– Kapitel 13 –
KAYDEN
Es schneite noch immer. Kayden stand nachdenklich gegen einen Felsen gelehnt am Strand und schaute dabei zu. Weiß sank vom Himmel und das Schwarz fraß es auf. Eine passende Metapher.
Hinter ihm knirschte der Kies und Nephele stellte sich neben ihn, den Blick mehr in als auf das Meer gerichtet.
Eine Zeit lang schwiegen sie, jeder für sich.
»Liebst du jemanden?«, fragte sie irgendwann zaghaft, fast schüchtern.
Er kniete sich hin, tauchte die Hand in die heran schwappenden Wellen und roch daran, als müsse er eine Witterung aufnehmen.
»In meiner Erinnerung, ja.« Er nahm einen Stein und wog ihn prüfend in der Hand. »Doch jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Gar nichts ist mehr sicher, oder?« Diese verfluchten Träume höhlten ihn allmählich aus.
Ihre kühlen Finger fuhren über seine, flüchtig und doch mehr wollend. Er blickte sie an und sie wandte sich verlegen ab.
»Wie ist ihr Name?«
»Aira Felsenfaust«, sagte Kayden und warf den Stein im hohen Bogen ins Wasser. Windtupfer wäre jetzt losgeflitzt und hätte sich gewundert, wo die Beute abgeblieben war. Immerhin konnte er sich an die treue Hündin erinnern, auch wenn es ihn schmerzte. Aber wenn Shizari sich an etwas ergötzte, dann wohl an Schmerz und dunklen Gedanken. Er betrachtete Nephele von der Seite. Sie strahlte eine vollkommen andere Aura aus als Aira. Ihre war von Leid umwoben, aber auch von einer inneren Stärke. Ihre Haltung war nicht von Stolz geprägt, sondern von Trotz. Und zwar auf eine Weise, wie Kayden sie kannte und die ihn anzog. Er fühlte etwas für sie, das ihn verwirrte und nicht in Worte zu fassen war. Er blickte die schroffe Küste entlang, versuchte nachzudenken. Was
sollten sie jetzt tun? Die Zeit war gegen sie.
»Was genau ist dein Auftrag, Nephele? Die Türme ausschalten, dann schickt die
große Dunkle
ein paar Schiffe und sie heben den magischen Spiegel?« Die junge Frau sah ihm fest in die Augen und etwas darin machte Kayden nervös. Ihr Blick wurde hart, undurchdringlich.
Ich habe es gesehen,
dachte er.
Das Schiff am Meeresgrund. Den Schatten, der auf den Planken kauerte.
Wer,
beim knöchrigen Arsch des Wanderers
, wühlte eigentlich ständig in seinem Kopf herum? Dunkle Mächte. Helle Zauberinnen und nun eine von Shizaris Dienerinnen, die etwas zu verbergen hatte.
Doch was blieb ihm für eine Wahl? Womöglich würde jemand hellhörig werden, sobald Nephele mit ihrem Auftrag ins Stocken käme. In Ars Deran hatten sie ihm aufgelauert. Wer konnte sagen, wie viele von Shizaris Schergen noch in der Nähe umherirrten? Er glaubte nicht, dass die junge Frau in irgendeiner Weise gefährlich war. Sie tat, was sie zu tun hatte. Die Konsequenzen, die damit einhergingen, mochte er sich nicht vorstellen.
Er stapfte zurück zum Turm. »Fahre zur See, Kayden! Da erlebst du was, Kayden! Verdammt, ich hätte mich in den Bergen von Brandawik eingraben sollen, Einsiedler werden oder so was. Aber nein, der junge Herr musste ja unbedingt in die weite Welt hinaus …« Derart ging es munter weiter, während Nephele ihm folgte. Er konnte nicht sehen, dass sie auf eine Art lächelte, die meist mit Unglück einherging.
***
Der Pinsel, getränkt mit Tee, zog eine blasse Linie über das Pergament, leicht krakelig, damit es realistischer wirkte. Kurz hinter dieser Linie machte Kayden einen Punkt, mehr einen
Klecks
, was ihn zum Schmunzeln brachte.
»Wie viele?«, fragte er.
»Zweiundvierzig«, sagte Nephele.
»Abstand?«
»Etwa sieben Meilen.«
Er überschlug die Zahlen im Kopf.
»Das sind zweihundertvierundneunzig Meilen! Wie viele der Türme strahlen nicht mehr?«
Sie überlegte nicht lange. »Die Hälfte.«
»Gut, dann brennt bei Einundzwanzig noch das Licht. Sind am Anfang und am Ende noch welche intakt?«
»Nein, nicht alle.«
Kayden schaute neugierig auf. »Wie bist du vorgegangen? Wie hast du sie abgeschaltet? Und woher wusstest du, welchen du sabotieren musst?«
Die junge Frau zögerte. Ihre dunklen Augen musterten ihn erneut mit einer Intensität, die den Nordmann reichlich nervös machte. Schließlich nickte sie, als wollte sie damit sagen, dass sie ihm vertraute.
»In allen Türmen, oben im Auge, steht eine Statue, welche das Mondlicht in ihren Händen hält. Jede davon hat ein Zeichen. Ich bekam Schlüssel an diesen Ort gesandt, in unregelmäßigen Abständen. Hatte die Statue das passende Zeichen … habe ich das Licht getilgt.«
Schlüssel, Steinfiguren, Licht … All das erinnerte Kayden verflixt an die Begegnung mit Kiesel. Magie, die erst entfacht wurde, wenn sie vollständig war. Nur hier war es andersherum, was Sinn ergab. Ohne die Schlüssel würden die Türme bis in alle Ewigkeit aufs Meer leuchten. Wer allerdings der Dummkopf war, der diese irgendwo aufbewahrte, der gehörte … Zudem war ihm an der Statue weder ein Zeichen noch irgendein Schlüsselloch aufgefallen. Aber er hatte auch nicht danach gesucht, musste er zugeben.
»Wie sind sie hierhergebracht worden?«
»Mit einem Botenvogel. Ich habe ihn niemals gesehen, aber ich nehme es an, denn ich ging jeden Tag aufs Dach hinaus. Und wenn ein Schlüssel da war, machte ich mich ans Werk. Wer sonst, außer einem Vogel, hätte sie dort ablegen können, ohne dass ich es bemerkte?«
Eine gute Frage.
»Weißt du, von wem sie geschickt wurden?«
Nephele wusste es nicht. »Woran denkst du?«, fragte sie, während Kayden sich den Kopf zerbrach, wer diese Schlüssel einst aufbewahrt hatte. Er nahm an, dass sie am besten auf Barshan Anur in Sicherheit gewesen wären. Aber alle zweiundvierzig? So fahrlässig wäre Orcas nicht gewesen. Oder doch? Die Türme waren mit der Magie der Erdwirker errichtet worden. Und beim
blinden Wanderer
, dies ließ nur wenige Möglichkeiten zu. Kayden bekam ein ziemlich ungutes Gefühl und sein Bauch stimmte zu. Doch je länger er die Karte anstarrte, desto mehr Frust staute sich in seinen Adern an. Das ungute Gefühl verwandelte
sich in Wut. Es war, als betrachte er ein Bild, dessen Konturen sich dem Betrachter entzogen. Das zwar dem Auge schmeichelte, aber vollkommen verkehrt war, schief und undeutlich.
»Nein!«, knurrte Kayden und hieb mit der Faust auf den Tisch. Das Geschirr machte klirrend einen Satz und Nephele wich bis an die Wand zurück. In ihrem Blick erkannte er einen Anflug von Panik, die, als sie sich dessen bewusst wurde, sofort wieder erlosch. Bis auf ein verwirrtes Glimmen.
»Was?«, fragte sie und fuhr sich mit den Fingerspitzen über die Lippen.
Kayden sah sie an, als müsste er durch eine Mauer brechen und nur das richtige Werkzeug dafür finden. »Merkst du es denn nicht? Das hier ist falsch! Es ist verdreht und voller Lügen. Ein Spiel, das von höheren Mächten ersonnen wurde. Ich hasse es, wenn ich dastehen muss wie eine Marionette, die darauf wartet, dass an ihren Fäden gezupft wird.«
Nephele kam zurück zum Tisch, schaute auf die Karte und dann ihn an. Die aufflackernde Lust war panischer Verwirrung gewichen.
»Jemand will uns …?«
»
Verarschen!
So nennt man das im Norden. Jemand lässt uns mit dem nackten Hintern voran auf dünnes Eis springen.«
»Ich … ich verstehe nicht.«
Kayden raufte sich das Haar, rieb sich die Schläfen. Seit einigen Minuten bohrte ihm jemand eine dünne Nadel durch seinen Schädel mitten in seine Gedanken. An der immer selben Stelle.
»Ein paar wirklich verderbte Dinge sind in diesem verdammten Spiegel gefangen! Richtig?«
Nephele nickte beklommen.
»Irgendjemand hat das Schiff hierhergebracht, es versenkt. Laut einer verlässlichen Quelle, weiß ich, dass die Türme mit Erdmagie errichtet wurden. Schließlich wurden die Mondlichtsteine darauf verteilt, damit keines von Shizaris Wachsmonstern auch nur einen Fuß in diese Brühe setzen kann.« Er schaute sie an. »Oder rede ich jetzt Unsinn?« Kayden bekam kaum noch Luft.
»Ich denke, so könnte es gewesen sein«, flüsterte die junge Frau.
»Dieser Wirker nimmt also zweiundvierzig Schlüssel mit sich, welche die Türme abschalten können …«, sinnierte Kayden und der Schmerz in seinem Kopf wurde immer heftiger. »Und dann schickt er, oder wer auch
immer, dir häppchenweise einen davon. Stimmt doch?«
Nephele sah ihn an, als wäre er dabei, den Verstand zu verlieren.
»Ich … ich suche den entsprechenden Turm, bringe ihn zum Erlöschen und dann … Ja, das stimmt alles. Aber ich verstehe nicht, was du …«
»Wieso?«, schrie Kayden.
»Wieso? Was willst du damit sagen?«
»Ein Spiegel, der nicht gefunden werden darf! Geschützt durch ein magisches Licht, damit die
Eine
ihre Finger nicht dran bekommt.« Er drehte sich im Kreis und lachte irre, deutete auf das Innere des Turms. »Wozu dann die verdammten Schlüssel?«
Nephele sackte auf den Stuhl, als hätte ihr jemand die Puppenfäden durchgeschnitten. »Bei der mondlosen Nacht!«, hauchte sie.
»Besser hätte ich es auch nicht sagen können«, erwiderte Kayden. Er blickte sie an. »Und nun, Nephele, erkläre mir, wieso du mir noch kein Messer in den Rücken gerammt hast!«
Sie stand da, starr vor Schreck. Ihr Kehlkopf hüpfte auf und ab.
»Ich sage es dir«, flüsterte der Nordmann. »Du hattest eine ganz ähnliche Vermutung. Diese Markierungen am Waldrand, sie dienten einem Zweck. Du warst dort nicht schwimmen, du hast das Wrack gesucht. Und ich denke, dass du wesentlich länger die Luft anhalten kannst, als ich es jemals könnte, ganz einfach, weil du keine benötigst, wenn du ins Meer gehst. Die Anziehung zwischen uns. Sie speist sich aus der Gegensätzlichkeit unserer Elemente. Du bist eine
Wasserwirkerin
!«
Nephele nickte beklommen und Tränen rannen an ihren blassen Wangen hinab.
»Ich fühle mich nicht gut«, sagte Kayden. Zu mehr war er nicht fähig.
***
Vor den Mauern heulte der Wind. Der Schnee fiel nicht mehr so dicht, dafür nun beinahe waagerecht vor dem Fenster, in dessen Ecken sich Eisblumen einnisteten.
Der Kopfschmerz hatte nachgelassen, war zu einem dumpfen Pochen geschmolzen, das sich dennoch anfühlte, als klopfe jemand an eine Tür, die er nicht zu finden vermochte. Der nagende Verdacht, dass er hier in jahrhundertealten Winkelzügen umherirrte, machte ihn wahnsinnig. Und auch unglaublich müde.
Stundenlang hatte er auf einem Felsen gesessen, die verschneiten Bäume um Rat gefragt und überlegt, ob er nach Kasai rufen sollte. Doch solange sein Bauch ihm sagte, dass all dies noch immer eine Falle sein konnte, hielt er es für ratsamer, wenn niemand davon wusste, dass ein Drache in der Nähe sein Unwesen trieb. Zudem hatte Kayden nur eine verschlafene Antwort von seinem Gefährten bekommen, als er ihn im Geiste gerufen hatte. Kasai hatte sich anscheinend irgendwo in einer Höhle zusammengerollt und schlief sich mal ordentlich aus. Fein, wirklich toll.
Er lag barfuß auf dem Bett, die Lider halb geschlossen und versuchte, das Klappern von unten zu ignorieren. Nephele hatte ihnen beiden ein üppiges Abendmahl zubereitet und räumte nun auf. Er hatte angeboten, ihr zu helfen, doch schien sie sich wohler zu fühlen, wenn die Dinge in Kaydens Reichweite nicht zum Gegen-die-Wand-schleudern geeignet waren.
Wozu dann die Schlüssel?
Die Worte nagten an ihm, tropften unaufhörlich in seinen Kopf. Die Erschöpfung ließ Bilder vor seinem inneren Auge vorbeihuschen. Aira, in ihrem Windkleid. Meridiem, die über ihm hockte und in sein Ohr wisperte. Klecks, die spielen wollte. Und dann kamen die Toten! Der Flinke Kazkal grinste; mit seiner stumpfen Axt in der Hand sank er in die Tiefe des Meeres. Krill, der an einem Feuer hockte und welchem Gift aus den Zähnen blubberte. Tulvar, der mit seinen zerschmetterten Kniescheiben umhertorkelte und dabei lauthals lachte. Lina, die mit einem Strick um den Hals hin und her schwang und ihm eine Blume entgegenstreckte.
»Kayden?«
Er schlug die Augen auf. Nephele stand in sicherer Entfernung vor dem Bett und rang die blassen Hände. Ihr dunkelblaues Kleid war noch mit Mehl bestäubt und ihr Blick wanderte zu den weichen Decken.
Ächzend setzte er sich auf. »Ich schlafe unten«, brummelte er, doch mit drei Schritten war sie bei ihm, schüttelte sachte die Locken.
»Mir ist kalt und du … nun, du bist wie eine lebende Kohlenpfanne. Ich habe mein halbes Leben lang frierend auf Stroh gelegen.« Sie versuchte ein zaghaftes Lächeln.
Kayden war zu müde für eine Diskussion, die ohnehin zu nichts führen würde, außer dass er sich unten auf die Holzbank setzen und einen guten, alten Soldatenschlaf dösen würde. Außerdem wollte er nicht allein sein.
Sie half ihm dabei, seinen Verstand beisammen zu halten, auch weil er die Nähe ihres Elements nun deutlicher spüren konnte. Es schien, als sei das Feuer in ihm endlich auf der Hut vor ihrem Wasser. Er schlug die Decken beiseite und Nephele kuschelte sich, ihm den Rücken zuwendend, dankbar ein.
Lange lauschten sie dem Heulen des Windes und dem wilden Rauschen der Brandung.
»Du träumst also auch von ihr?«, warf Kayden irgendwann in die kerzenschattige Stille. Die junge Wirkerin drehte sich auf den Rücken, die Decke bis zum Kinn gezogen.
»Bald jede Nacht«, wisperte sie.
»Was bezweckt sie überhaupt damit?«
»Es dient der Kontrolle und der Bindung«, erklärte die junge Frau. »Shizari lebt in ständiger Furcht vor dem eigenen Willen. Bei den meisten Menschen genügt ein Wort von ihr, eine Berührung, um sie zu unterwerfen. Aus dieser Finsternis schöpft sie ihre Macht. Sie ist ihr geschenkt worden. Die Elemente jedoch sind das genaue Gegenteil davon. Ich spüre die Anwesenheit der
Einen
und manchmal den unbändigen Drang, mich
hinzugeben
, die Nephele, die ich einst war, aufzugeben, sie gar vollkommen zu vergessen, ja zu verleugnen. Das habe ich damit gemeint, als ich sagte, dass Shizari sogar die Liebe in Asche zu verwandeln vermag.«
Kayden suchte in seinen Adern nach Aira. Nach dem überwältigenden Gefühl, das sie immerzu in ihm entfacht hatte. Ihm war, als greife er nach etwas, das sich vor seinen Augen in Nebel verwandelte. Als versuchte er, etwas aus dem Wüstensand zu graben.
»Haben wir deshalb …?«, fragte er.
»Ich denke, es ist wie eine Kette, deren Glieder unvollständig sind. Jeder reagiert anders darauf. Manchmal gibt sie einem sogar Halt. Ja, ich denke, es bindet uns aneinander! Doch ich spüre, wie mein Element sich dagegen wehrt. Wasser lässt sich nicht anketten.«
»Das Feuer ebenso wenig. Das Natürliche strebt nach Freiheit …«
»Es will nicht eingesperrt sein, so empfinde ich es. Eine Zeit lang mag das gelingen, doch es besitzt seine eigene Energie.«
»Deshalb muss Shizari diese
Kette
ständig neu schmieden.«
»Sonst würde sie endgültig die Kontrolle verlieren.«
Womöglich erklärte das die Wut, die in Kayden brodelte. Sein Element
riss an den Fesseln, die Shizari um ihn zu binden versuchte.
»Bist du die einzige Wasserwirkerin der Tothautlande?«
»Ja«, stieß sie zittrig aus. »Ich glaube aber, dass es Zeiten gab, da es auf ganz Avantlan Elementarwirker gegeben hat. Auch bei uns. Aber jemand oder etwas hat dafür gesorgt, dass sich das ändert.« Kayden hatte sich schon einige Male gefragt, was die Tothautlande zu dem gemacht hatte, das ihrem Namen entsprach. Ein Land, in dem es sich kaum überleben ließ. In der eine von Hass zerfressene Zauberin hauste, die auf mehr als nur Rache aus war. Was war damals geschehen? Im Traum hatte er die verbrannten Dörfer gesehen, den schwarzen Stein, die boshafte Dunkelheit, die von einem kleinen Mädchen Besitz ergriffen und aus ihr eine grausame Zauberin gemacht hatte. Doch wer war dafür verantwortlich?
»Dann hat Shizari also gezielt nach dir gesucht, um die
Strahlenden Türme
zu Fall zu bringen«, mutmaßte Kayden.
»Du hast keine Ahnung, Nordmann. Du weißt nicht, welchen Weg ich hinter mir habe und welchen noch vor mir«, raunte sie heiser.
»Erzähle es mir!«, sagte Kayden und legte sich auf die Seite. Nephele schloss die Augen und eine Träne löste sich.
»Ich war acht, als mein Vater starb. Man nennt es die
Tothautlande
und, bei der
Einen
, das ist es auch: ein totes, gehäutetes Land. Es war zu allen Zeiten schwierig, dort zu überleben. Aber wenn das Schicksal der Meinung ist, es könne noch etwas dunkler werden … Nun, ich war von jenem Tag an die Älteste und musste lernen zu fischen, obwohl ich nicht einmal schwimmen konnte. Das Dorf, aus dem ich komme, hieß Goram. Es lag an einem Bergsee und alles, was wir dort hatten, waren Schilf, ein paar mickrige Apfelplantagen und eben Fische. Also lernte ich schwimmen. Jeden Tag ein Stückchen weiter hinaus, im eiskalten Wasser, bis selbst meine Knochen froren. Doch ich wollte nicht ertrinken wie mein Vater.«
Kayden schluckte, denn die Geschichte ähnelte sehr der seinen. Und nicht nur das. Auch Shizari selbst hatte an einem ebenso unwirtlichen Ort ihre Bestimmung gefunden. Beinahe erschien es ihm, als kehre ein Feuer zurück, das die Vergangenheit entfacht hatte.
»Mein Bruder war gerade einmal fünf Jahre alt, als sie kamen. Soldaten in schwarzen Rüstungen. Sie prüften die Kinder. Und weißt du, wie sie es taten?« Wieder brach ihr die Stimme. »Sie kamen in unsere
Hütte und schleppten mich, meinen kleinen Bruder und Mutter in den Hof. Dort stand ein Wagen und darauf war ein großes Fass geschnallt. Sie fragten, ob jemand von uns schwimmen könne, und ich hob stolz die Hand, weil ich glaubte, das würde sie besänftigen.« Nephele schluchzte. »Sie griffen meinen Bruder, der vor Angst schrie und zappelte, steckten ihn in das bis oben gefüllte Fass mit Wasser und schoben einen Eisendeckel darüber. Ich brüllte, ich flehte. Doch der Hauptmann sagte nur:
Hol ihn raus, wenn du kannst!
Ich war starr, hörte das dumpfe Blubbern, die winzigen Fäuste, die gegen die Dauben schlugen. Er war dabei, in der Finsternis zu ertrinken, als wäre er nichts als ein Tier. Und dann überkam mich eine nie gekannte Wut. Ich erinnere mich nicht mehr, was genau geschah, aber das Fass zerplatzte mit einem Mal und goss eine Flut aus Wasser und den nach Luft japsenden Körper meines Bruders vor meine Füße. Die Soldaten nahmen uns mit. Doch damit, Nordmann, begann mein Leiden erst.«
Kayden reichte ihr eine Hand und Nephele griff dankbar danach.
Die Liebe!
Das war es, was Shizari anketten wollte. Liebe ließ sich nicht kontrollieren. Sie war der Inbegriff von natürlicher Magie. Sie war Feuer und Wind, Wasser und Erde. Die dunkle Zauberin ahnte, dass er hier war, um ihre Pläne zu durchkreuzen. Sie versuchte, ihn von Aira zu entfernen. Der gemeinsame Traum, den Nephele und er gehabt hatten, diente einem Zweck. Shizari wollte noch immer Zeit gewinnen!
Von der ebenso grausamen Ausbildung erzählte die junge Wirkerin dann wie mechanisch. Sie war in die Nähe des Palastes der
Einen
gebracht worden, der an der Küste des
Schattenmeeres
lag. Eine ehemalige Festungsanlage, die in die schwarzen Felsen geschlagen und ausgebaut worden war.
Tag um Tag musste sie lernen, das Wasser zu beherrschen. Und wann immer die Männer glaubten, sie hätte Fortschritte gemacht, stellten Shizaris Diener sie auf die Probe. Doch nicht während einer Vorführung, nein, ein jedes Mal war die Aufgabe mit dem Leben eines Menschen verbunden. Nicht das ihrer Familie, sondern willkürlich ausgewählter Untertanen, die dazu jeweils in Nepheles Alter waren. Man legte ihnen Ketten an und warf sie in geflutete Schächte. Man sperrte sie in Kisten, die zusätzlich mit Steinen beschwert wurden, und zwang die Wasserwirkerin, diese zu heben. All das diente nur einem Zweck. Sie sollte die Fähigkeit erlangen, ein Schiff aus dem Ozean zu hieven.
Die
Dunkle
sah sie niemals persönlich. Sie kam in Träumen zu ihr, flüsterte auf sie ein, drohte und liebkoste sie. Und als sie stark genug war und einen eigens vor der Küste versenkten Segler mit zwölf Fässern an Bord, in denen zwölf Kinder steckten, aus den Wellen zu zaubern vermochte, erst da erfuhr sie, was die
Eine
von ihr wollte.
Angesichts dieser schrecklichen Erlebnisse fehlten Kayden die Worte.
Irgendwann, als er meinte, dass sie endlich eingeschlafen war, wisperte er: »Ich werde dir helfen.«
Er konnte nicht sehen, wie ein Lächeln auf Nepheles Lippen erschien und sich nur einen Augenblick später in Trauer verwandelte.