seinen steinernen Flügeln schuld!« Ruckartig drehte Kiesel seinen Kopf zur Seite und funkelte seine Passagiere wütend an. Die drei klammerten sich aneinander, um nicht abgeworfen zu werden.
»Oder wir sind noch zu weit von der richtigen Stelle entfernt«, schlug Aira vor, nachdem ihr fliegender Untersatz sich wieder in einer waagerechten Position eingependelt hatte.
Eine ganze Weile sagte Waris nichts darauf, sondern starrte nur auf die schneebedeckte Landschaft mit den vielen grünen Sprenkeln hinunter. An manchen Stellen schien die Erde so warm zu sein, dass der Schnee darauf nicht liegen blieb, sondern eine frühlingshaft anmutende Grasdecke hindurch blitzen ließ. Aira vermutete, dass es sich dabei um Erdwärme handelte. Immerhin verband kein anderes Land die Elemente Feuer und Erde besser als das der Fjeld. Sämtliche Drachenreiter waren von hier gekommen und die direkte Nähe des erdverbundenen Numar-Volkes hatte vielleicht auch dafür gesorgt, dass der entsprechende Splitter in dieser Gegend gelandet war.
»Ich Kontakt zu Mutter brauchen. Wir runter müssen!«, verkündete Waris im Brustton der Überzeugung. Aufgeben schien ihr nicht im Blut zu liegen, egal wie aussichtslos die Lage war.
Immer noch beleidigt brummelnd ließ der Gargoyle sich tiefer sinken und sah sich nach einem geeigneten Landeplatz um. Am nördlichen Ausläufer des Gebirges setzte er schließlich auf einem kleinen Felsplateau auf. Es war ein guter Ort, um die Gegend zu erkunden, und vielleicht sogar, um die Nacht zu verbringen, denn die moosbewachsene Bergkuppe hinter ihnen gab ihnen Rückendeckung, während sie in die andere Richtung meilenweit blicken konnten. Mögliche Angreifer würden sie also bereits lange vor einem Überfall bemerken.
Waris stand schon mit beiden Beinen auf festem Boden, ehe Aira auch nur ihren Umhang öffnen konnte, um Klecks herauszulassen. Erst lief die Erdwirkerin ziellos auf und ab, dann legte sie eine Hand an die Steilwand hinter ihnen und schloss die Augen.
»Und ... ruft er? Oder flüstert wenigstens?«, erkundigte sich Klecks zaghaft, während sie und Aira ebenfalls von Kiesels Rücken kletterten.
Waris schüttelte den Kopf. »Ich Ruhe brauchen. Ihr hierbleiben!« Damit schlang sie ihren Fellmantel enger um sich und verschwand durch die schmale Klamm, welche vom Plateau aus in das Gebirge hineinführte.
Niedergeschlagen drehte Klecks sich zu Aira und Kiesel um. »Was machen wir denn, wenn der Splitter einfach nicht von ihr gefunden werden will?«
»Auf das Ende der Welt warten«, kam es zynisch von dem Gargoyle.
»Nach Eliandar fliegen – zu Kayden!«, sagte Aira. »Das wollte ich von Anfang an.«
»Aber ohne die Lichtsplitter werden wir Shizari niemals besiegen können!« Mittlerweile schien sogar das Fuchsmädchen zu verstehen, dass das Leben kein bekennender Optimist war.
Aira seufzte. »Warten wir erst einmal, ob Waris Hilfe von ihrem Element erhält. Immerhin ist sie eine Numar und die stecken bekanntlich voller seltsamer Geheimnisse.«
Um sich die Zeit bis zur Rückkehr der Erdwirkerin zu vertreiben, sammelten sie zwischen den Felsspalten Reisig und kleine Äste. Das Holz stammte von den wenigen mageren Birken, die hier oben wuchsen und würde gutes Brennmaterial abgeben. Je tiefer die Sonne sank, desto kälter wurde es, und in solchen Nächten war ein wärmendes Feuer der beste Freund jedes Reisenden. Aira musste nicht einmal Schlageisen und Feuerstein hervorkramen, sondern einfach nur einen dürren Zweig an die immerwährende Glut halten. Die kleine Fackel, die sie daraufhin in der Hand hielt, war wie ein zarter Kuss aus der Ferne. Ein dahingehauchtes Versprechen Kaydens, lebendig zu ihr zurückzukehren. Immerhin war es die Glut seines Herzens, die dieses Feuer entzündet hatte.
Sie steckte das Reisig in Brand und kauerte sich mit Klecks davor. Kiesel legte sich hinter sie und schon bald hatte sein Granitkörper sich in eine passable Heizung verwandelt, welche die Flammen des Lagerfeuers speicherte und reflektierte. Trotz der prekären Situation, in der sie sich befanden, fühlte Aira so etwas wie Behaglichkeit aufkommen.
»Waris bleibt ziemlich lange weg. Ist das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?«, fragte Klecks, die sich in Fuchsgestalt auf ihrem Schoß zusammengerollt hatte.
»Ein gutes, denke ich«, log die Prinzessin.
»Aber was machen wir, wenn sie nachher zurückkommt und ...« Mitten im Satz brach Klecks ab und spitzte die Ohren in Richtung der Klamm.
»Was hörst du? Ist es Waris?«
Anstelle einer Antwort ruckte nur die Fuchsnase schnuppernd nach oben. Auch der Gargoyle lauschte angespannt in dieselbe Richtung. Aira hielt den Atem an.
»Viele Schritte nähern sich, beinahe lautlos«, flüsterte Klecks. Dabei zitterte ihr violettes Fell wie das Berggras im Winterwind.
Auch in Airas Brust regte sich eine erste Böe. Sie stand auf und zurrte ihr Mieder zurecht. Nun galt es, ihre Aufregung so lange zu bändigen, bis sie die Situation klar durchschaute. Dass die Numar in diesem Gebirge zufällig alte Freunde getroffen hatte, wagte sie nicht zu hoffen. Denn Freunde machten auf sich aufmerksam. Wer sich jedoch in nahender Dunkelheit auf leisen Sohlen heranschlich, hatte nur selten gute Absichten.
Ihre Befürchtung bewahrheitete sich, denn schon kurze Zeit später zischte ein Pfeil durch die Luft und schlug krachend irgendwo ein. Im Zwielicht des Sonnenuntergangs konnte Aira nicht erkennen, woher er gekommen war, doch es musste von weiter oberhalb des Berges gewesen sein. Hastig presste sie Klecks an sich und suchte Deckung unter Kiesels ausladender Halsbeuge.
»Kannst du den Schützen sehen?«, raunte sie dem Gargoyle zu.
Keine Antwort.
»Kieserian! Siehst du etwas?«
Schweigen.
In banger Erwartung schielte Aira zu dem Auge des Gargoyles, das sie ebenso kalt und steinern vorfand wie erst vor wenigen Stunden auf Barshan Anur. Sie ließ ihren Blick noch höher wandern und erblickte genau das, was sie befürchtet hatte: Der Pfeil – vermutlich aus Kambriholz gefertigt – hatte zielsicher in Kiesels Nacken eingeschlagen und den Schlüssel heraus gehebelt. Irgendjemand wollte sie ausschalten und derjenige wusste ganz genau, wo ihre Schwachstellen lagen. Ob Mooley dahinter steckte? Hatte er sie wirklich gleich nach ihrem Abflug erneut verraten?
Waris hatte recht. Wir hätten ihn niemals am Leben lassen dürfen!
Klecks’ kleine Pfote berührte Aira im Gesicht. »Wir müssen hier weg!«
»Wie denn, ohne Kiesel? Außerdem können wir Waris nicht einfach so zurücklassen!«
»Ich klettere hoch und setze den Schlüssel wieder ein. Ich bin klein und schnell. Bevor sie mich bemerken, ist alles vorbei«, schlug das Fuchsmädchen vor.
»Sie haben mit einem einzigen Schuss genau ihr Ziel getroffen. Warum sollten sie dich übersehen?«
»Weil niemand mit einem lila Fuchs rechnet«, sagte Klecks entschieden und strampelte sich los, ehe Aira sie gewaltsam zurückhalten konnte. Tatsächlich glich sie mehr einem bunten Eichhörnchen, so schnell, wie sie am Hals ihres steinernen Freundes entlang nach oben huschte. Für die Dauer eines Wimpernschlags schöpfte Aira Hoffnung, doch dann ertönte erneut das Surren eines Pfeils in der Luft. Ein Geräusch wie der Tod, leise und gewiss. Die Luft war angefüllt von diesem einen brüllenden Flüstern. Und die Welt stand still.
Ein schlaffer Körper schlug neben ihr auf den Boden. Er war klein und hatte lilafarbenes Fell. Doch das konnte nicht Klecks sein, die da lag! Nicht dieses wundervolle, liebenswerte, herzensgute Geschöpf! Blind vor Tränen kroch Aira auf das Fuchsmädchen zu und schloss es in ihre Arme. Da erst spürte sie den Pfeil. Es war kein gewöhnliches Geschoss mit langem, befiedertem Schaft und metallener Spitze, sondern ein sehr dünner, kurzer Bolzen, der eher aus einem Blasrohr zu stammen schien.
Gift! , fuhr es ihr durch den Kopf.
Mit einem schnellen Ruck zog sie den tödlichen Stachel aus Klecks’ Körper, dann presste sie ein Ohr auf deren Brust und lauschte. Bumm-Bumm machte das kleine Herz, rhythmisch und stark, als wollte es allen Feinden zum Trotz mit ganzer Kraft weiterschlagen. Erneut kamen Aira die Tränen, diesmal vor Erleichterung. Sanft legte sie Klecks unter den versteinerten Gargoyle. Dann schnürte sie ihr Mieder auf und erhob sich.
Innerhalb von Sekunden war die Luft von einem heftigen Brausen angefüllt. Zuerst dachte Aira, es sei ihr stürmischer Gefährte, der seine unsichtbaren Hände zu Fäusten ballte, dann begriff sie, dass auch dieses Geräusch von Pfeilen herrührte. Sie hob die Arme in die Luft, um den Angriff abzuschmettern wie in der Schlacht von Barshan Anur, doch nichts geschah. Erneut schwieg der Wind – genau wie bei ihrem letzten Aufeinandertreffen mit Sebald Blutspeer. Panisch sprang sie zurück unter Kiesels schützenden Körper, aber es war zu spät. Einer der Pfeile erwischte sie am Oberarm und innerhalb von Sekunden schwanden ihr die Sinne. Nur verschwommen nahm sie noch ihre eigene Hand wahr, die den vergifteten Schaft packte und herauszog, dann fiel sie auf die Knie.
Aus der Klamm trat eine Horde Menschen hervor – bärtige Krieger, mit nackten, bemalten Oberkörpern. Wildes Siegesgeheul drang aus ihren Kehlen und einige von ihnen trommelten mit hölzernen Keulen gegen ihre Schilde oder den nächstbesten Felsbrocken. In ihrer Mitte führten sie eine gefesselte Numarkriegerin mit einer Klinge am Hals.
»Ihr so dumm«, hörte Aira Waris noch sagen. »Machen Feuer auf Felsen, wo jeder sieht!« Dann löste sich das Bild vor ihren Augen auf und sie sank in eine eiskalte Dunkelheit.