– Kapitel 14 –
AIRA
Wirre Träume trieben Airas Geist aus der Bewusstlosigkeit. Kayden, der von flüssiger Finsternis überzogen wurde. Eine wächserne Schlange, die einen hellen Mond verspeiste. Raben, die laut kreischend über dem Kloster von Barshan Anur schwebten. Und zwischen all dem drang der Gestank von Pferdeäpfeln und beißendem Rauch in ihre Nase, was Aira klarmachte, dass sie sich nun wieder den realen Schrecken Avantlans stellen musste. Unter Anstrengung öffnete sie ihre verklebten Lider und sah zuerst nichts außer einer grau-braunen Wand, welche sich erst auf den zweiten Blick als das Dach eines ledernen Nomadenzeltes herausstellte. In dessen Mitte befand sich ein viel zu kleines Loch, durch das der Qualm des Lagerfeuers nur unzureichend entweichen konnte. Japsend setzte sie sich auf. Da erst bemerkte sie, was sie wirklich vom Atmen abhielt: Ihr Mieder war so eng geschnürt, dass sie kaum mehr Luft bekam. Die Gurte lösen konnte sie nicht, denn ihre Hände waren auf dem Rücken gefesselt. Irgendwo im hinteren Teil des Zeltes, verborgen von den zahlreichen Trockenkräutern und Dörrfleischstreifen, die von der Decke hingen, regte sich etwas.
»Wer ist da? … Helft mir!«, röchelte Aira.
Ein leises Kichern ertönte, das nicht gerade von Mitgefühl sprach. Irgendjemand erfreute sich offensichtlich an der Tatsache, dass er oder sie es geschafft hatte, ein echtes Sturmblut zu bändigen.
Wo bist du, Wind? Warum hast du mich verlassen?
Keine Antwort, keine Hilfe, keine Erlösung. Dafür erkannte sie nun die einfache, aus Holz geschnitzte Krone, die genau am Eingang des Zeltes auf einem Baumstamm als Podest platziert worden war. Sie sah nicht aus wie ein notdürftig gefertigtes Konstrukt, das lediglich dazu diente, eine Gefangene festzuhalten. Vielmehr schien es sich dabei um ein wertvolles, seit Langem gehütetes Herrschaftszeichen zu handeln, denn in die hölzerne Grundform waren filigrane Einlegearbeiten eingebracht und die einzelnen Zinken waren mit glänzenden schwarzen Steinen geschmückt. Irgendjemand hatte sogar liebevoll frische Efeuranken darum herum platziert. Wem auch immer diese Krone gehörte – er musste sie auch während des Überfalls in den Bergen getragen haben.
»Ihr müsst mich nicht … ersticken lassen«, japste Aira. »Die Krone reicht völlig aus, um mein … Element zu bändigen.«
Erneut raschelte es in der dunklen Ecke gegenüber, dann ertönten Schritte und eine große, voluminöse Person schälte sich aus der Dunkelheit heraus. Aira erkannte eine Frau im fortgeschrittenen Alter mit vereinzelten grauen Strähnen im ansonsten rabenschwarzen Haar. Sie trug Kleidung aus Leder und Fell, wie es in diesem barbarischen Land wohl üblich war. Ihre stämmigen Beine steckten in einer braunen Hose, darüber baumelten die Zipfel eines Flicken-Kleids mit Ärmeln aus grob gestrickter Schafswolle. Eine Weile betrachtete sie ihre Gefangene von oben herab, dann löste sie betont langsam die Gurte des Mieders. Wundervolle Luft strömte in Airas Lungen – rauchig, kratzend, aber doch erfüllt vom Glück des Überlebens.
»Danke!«, röchelte sie und richtete sich in ihrer Lagerstatt auf, so gut es mit den gefesselten Händen ging.
»Wofür? Dafür, dass wir dich gefangen genommen haben? Dass wir dich weiterverkaufen werden, so wie du und deinesgleichen jahrhundertelang Menschen meines Volkes verkauft haben? Eines Tages wirst du dir wünschen, einfach nur in Ruhe ersticken zu dürfen, Prinzessin .« Der ablehnende Blick der seltsamen Frau streifte Aira nur oberflächlich, ehe sie sich wegdrehte und mit verbissenem Gesichtsausdruck dem Kessel zuwandte, der unter dem schlecht funktionierenden Rauchabzug in der Mitte des Zeltes stand. Sie pflückte ein paar Kräuter von der Decke und warf sie hinein.
»Du weißt, wer ich bin?«, fragte Aira.
»Jeder in ganz Avantlan weiß, wer du bist: die Brut von Felsenfaust, die erstgeborene Tochter des fetten Gallus, die von einem Söldner geraubt und seither nicht mehr gesehen wurde.« Weiterhin zollte die Frau ihr Missachtung, indem sie ihr nicht in die Augen sah, sondern stattdessen in dem Topf herumrührte. »Ich bin sicher, das goldene Mastschwein will dich unversehrt und in einem Stück zurückhaben.«
Erst bei diesen Worten wurde Aira klar, wie wenig sie in den letzten Wochen von den Geschehnissen auf dem Kontinent mitbekommen hatte. Weder wusste sie, welche Länder und Armeen Shizari mittlerweile infiltriert hatte, noch, auf wessen Seite ihr Vater in diesem Krieg stand.
»Wieso bist du dir so sicher, dass er mich zurückhaben will?«, fragte sie ausweichend.
Kurz stockte der Rührlöffel im Topf. »Sollte er nicht?«
»Nun …« Aira ruckelte an ihren Fesseln, doch sie saßen bombenfest. »Ich war lange weg. Was ist unterdessen in Jandor passiert?«
»Was passiert ist?« Die Fjeld-Frau verließ ihren Platz und kam ein Stück weit auf sie zu. Überraschung stand in ihren Augen. »Du hast nicht gehört, dass Elk Wolfshall in Jandor und Dukar eingefallen ist? Auch unsere Küsten und die großen Straßen des Binnenlandes sind von seinen Soldaten belagert. Dein Vater hat genau wie alle anderen Könige das Knie vor ihm gebeugt und seine Armeen denen von Ravan und Trychon angeschlossen. Der ganze Kontinent ist von dunklen Streitkräften besetzt.«
»Der ganze?« Erneut griff die Luftnot nach Aira, doch diesmal vor Grauen.
»Nun … die freien Stämme der Fjeld lassen sich nicht unterwerfen. Unsere Krieger und Kriegerinnen, selbst die niedersten Mägde, die Kinder und Alten – sie alle gehen lieber in den Tod als in die Sklaverei. Zudem wird von einem Schiff namens Schlangentöter berichtet, das eine Revolution in Ravan angezettelt hat. Es regt sich Widerstand, sei dir gewiss!«
»Was ist mit Eliandar?«
»In Eliandar herrscht das Chaos. Es gibt keinen König, keine Armee, kein Recht und keine Ordnung. Nur noch Menschen, die ihr nacktes Leben retten wollen, verfolgt von den Schergen der dunklen Zauberin.«
Aira schluckte. Und in dieses Wespennest hatte Orcas Kayden geschickt! Wie mochte es ihm wohl in Kalandria ergangen sein – an einem Hof, der außer blanker Angst und feindlichen Intrigen nichts mehr zu bieten hatte? Ob er die Lage rechtzeitig durchschaut und sich in Sicherheit gebracht hatte? Unbewusst tasteten ihre gefesselten Hände nach ihrem Beutel, um nach der immerwährenden Glut zu sehen, doch sie erreichte ihn nicht.
»Und die Numar?«, fragte sie stattdessen.
»Die Höckerstirne?«, prustete die Fremde. »Wann hat dieses Volk irgendetwas interessiert, das um es herum vorging? Sie sind keine Menschen, sondern wilde Tiere, die sich hinter ihrer Schlucht verschanzen und abwarten, bis wir uns alle gegenseitig zerfleischt haben. Nun allerdings könnte auch König Tindert an einem Handel interessiert sein – schließlich haben wir seine Tochter Waris in unserer Gewalt.«
»Woher weißt du das alles? Wieso kennst du unsere Namen?«, fragte Aira atemlos. » Wer bist du? «
Die Frau stand nun genau vor ihr und blickte mit ernstem Gesicht auf sie herab. Trotz ihrer stattlichen Leibesfülle, den barbarischen Kleidern und dem fortgeschrittenen Alter ging das Strahlen einer unermesslichen Macht von ihr aus.
»Mein Name ist Alviss. Ich bin die Älteste meines Stammes und besitze die Gabe der Weitsicht. Manchmal, wenn das Schicksal mir gnädig ist, lässt es mich Dinge sehen. Beispielsweise die Ankunft zweier Prinzessinnen, deren Leben oder Sterben uns im Kampf gegen unsere Feinde von Nutzen sein wird.«
»Also bist du eine Schamanin?«
Alviss nickte. Für einen kurzen Moment tauchte Kaydens Gesicht vor Airas innerem Auge auf. Er hatte dasselbe schwarze Haar, dieselben dunklen Augen. Auch seine Mutter war eine Fjeld gewesen, doch das schien im Moment wenig hilfreich zu sein.
»Wärst du eine gute Schamanin, so wüsstest du, dass es alles andere als hilfreich ist, uns hier festzuhalten«, grollte sie.
Dieser eine, aus reiner Frustration geborene Satz, brachte die bislang so beherrschten Gesichtszüge der Frau aus der Fassung. Eine Spur von Unsicherheit ließ ihre Lippen schmaler werden und ihre Stirn war mit einem Mal von Sorgenfalten umwölkt. Aira hatte ihren Vorwurf nicht aus Kalkül ausgesprochen, doch nun merkte sie, dass sie damit genau ins Schwarze getroffen hatte. Vielleicht gab es ja irgendetwas, das bereits im Vorfeld zu Unstimmigkeiten innerhalb des Stammes gesorgt hatte. Womöglich war man sich gar nicht einig darüber, wie nun mit ihr und ihren Begleitern verfahren werden sollte.
»Hast du einen besseren Vorschlag, Prinzessin ?«, fragte Alviss verächtlich.
In der Hoffnung, ihre Lage dadurch nicht noch schlimmer zu machen, setzte Aira alles auf eine Karte: »Den habe ich. Und ich werde ihn deinem Häuptling unterbreiten, nachdem du meine Fesseln gelöst und mir glaubhaft versichert hast, dass es Waris und dem kleinen Fuchsmädchen gut geht!«
Einen Moment lang herrschte Stille zwischen ihnen. Dann warf Alviss ihren Kopf in den Nacken und lachte schallend. Es war kein gutes Lachen, sondern eines, das von Unheil kündete. Entsprechend abrupt brach es auch wieder ab. Die buschigen Augenbrauen der Schamanin verengten sich zu einem wütenden Strich, während sie sich über Aira beugte, beide Arme herrisch in die Hüften gestemmt. »Versuch mich zu erpressen und ich ziehe den Gurt deines Mieders noch enger als zuvor!«
Noch ehe Aira die Gelegenheit zu einer Antwort bekam, wurde der lederne Vorhang des Zeltes beiseitegeschoben und die dunkle Silhouette eines großen Mannes erschien im Eingang. Von draußen drang das Wiehern von Pferden und der wundervolle Duft nach gebratenem Fleisch herein, ehe er die Plane wieder niedersinken ließ. Mit langsamen, hoheitsvollen Schritten kam er näher, doch erst als die diffusen Schatten des Feuers sich verzogen, konnte Aira sein Gesicht erkennen. Sie sah es – und erstarrte. Das markante Kinn, das sich selbst durch den langen dunklen Bart deutlich abzeichnete, die massiven Augenbrauen, das Rabenhaar. Dieser Mann, der da vor ihr stand, war in seiner Erscheinung und seinem Auftreten Kayden so ähnlich, dass es einfach kein Zufall sein konnte. Dieselben breiten Schultern, die riesige Statur. Selbst seine Art zu gehen war gleich – jeder Schritt ganz bewusst gesetzt, federnd und voller Energie. Scheinbar desinteressiert schweifte sein Blick über Aira hinweg, als wäre es unter seiner Würde, eine Gefangene anzusprechen, und richtete sich stattdessen auf Alviss. »Ist sie gesprächiger als die Höckerstirn?«
Die Schamanin neigte ehrerbietig ihr Haupt. »Um ein Vielfaches, Herr. Beinahe schon geschwätzig.«
»Hast du herausgefunden, was sie ins Land der Fjeld getrieben hat?«
»Noch nicht. Bislang beschränkt sich unser Gespräch auf die Klärung grundsätzlicher Machtfragen.«
Der Riese gab ein launisches Brummen von sich. »Was hattest du in unseren Bergen zu suchen?«, fragte er Aira direkt.
»Einen Weg, um Eure und meine Feinde zu besiegen«, antwortete sie.
Das Gesicht des Fjeld zeigte keinerlei Regung. Auch das verband ihn mit Kayden. Diese Art, ganz ruhig dazustehen und einfach nur von ganz weit oben auf sein Gegenüber hinabzusehen. Aira fühlte Wut und Schwäche gleichzeitig in sich aufkommen. Es war schwer, sich der Aura von kompromissloser Überlegenheit zu entziehen, die von dem Mann ausging.
»Jeder in deiner Lage würde das sagen«, bemerkte er schließlich. »Werde deutlicher! Was ist dein Auftrag?«
Aira presste die Lippen aufeinander. Weiterhin konnte sie diese Leute nicht einschätzen. Alles, was sie über das freie Volk wusste, war, dass es sich dabei um unerbittliche Krieger handelte, die in erster Linie für sich selbst kämpften. Die Fjeld waren Nomaden. Ihre zahlreichen Stammesoberhäupter residierten weder in Palästen noch hatten sie sich jemals auf einen einzigen König einigen können. Also durfte sie wohl davon ausgehen, dass dieser Anführer hier in erster Linie eines im Sinn hatte, nämlich seine paar Reiterkrieger und Waschweiber zu beschützen. Was grundsätzlich ja eine hehre Gesinnung war – aber nicht brauchbar für jemanden, der eine ganze Welt vor der Dunkelheit retten wollte. Sie musste ihm irgendetwas geben, das ihm mehr nützte als ein schlichter Handel mit Geiseln.
»Verbündet Euch mit den anderen Stämmen, denn eine einzelne Horde wird Shizaris Armeen nicht aufhalten können. Wollt Ihr Elk Wolfshall besiegen, so lockt ihn ins Gebirge und schickt Eure Reiterkrieger. Diese Art von Schlacht ist ihm fremd, denn seine Erfahrung beruht gänzlich auf dem Krieg zur See. Trefft Ihr auf Sebald Blutspeer, so stoßt ihm ein brennendes Schwert in sein wächsernes Herz. Die Truppen aus Jandor schlagt Ihr, indem Ihr sie Hunger und Entbehrungen aussetzt, denn daran sind sie nicht gewöhnt. Das sind die Informationen, die Ihr haben wollt, werter Herr, und nun lasst uns gehen!«
»Du bist eine kluge Frau, kleine Prinzessin«, antwortete der Fjeld, erneut ohne jegliche Regung in seiner Mimik. »Doch du hast meine Frage nicht beantwortet.«
Ärger flutete Airas Herz. Da warf sie diesem grobschlächtigen Barbaren schon die Lösung all seiner Probleme vor die Füße und er dachte gar nicht daran, sie zu ergreifen. Stattdessen pochte er auf seiner sinnlosen Frage.
»Ich bin hier, um einen Stein zu finden, der keinerlei Nutzen für Euch hat. Verdammt, ich bin nicht Eure Feindin. Konzentriert Eure Energie auf die Dinge, die wirklich getan werden müssen. Und das erste davon ist, uns freizulassen!«
»König Gallus wird seine Truppen von unseren südlichen Grenzen abziehen, wenn er dafür seine Tochter gesund und lebendig zurückerhält«, argumentierte der Fjeld.
»Er wird nichts dergleichen tun, sondern mich ebenso gefangen nehmen wie Euch!«, keifte Aira. »Wollt Ihr dem Kampf ausweichen? Es wird nicht funktionieren. Ich kenne einen Mann, der nur zur Hälfte das Blut der freien Stämme in seinen Adern trägt, und dennoch doppelt so tapfer ist wie Ihr!«
Nun endlich war es so weit: Die Augen des Stammesfürsten verengten sich zu schmalen Schlitzen. Zorn sprach aus jeder seiner Poren. Also stand er doch nicht ganz so weit über den Dingen, wie er vorgab. »Du wagst es, mich einen Feigling zu nennen?«, grollte er.
»Nein, ich sage nur …«
»Wer ist dieser Mann, von dem du sprichst?«, unterbrach Alviss sie. »Derjenige, in dessen Adern das Blut der Fjeld fließt?«
»Kayden«, sagte Aira. »Kayden Wolfshall. Er ist …«
»Elks Bruder. Der Sohn von …« Mit einem Mal war jegliche Wut aus den Augen des Fürsten verschwunden. Er tauschte einen langen Blick mit der Schamanin, dessen Hintergründe Aira nicht erkennen konnte. Es war nur ein Gefühl, der Hauch einer aufkeimenden Hoffnung, doch sie musste es versuchen. »Dorka. So hieß seine Mutter.«
Ihre Worte schwebten in der Luft, beißender als all der Rauch in diesem vermaledeiten Zelt.
»Dorka«, wiederholte Alviss. Dann nickte sie ihrem Anführer zu.
Er nickte zurück, drehte sich langsam um und verließ die Behausung der Schamanin ohne ein weiteres Wort. Alviss zog ein Messer aus ihrem Gürtel.
»Was hast du vor?«, japste Aira.
»Das ändert alles.« Die Frau kam näher, ihre schmucklose Barbarenklinge fest umklammert.
Aira rutschte auf ihrem Lager zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Zeltwand stieß. »Bist du wahnsinnig? Steck das Messer weg, sonst habt ihr keine Geisel mehr für euren Tauschhandel!«
»Wir wollen nicht mehr tauschen«, verkündete Alviss, ein undurchschaubares Lächeln auf ihren Mundwinkeln. Dann griff sie nach Airas Schulter und drehte sie grob zur Seite. Eine Sekunde später fielen die Fesseln und das Blut der Freiheit schoss schmerzhaft in Airas Arme zurück.