– Kapitel 15 –
KAYDEN
Zwei Tage, kein Schlüssel.
Oben auf dem Turm ließ Kayden den Blick zum nächsten schweifen, der aus dem verschneiten Dickicht lugte und dessen Licht einen blassen, aber steten Schimmer auf das Meer warf. An der Kante hockte Nephele und grübelte vor sich hin. Es mochte sein, dass seine Kindheit kein Zuckerschlecken gewesen war, aber ihre … Beim
niederträchtigen Wanderer
, so etwas sollte niemand durchmachen müssen. Die schwarze Finsternis, die Shizari einst in sich aufgenommen hatte, war an Boshaftigkeit kaum zu überbieten. Und genau deshalb stand er hier!
Mit den Augen suchte er den grauwolkigen Himmel ab. Doch weder ein Vogel noch irgendeine andere Magie war am Horizont zu sehen.
Am dritten Tag kam ein Botenvogel und mit ihm ein steinerner Schlüssel, den das Tier in einem Lederbeutel um den Hals trug. Kayden war im Wald unterwegs, um Feuerholz zu sammeln und dabei nach verdächtigen Spuren Ausschau zu halten. Er hatte sogar welche entdeckt und verfolgte sie bis zu einer Anhöhe, wo sie jedoch von hohen Schneewehen verwischt worden waren. Er konnte sie keinem Tier zuordnen und machte sich Sorgen, dass sie beobachtet wurden. Daher entschied er, Nephele müsse davon nichts erfahren, und machte sich auf den Rückweg. Sie wartete bereits auf ihn, den Steinschlüssel in der Hand.
»Hast du den Botenvogel sehen können?«, wollte er wissen und folgte ihr hinein, um sich einen heißen Tee aufzusetzen. Sie beschrieb den Vogel, so gut es ihr möglich war, und Kayden kam zu dem Schluss, dass es eine Seeschwalbe gewesen sein könnte. Eine Art, die so ziemlich an jeder Küste Avantlans ihre Nester baute. Damit sei nun wirklich der Kreis der Verdächtigen erheblich geschrumpft, schimpfte er missmutig.
»Es ist der übernächste, Richtung Norden«, erklärte die Wirkerin und holte die Karte hervor, auf der sie die Türme mittlerweile nummeriert
hatte.
»Dann gehe genauso vor wie bisher!«, meinte Kayden.
***
Im Turm Nummer
Neun
stand wie üblich eine Statue, welche den Mondlichtstein in den Händen hielt, dessen Schein wiederum durch eine ovale Öffnung bis weit auf die Wellen hinausgetragen wurde.
Nephele drückte den münzförmigen Schlüssel, der sonderbare Zeichen aufwies, in eine kaum zu erkennende Vertiefung am Sockel und brachte so das Licht zum Erlöschen. Kayden saß im Schneidersitz auf dem Boden und betrachtete die Statue, die den Mondlichtstein in einer dramatischen Haltung auf der ausgestreckten Hand liegen hatte. Eine eher sinnliche Geste, fand er.
»Ich sehe es hinter deiner Stirn, dieses Rattern der Gedanken.« Sie stellte die Laterne ab und setzte sich neben ihn.
»Also eines wissen wir nun: Wer auch immer die
Strahlenden Türme
aus dem Land gehoben hat, war eindeutig ein männlicher Erdwirker!«
»Meinst du wirklich?« Nephele hob die Laterne an und legte die Stirn in Falten.
»Ich bitte dich«, lachte Kayden. »In allen Türmen trägt eine Frau das Licht und diese hier sieht aus wie eine Tänzerin in einer Hafentaverne, die locker sechs
Nasenkneifer
vor der Tür stehen hat, um das überreizte Gesindel davon abzuhalten, sie zu entführen.« Er stand auf und schlenderte zur Statue. »Breite Hüften, schmale Taille. Langes, wallendes Haar und dann dieser Vorbau, nein, das war ein Kerl, der hier in Erinnerungen geschwelgt hat. Siehst du das dünne Kleid, wenn es denn überhaupt eines ist? Sieht aus wie ein Nebelhauch, der sich an den enormen Brüsten verheddert hat. Und dann noch die …«
»Ja, ja, ich verstehe, was du meinst«, gab Nephele zu. »Wie soll uns das weiterhelfen?«
»Keine Ahnung.« Kayden zuckte mit den Achseln. »Aber ich bin mir sicher, dass hier etwas nicht stimmt.« Er ging einmal um die halbnackte Statue herum, rieb sich das Kinn.
»Du meinst die Sache mit den Schlüsseln, oder?«
Kayden warf einen Blick durch die ovale Öffnung.
»Sagen wir, du willst etwas verstecken. Und nehmen wir an, es soll
nicht gefunden werden. Niemals. Wer ist dann so dumm und stellt eine verdammte Fackel daneben?« Er schaute Nephele an, doch die verzog nur die Lippen und hob die Brauen an. »Ich habe einmal im Hinterzimmer eines Borde… eines reichen Hehlers einen Tresor gesehen.« Kayden räusperte sich. »Egal. Aber wenn ich will, dass etwas dort drinbleibt, auf ewig, dann fertige ich erst gar keinen Schlüssel dafür an. Jemand hat das hier von langer Hand geplant. Er hat die Türme mit einem Makel versehen und gleichzeitig dafür gesorgt, dass er, falls es nötig sein sollte, diese Information verkaufen kann.«
Und bei allen Wegen des
Wanderers,
mir fällt nur einer ein, dem ich das zutrauen würde, auch wenn ich es nicht glauben will
, dachte Kayden.
»Ich will ehrlich sein. Du redest Unsinn, Nordmann.« Die junge Frau machte sich an den Abstieg. »Ich werde morgen in aller Frühe nachsehen und dann auf den nächsten Schlüssel warten.«
»Und was, wenn es dann zu spät ist?«, rief Kayden ihr nach. Die Schritte verstummten. Er ging ihr nach. Sie stand wie angewurzelt in der obersten Kammer und ihre Miene sprach Bände. »Du willst das Gleiche, was dieser Erdwirker hiermit bezwecken wollte – ein Pfand gegen die Finsternis. So ist es doch, oder? Aber ihr beide lehnt euch verdammt weit über die Klippen, lass dir das gesagt sein. Denn eines sollte dir bewusst sein, Nephele aus den fernen Tothautlanden: Wer immer dir diese Schlüssel schickt, wird es gar nicht nett finden, sollte sein Spieleinsatz für Shizari plötzlich nicht mehr da sein.« Er ging an ihr vorbei, weiter die Treppe in den Hauptraum hinunter. »Wenn du auch weiterhin überleben willst, dann solltest du mir besser helfen, diesen Schlüsselbastard zu entlarven.«
Polternd rannte sie ihm nach. »Woher weiß ich, dass nicht auch du ein Spiel spielst?« Nephele packte ihn am Ärmel und zog ihn zu sich herum, ihre Augen voller Verzweiflung und Begehren.
Er schaute sie lange an, wusste um die Wirkung seines Blickes. Schaudernd holte sie Luft und ließ ihn los.
Er mochte sie. Er mochte sie wirklich.
»Ich werde heute Nacht hier unten schlafen«, sagte er. »Und vielleicht schaffen wir es, der Dunkelheit ein kleines Stückchen Licht in die Suppe zu spucken.«
***
Es war nicht nur ein Traum, der ihn in jener Nacht heimsuchte, sondern sehr viel mehr – eine Erinnerung!
In diesem fremden Zimmer stand die Welt seit einigen Stunden still. Das Feuer war heruntergebrannt, nur die Glut erhellte den Raum mit einem rötlichen Schimmer. Zwei Seelen, die bald getrennt sein würden, womöglich für den Rest ihres Lebens.
Sie beugte sich sanft herüber und hauchte einen langen Kuss auf sein Schulterblatt, woraufhin er sich wohlig seufzend regte.
In der Stadt, das wusste sie, herrschte der Lärm einer bevorstehenden Schlacht, doch sie hatte diesen Raum mit einem Zauber in eine Oase des Friedens verwandelt. Wenigstens für eine Weile wollte sie mit all ihren Sinnen die Ruhe vor dem Sturm genießen.
Ihn
genießen.
»Ist der Morgen nah?«, fragte er.
Sie schob ihre Lippen höher, bis an sein Ohr. »Bald, mein Liebster.«
»Ich liebe dich …«, sagte er, doch seine Worte verkamen erst zu einem Flüstern, bis sie gänzlich verhallten, kaum mehr als Rauch.
Und obwohl diese Erinnerungen tief in ihr verborgen lagen, gut geschützt und innig bewahrt, waren es grausamer Weise die ersten gewesen, die zu verschwimmen begonnen hatten. Sie bedauerte das sehr. Bis heute.
Sie wurden abgelöst durch die Bilder, die kein Herz ohne Narben hinter sich ließen – Krieg.
Dass an jenem Tag die Sonne schien, half ihr, nicht den Verstand zu verlieren. Sie sah ihre Gefährten, Mitkämpfer. Hoch in den Himmel warfen die Wasserwirker ihre gefrorenen Schutzschilde und die Windwirker schleuderten sie gegen die unzähligen, rußfauchenden Katapultgeschosse, die Shizari auf die Stadt niederprasseln ließ.
Dukar brannte längst. Auf den Ebenen vor den verstärkten Stadtwällen prallten die gewaltigen Armeen aufeinander und das Tosen zerriss ihr die Seele. Die Wirker fügten den schwarzen Truppen verheerende Verluste zu. Doch die dunkle Zauberin schickte Welle um Welle. Für sie zählten die Leben nicht, die sie vergeudete. Sie wollte das Licht besiegen, koste es, was es wolle.
Niemals zuvor hatte sie eine derartige Niedertracht erlebt. Deshalb musste es hier enden, heute, an diesem Tag. Und es endete in einem Inferno.
Blut bedeckte ihre Rüstung, um sie herum nichts als Sterben, so laut
und klagend, dass sie verrückt werden wollte.
Der Sonnenspiegel – er hatte sie alle gerettet. Oder das, was von ihnen übriggeblieben war. Nur wenige hatten die Schlacht überlebt. Die Wirker lagen im Staub der Geschichte. Die Magie war ausgeblutet.
Der Geruch von verbranntem Haar, Haut und Knochen. So viel Rauch stand über der Stadt, dass er den Himmel in wabernde Risse zerteilte.
Zwei Fjeld hoben sie auf eine Bahre, schnallten sie fest und ihre Hand schleifte über die blutbefleckten Straßen. Sie hörte den Drachen brüllen, der sie von hier fortbringen würde. Schlafen, das musste sie jetzt. Bis die Zeit alle Wunden geheilt haben würde.
Ihre Gedanken kehrten noch einmal zurück in das Zimmer, zu der Wärme. Bevor die Küsse sie taub und blind gemacht hatten. So flossen ihre Erinnerungen erneut zum letzten Moment, der ihr wertvoll gewesen war.
»Er war betrunken, wie immer. Seit Monaten geht das so«, sagte Orcas und warf seinen Mantel auf das Bett. »Ich dachte, dass Erdwirker von ihrem Element gestützt werden, aber bei ihm scheint es sich ins Gegenteil zu verkehren.«
»Er liebt eben das Leben, Orcas. Er liebt die Frauen. Er ist noch jung.«
»Ich vertraue ihm nicht. Manchmal ist er tagelang verschwunden, bis ihn jemand aus einem Graben zieht oder aus dem Hinterhof einer Taverne. Und er soll morgen kämpfen?«
»Er hat seine Mitte noch nicht gefunden – nicht so wie du«, beschwichtigte sie ihn. »Du hast vier Elemente gemeistert. Darauf ist er eifersüchtig.«
»Eifersucht macht blind. Sie sucht und findet nicht, das ist ihr Eifer.«
Sie lachte über diesen alten, zerfransten Spruch. Doch dann sagte sie etwas, das sogar ihren Liebsten verstörte: »Ich werde ihn prüfen.«
»Du? Ausgerechnet du, die ihn immerzu verteidigt?« Orcas schnaubte unwillig.
»Ich bin das Licht«, gab sie zurück. »Und manchmal sehe ich sogar die Dunkelheit«, fügte sie hinzu.
Sie schwankte durch die Wolken, fort von dem Ort ihres Sieges und ihrer bittersten Niederlage. Sie hörte die Drachen brüllen, die, von schwarzen Blitzen getroffen, aus dem Himmel fielen.
Der Spiegel würde in Sicherheit sein. Die
Strahlenden Türme
. Sie hatte ihm zweiundvierzig Steine anvertraut. Er würde das Schiff versenken
und glauben, das Mondlicht halte es dort gefangen. Alle würden das glauben. Auch die
Dunkle
.
Ein wirklich festes Spinnennetz war erst dann vollendet, wenn der letzte Faden an seinem Platz gewoben wurde.
Sie blickte hinauf in die Nacht, sah die Sterne an, die dunkle Schlange und kehrte dann zu ihrer Erinnerung zurück.
»Ist das Licht nah?«, fragte er. Sie schob ihre Lippen höher, bis an sein Ohr.
»Bald, mein Liebster«, hauchte Meridiem.
»Ich liebe dich … «, sagte Orcas und wandte sich zu ihr um.
***
»Wach auf!« Kayden hob die Laterne höher und Nephele legte stöhnend eine Hand vor die Augen.
»Was ist los? Es ist noch mitten in der Nacht, Nordmann. Schläfst du denn nie?«
»Schlaf wird überbewertet.«
»Du bist unglaublich«, sagte sie und wühlte sich wieder in die Decken.
»Ich weiß, aber es ist wichtig.«
Er wartete viel zu lang, bis sie endlich die Treppen herunter wankte, eine Decke noch um die Schultern gelegt und gähnend. Kayden trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. Das Licht der Laterne fiel über seine gemalte Karte. Nephele sackte auf den Stuhl davor.
»Also? Was ist passiert?«
»Ich habe die Lösung!«, grinste er.
»Die Lösung für was? Bitte, Kayden, ich schlafe noch halb.«
»Sie hat alle verarscht. Aber mal so richtig. Ich wusste, sie hat was drauf, aber das ist echt …« Er trank ein paar Schlucke Tee und deutete auf die Karte. »Zweiundvierzig Türme. Zweiundvierzig Mondlichtsteine, die tapfer Tag und Nacht auf das verdammte Meer leuchten.« Er nahm die Karte in die Faust, zerknüllte sie und warf sie über die Schulter.
»Ich verstehe nicht!«, brummte die Wasserwirkerin, aber sie schien zu spüren, dass etwas geschehen war.
»Die Mächtigen weben ihre Netze und wir laufen uns die Füße wund, um all das zu verstehen. Aber ich sah es! Ich sah es in ihrer Erinnerung, sozusagen. Sie hat es mir gezeigt.«
Nephele schaute ihn besorgt an. »Shizari?«, fragte sie bang.
»Nein, dieses Mal war es die andere Seite der Münze.« Kayden rieb sich die Hände.
»Nordmann! Sag endlich, was los ist, oder wir werden herausfinden, was passiert, wenn Wasser auf Feuer trifft.«
Kayden beruhigte sich etwas. »Die
Strahlenden Türme
, sie bewachen Sand und Schlamm.«
Das Mädchen sprang auf. »Was?«
»Dort unten ist kein Wrack, kein Sonnenspiegel. Dort ist gar nichts! Sie haben den Verräter verraten, Nephele.« Helle Hoffnung glomm in ihren dunklen Augen auf und auch die Erregung.
»Keine Spiele, Kayden. Bitte!«
Er stützte die Hände auf den Tisch und beugte sich zu ihr hinüber. »Die
Dunkle
könnte hier suchen, bis ihr der Hintern abfriert. Der Spiegel wurde an einen anderen Ort gebracht. Unbemerkt. Nicht einmal der Erdwirker, der den ganzen Mist hier erbaut hat, weiß davon.«
Mooley, du versoffener Drecksack!,
dachte Kayden schadenfroh.
Du bist
Maus
! Und Meridiem hat es geahnt!
»Und wo ist das Ding? Können wir es finden?« Nephele zitterte.
»Wo, weiß ich nicht, aber ich denke, ich kenne jemanden, der uns dabei helfen wird. Er ist sozusagen auch recht dicke mit dem Meer.«
Sie kam um den Tisch herum und umarmte ihn. Noch hatte Kayden keine Ahnung, wie er ihr Kasai vorstellen sollte, aber immer einen Schritt nach dem anderen.
Die junge Frau öffnete einen Krug Wein, erwärmte ihn und Kayden entzündete den Kamin. Er tat noch einige seiner Kräuter in seinen Becher, bot an, sie zu teilen, doch Nephele lehnte dankend ab, wirkte gar besorgt. Kayden aber musste wachbleiben. Er wollte heute Nacht unbedingt mit Kasai reden.
Was er nicht wusste, war, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb.
Viele Seemeilen die Küste hinunter, warf ein Schiff seinen Anker, etwa auf der Höhe des ersten Turms. Boote ruderten bereits zum Ufer.
Und oben auf dem Heckkastell stand eine Frau, die mit Kayden noch eine Rechnung offen hatte – Invidia Penta.