– Kapitel 16 –
AIRA
Das Lager der Fjeld war größer, als Aira gedacht hatte. Annähernd hundert Zelte standen auf der Grasebene, umgeben von einer Pferdeherde, die so groß war, dass sie beinahe einen geschlossenen Ring darum herum bildete. Jedes Stammesmitglied, sogar die Kinder, schien mindestens zwei oder drei Tiere zu besitzen. Was für ein Aufwand musste es sein, die Zelte abzubrechen und weiterzuziehen! Nicht in ihren kühnsten Träumen konnte die Prinzessin sich vorstellen, ein solches Leben zu führen. Aber keiner der Fjeld, die sie auf ihrem Weg von Alviss’ Wohnstatt zum Versammlungsplatz traf, sah schwach oder unterernährt aus. In jeder Ecke waren starke Arme mit irgendeiner Arbeit beschäftigt. Es wurden Felle gegerbt, Brühen gerührt und Waffen geschliffen. Runzelige Weiber nähten Lederbahnen zusammen, nur wenige spannen Wolle, die vermutlich das Produkt der Handvoll Schafe im Hintergrund war. Daran erkannte Aira, dass die Fjeld keinerlei Landwirtschaft betrieben. Ihre Kleidung und die Zelte bestanden fast ausschließlich aus Leder, welches von ihren Pferden und wilden Ziegen stammen musste. Auch die vielen dampfenden Kochtöpfe enthielten lediglich Fleisch, Kräuter und Wurzeln. Kein Getreide, kein Brei, kein Brot.
Ausnahmslos jeder, an dem sie vorbeigeführt wurde, hielt in seiner Arbeit inne und starrte Aira an. Ein vielleicht sechsjähriger Junge, der ohne jegliches Schuhwerk auf dem blanken Rücken eines riesigen Pferdes saß, beugte sich neugierig herab und griff in ihr Haar. Dabei stieß er verwunderte Laute aus und krakeelte etwas in seiner schnarrenden Barbarensprache. Einige der Fjeld waren nicht einmal der formellen Sprache Avantlans mächtig, die sonst überall auf dem Kontinent gesprochen wurde. Einzig die Nomaden der Graslande und die Numar-Krieger brachten ihren Kindern noch die Zunge ihrer Vorväter bei.
»Was hat er gesagt?«, erkundigte Aira sich bei der Schamanin.
»Dass dein Haar so weich wie die Daunen eines Adlerkükens ist.«
Beide Frauen schmunzelten kurz, dann gingen sie weiter. Der Versammlungsplatz lag in der Mitte des Lagers. Sein Herzstück war eine seltsame Steinfigur mit einer Art Wasserbecken davor. Neugierig ging Aira näher heran, um es sich genauer anzusehen. In den Gärten des Hochadels von Noskiris fand man hin und wieder Zierbrunnen mit wasserspeienden Vögeln oder Elefanten. Und auch die geheimen Gärten der Ägon-Priester hatten Gerüchten zufolge ähnliche Anlagen, aus denen Wein statt Wasser floss. Dieses Konstrukt jedoch war anders. Kein Bachlauf wurde durch seine Mitte gelenkt, kein Spucken und Sprudeln drang aus dem Mund der kunstvoll gemeißelten Frauenfigur. Stattdessen stand sie einfach nur da, das lange Haar vom Wind verweht, den Blick sehnsuchtsvoll auf die Wasserschale unter sich gerichtet. Der Berg, auf dem die Figur stand, schien aus reiner Asche zu bestehen oder war zumindest so ausgiebig damit bestreut worden, dass die Füße der Frau vollständig darin verschwanden.
»Nirahel«, flüsterte Aira.
Alviss fragte nicht nach, woher sie die Sturmgöttin der Fjeld kannte. Sie schien es längst zu wissen. »Wir bringen ihr die Asche unserer Lagerfeuer dar, zum Gedenken an Ravyn, den Wellenrufer. Auf dass sie endlich seine Überreste finden möge.«
»Das ist wunderschön.« Aira betrachtete die Göttin genauer. Die Fjeld schienen nicht nur begabte Handwerker, sondern auch talentierte Künstler unter sich zu haben, denn das steinerne Gesicht barg eine solche Leidenschaft in sich, dass es dem Betrachter beinahe das Herz zerriss. Wut, Schmerz und vollkommene Hingabe standen darin. Es war das unendliche Leid Nirahels über den Verlust ihres Geliebten, der aus diesem kalten und doch so heißblütigen Antlitz sprach.
Das Häuptlingszelt lag nur wenige Schritte entfernt von der Kultstätte, ebenfalls mitten auf dem Platz. Es war über und über mit fremden Zeichen in dunkelroter Farbe bemalt. Windspiele aus Knochen und Pferdehaaren hingen vor dem Eingang und genau darüber prangte ein kreisrundes, aus Federn und Baumwurzeln geflochtenes Konstrukt.
»Wir nennen es einen Pjulgur. Er schützt Häuptling Timucin vor bösen Träumen. So bleibt sein Geist rein und er vermag die Geschicke unseres Volkes unbeeinflusst von bösen Mächten führen«, erklärte Alviss.
»Timucin. Ist das sein Name?«
»Ja. Er bedeutet der Eiserne . Denn aus Stahl und Feuer ist sein Herz geschmiedet.«
Aira neigte beinahe dazu, diese Worte zu glauben. Das würde die enorme Ausstrahlungskraft erklären, die vom Anführer des Stammes ausging. Vor vielen Jahren hatte sie in Jandor die Abhandlung Leben und Religion der Fjeld gelesen. Darin hieß es, das Volk hänge dem Glauben der Herzbestimmung an. Demzufolge bestanden die Herzen der Menschen aus verschiedenen Grundsubstanzen, die ein Wesen mehr ausmachten als alles Glück und Unglück, das ihm im Leben widerfuhr. Kleine, hässliche Kobolde fertigten die Herzen in einem unterirdischen Reich an und Yelda, die oberste Gottheit, entschied dann, welches davon in die Körper der jeweiligen Menschen eingesetzt wurde. Es war ein schwieriger Glaube, wie Aira fand. Besagte er doch, dass alles von Geburt an vorherbestimmt sei, was keine Entwicklungsmöglichkeiten offenließ. Ein Herz aus Stein blieb demnach immer hart, ganz gleich, wie sehr sein Träger auch nach Liebe und Mitgefühl strebte. Schaffte er es aber, dem Ruf seiner Natur zu folgen und das Beste aus den ihm gegebenen Mitteln zu machen, so bekam er nach seiner Wiedergeburt von Yelda ein anderes Herz. Erst wenn ein Wesen jeden nur möglichen Charakterzug durchlaufen hatte, war es weise genug, um in das ewige Grün einzugehen, wo seine Seele Frieden fand. Diesem Teil des Fjeld-Glaubens konnte Aira immerhin etwas abgewinnen, denn die Quintessenz daraus war, dass nur derjenige als weise galt, der das Leben aus verschiedenen Blickwinkeln erlebt hatte.
»Aus welcher Substanz ist dein Herz gemacht?«, fragte sie Alviss, während sie vor dem Zelt auf Timucin warteten.
»Aus Holz«, seufzte die Schamanin. »Und genau das ist das Problem.«
Aira runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«
»Holz ist bodenständig. Wie die Wurzeln eines Baumes, die mit der Erde sprechen. Doch es leitet die Informationen, die es aus dem Untergrund erhält, nur bis hinauf in seine Kronen. Niemals erreicht es damit den Himmel selbst. Viele Schamanen tragen solche Herzen in ihrer Brust …« Sie brach ab und seufzte.
»Aber?«, hakte Aira nach.
»Aber es gibt ein Material, das besser ist. Eines, das seinem Träger tiefere Einsichten erlaubt und ihn weiter sehen lässt.«
»Welches?«
»Federn.« Erneut deutete sie auf das seltsame Konstrukt namens Pjulgur über dem Eingang des Häuptlingszeltes. »Denn nur sie geben ihrem Träger die Fähigkeit, überall zu sein – auf dem Boden, in der Baumkrone, in der Luft. Wer ein solches Herz sein Eigen nennt, der steht im Einklang mit der Welt. Seine Seele ist wahrhaft frei. So wie Dorkas es war.«
»Sie hatte ein … Herz aus Federn?«
Alviss nickte. »Die erste Schamanin unseres Stammes seit über hundert Jahren, die die Welt als Ganzes sah. Nachdem sie fort war, bin ich an ihre Stelle getreten – ein Holzherz, das die Sprache des Lebens nur im Groben übersetzen kann.«
Aira schluckte. Das war sicherlich kein einfaches Schicksal für Alviss gewesen. Nun verstand sie auch die Szene vorhin im Zelt, als sie die Schamanin kritisiert und sich dafür Ärger eingehandelt hatte. »Aber wenn sie so weise war … wie konnte es dann geschehen, dass sie als Sklavin nach Ravan kam?«
»Auch ihr Raub durch Brant Wolfshall war ein Teil des großen Ganzen. Sie wusste, dass es ihre Bestimmung war, seine Frau zu werden.«
In dem Moment wurde die Plane am Eingang des Zeltes zur Seite geschoben. Timucin trat heraus, mit offenem Haar und freiem Oberkörper. Zahlreiche Tätowierungen zogen sich darüber hinweg, die seine massige Brustmuskulatur hervorhoben. Zwei frische, nicht allzu tiefe Schnitte, aus denen in dünnen Rinnsalen hellrotes Blut tropfte, prangten darin. »Und ein Kind zu gebären, welches das Feuer der Fjeld und das Salzwasser Ravans gleichermaßen in seinem Herzen trägt«, fügte er der Geschichte Dorkas hinzu.
Beim Erscheinen ihres Stammesfürsten ließen die meisten Leute in ihrer Umgebung alles stehen und liegen, woran sie gerade gearbeitet hatten, und kamen ehrerbietig näher. Alviss gab ihm die Holzkrone zurück, die sie vermutlich nur vorübergehend in Besitz gehabt hatte, um Aira damit zu bändigen. Ob dieser Zustand nun ein Ende hatte oder nicht, würde sich noch zeigen. Er nahm sie entgegen, setzte sie jedoch nicht auf.
»Ihr meint, Dorka hätte immer gewusst, was geschehen würde? Sie hat all das vorhergesehen?«
»All das?« Timucin vollführte eine ausladende Geste in sämtliche Himmelsrichtungen. »Nein, vermutlich nicht. Aber sie wusste, dass Kayden Wolfshall das Licht der Welt erblicken musste. Deshalb hat sie uns verlassen – meinen Vater, mich und ihre Schwester Alviss.«
Aira riss die Augen auf. »Ihr seid ebenfalls ihr Sohn?«
Er nickte. Betrachtete sie mit seinen dunklen Augen so intensiv, dass ein Schauder ihren Rücken hinab jagte. Der gleiche durchdringende Blick. Die gleiche Überheblichkeit, die jedermann ganz naturgegeben akzeptierte. Nicht einmal Kayden selbst wusste von seinem Halbbruder . Und doch stand er nun hier, in Fleisch und Blut und mit eisernem Herzen.
»Ich war damals noch ein kleiner Junge. In meiner Erinnerung ist meine Mutter eine stolze Frau mit aufrechtem Gang und energischem Mundwerk. Sie war das Gegenteil einer Sklavin – jemand, der nicht geschaffen war für den Käfig, in den Brant Wolfshall sie sperrte. Und doch ließ sie es zu, dass man ihr die Flügel stutzte wie einem Vogel, der nicht mehr fliegen sollte. Mein Vater hat niemals versucht, sie zurückzuholen, denn bereits Wochen vor dem Überfall hatte sie ihm prophezeit, dass sie uns für einen höheren Zweck verlassen würde. Noch lange Jahre führte er unseren Stamm an, doch eine neue Frau nahm er sich nicht.«
»Das ist sehr traurig«, sagte Aira.
Er schüttelte etwas zu heftig den Kopf, als wollte er gleichzeitig mit der Geschichte selbst auch deren dunkle Schatten loswerden. Für einen Augenblick glaubte Aira, so etwas wie Verletzbarkeit in seiner Miene zu lesen, doch der Moment ging schnell vorüber und die allumfassende Überlegenheit kehrte zurück. Würdevoll setzte er die Krone auf sein Haupt. »Nach unserem Gespräch eben habe ich mich zurückgezogen und die Göttin angerufen. Kraft meines Blutes bat ich um ihren Rat und sie hat mich erhört.«
Daher also kamen die Schnitte auf seiner Brust. Die Fjeld waren seltsame Menschen, fand Aira. Doch so fremd ihr deren Verhalten auch war, so überzeugend wirkte ihr Anführer auf sie.
»Du bist weder die Erste noch die Einzige, die den Krieg in der Luft riechen kann, Prinzessin«, sagte dieser nun. »Die Fjeld waren nicht untätig, seit die fremden Armeen unser Land belagern. Unweit unseres Lagers haben andere Stämme ihre Zelte aufgeschlagen. Wir sind zusammengekommen, um einen König zu wählen, der uns vereint in die Schlacht führen kann.«
»Das ist … gut!« Aira musste zugeben, dass sie ihn unterschätzt hatte. Ihn und sein barbarisches Volk. Denn scheinbar kochte doch nicht jeder Stamm sein eigenes Süppchen.
Immer zahlreicher strömten nun die Bewohner des Lagers auf dem Versammlungsplatz zusammen. Timucin ließ seinen Blick aufmerksam durch deren Reihen schweifen, als sauge er den Anblick jedes Kriegers, Weibes, Greises und Kindes in sich auf. »Seit jeher kämpfen die tapferen Krieger der Fjeld auf der Seite des Lichts«, rief er ihnen zu. »Als Drachenreiter zogen unsere Ahnen vor zweihundert Jahren in den Krieg, doch nur wenige kehrten daraus zurück. Ich sage euch: Wir werden das Erbe der Gefallenen nicht besudeln, indem wir uns feige verkriechen. Schärft eure Säbel und ehrt die Sturmgöttin! Auf dass auch eure Kinder und Kindeskinder das weite Gras der Steppe unter ihren Füßen spüren dürfen. Schon bald wird das freie Volk der Fjeld in den Krieg ziehen. Wir kämpfen für unser Land – und für den ganzen Kontinent!«
Er sprach mit einer erheblichen Portion Pathos in der Stimme, was eine deutliche Reaktion bei seinen Zuhörern hervorrief. Aira konnte sehen, wie das Feuer seiner Worte auch seine Männer entzündete, einen nach dem anderen. Wilder Mut wuchs in ihren Gesichtern und als einer von ihnen unter heiserem Gebrüll sein krummes Schwert in die Höhe riss, taten die anderen es ihm gleich und verfielen in vielstimmiges Kriegsgeschrei. All diese heißblütigen, barbarischen Menschen, die bereit waren, ihr Leben für ihre Freiheit zu opfern – sie berührten Aira auf eine Art, wie sie es bislang noch nicht erlebt hatte.
Ihr Anführer gab einem von ihnen einen Wink, woraufhin dieser verschwand und wenig später zu Airas großer Freude mit Waris und Klecks in ihrer Fuchsgestalt zurückkehrte. Die Numar machte ein todernstes Gesicht. All ihre Muskeln waren angespannt, als führe man sie nicht zu einer Zusammenkunft, sondern zu ihrer Hinrichtung. Vermutlich hatte niemand ihr gesagt, dass die Stimmung unter den Fjeld sich geändert hatte. Klecks hingegen schien völlig egal zu sein, was die Politik und die Zukunft für sie bereithielten. Im selben Moment, in dem sie Aira erblickte, strampelte sie sich auf den Armen des Kriegers, der sie getragen hatte, frei und sprang auf die Prinzessin zu. Erleichterung durchflutete Airas Herz. Niemals würde sie den Augenblick vergessen, als das Fuchsmädchen wie tot von dem Gargoyle gepurzelt war. Doch die Götter schienen ihre schützenden Hände über sie zu halten und sie alle durften weiterleben.
Ganz von selbst legte sich ein Lächeln auf ihre Lippen, weil Klecks mit einem riesigen Satz auf ihren Arm sprang und erfolglos nach einer Mantelfalte oder Kapuze suchte, in der sie sich verstecken konnte.
»Du lebst!«, flüsterte Aira in ihr Ohr.
»Ich will hier weg!«, raunte Klecks zurück.
Die versammelten Fjeld schienen noch niemals ein Wesen wie sie gesehen zu haben. Zumindest begannen einige der weiter vorn stehenden Frauen zu tuscheln und in den Gesichtern der Männer stand Misstrauen. Argwöhnisch blickten sie zwischen dem lilafarbenen Fuchs, der grimmigen Numar-Kriegerin und Aira hin und her, bis Timucin für Aufklärung sorgte. »Diese drei kamen in friedlicher Absicht zu uns«, sagte er. »Sie sind Abgesandte von Barshan Anur, der verborgenen Insel der Wirker, und benötigen unsere Hilfe.«
Von Barshan Anur hatte Aira ihm nie erzählt, aber vielleicht hatte er sich vorher mit Waris oder Klecks darüber unterhalten. Ihr fiel ein, dass er von Anfang an gewusst hatte, wie man zwei Wirker und einen Gargoyle unschädlich machen konnte. Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Womöglich kannte sie längst noch nicht alle Pläne des Stammesoberhaupts.
»Du – gefangen – mich. Jetzt alles anders. Warum?«, fragte Waris ebenso skeptisch.
»Kommt mit mir in mein Zelt«, forderte Timucin sie auf. »Dort können wir ungestört reden.«
Sie folgten dem Häuptling in seine Wohnstatt. Auch Alviss kam hinter ihnen drein und schloss die Plane, damit sie ungestört waren. Timucin bot ihnen Plätze am Boden an, der mit wertvollen Wollteppichen ausgelegt war – vermutlich eine große Seltenheit bei seinem Volk. Klecks nahm dennoch lieber auf Airas Schoß Platz, wo sie sich am wohlsten fühlte. In der Mitte brannte ein Feuer, dessen Rauchabzug wesentlich besser funktionierte als der von der Schamanin. Auch nach oben bot das Zelt mehr Luft. Ganz eindeutig handelte es sich um eine Art Herrschaftssitz – im Sinne der Fjeld. In Jandor hätte sich höchstens ein Bettler dazu herabgelassen, in einer solchen Bleibe zu residieren.
»Nicht umsonst wird unser Volk als frei bezeichnet«, sagte Timucin, während er eine Schale herumreichte, in der sich offensichtlich etwas Essbares befand. Airas Magen knurrte bereits seit Stunden, doch nachdem Waris zugegriffen hatte und beim Kauen knirschende Laute aus ihrem Mund drangen, war sie sich nicht mehr sicher, ob sie ihren Hunger wirklich stillen wollte.
»Wir sind frei in unseren Gedanken, frei von äußerer Herrschaft und auch frei von all den Errungenschaften anderer Völker, die sich selbst als modern bezeichnen. Bildung bedeutet in den Grasebenen etwas anderes als im Palast von Jandor.«
Die Numar reichte die Schale an Aira weiter und diese stellte fest, dass sich getrocknete Insekten und Würmer darin befanden. Angewidert verzog sie das Gesicht.
»Zu dieser Freiheit gehört auch, dass wir niemals eine Schriftsprache entwickelt haben. Dorka allerdings lernte es, nachdem sie einige Jahre in Ravan verbracht hatte. Damals schickte sie meinem Vater einen Botenvogel.«
Mit einem Mal ruhte sein unergründlicher Blick auf Aira. Aus purem Reflex griff sie in die Schale und steckte sich einen besonders knusprigen Käfer in den Mund. Es krachte, als sie sein Gehäuse zerbiss. Angestrengt hielt die Prinzessin ihre Gesichtszüge im Zaum. Timucin schmunzelte. Es war das erste Lächeln dieser Art und Aira wusste nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Noch zweimal biss sie auf das Insekt, dann schluckte sie es hinunter. Ein fremdartiger süß-saurer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus.
Der Häuptling griff in eine Truhe an der Zeltwand hinter sich und holte ein kleines Kästchen hervor. Ein vergilbtes Stück Pergament kam daraus zum Vorschein. Er reichte es ihr. »Ein Händler aus Dukar hat es für uns entziffert. Und kurz darauf ein weiterer. Ihre Übersetzungen waren gleich, also müssen sie der Wahrheit entsprechen. Wir haben beide Männer getötet, damit sie ihr Wissen nicht auf den Kontinent hinaustragen.«
Mit klopfendem Herzen nahm Aira die Botschaft entgegen. Es war ein typischer Brief, wie er von Vögeln überbracht wurde: kurz und knapp aufgrund des Platzmangels. Geschrieben in winzigen Buchstaben aus schwarzer Tinte. Sie las die Worte laut vor, damit auch Waris und Klecks sie hören konnten.
An Timur und Timucin, Herrscher über die Grasebene, geschrieben von Dorka Wolfshall, Fürstin zu Ravan.
Meine Geliebten, in diesem Leben werde ich euch nicht mehr in meine Arme schließen. Trauert nicht um mich. Lebt euer Leben aufrecht und standhaft, wie es freien Männern gebührt. Seit Jahrtausenden trägt der ehrenwerte Stamm der Grasläufer das Erbe Nirahels in seinem Blut. Ich war dazu auserkoren, ein Gefäß für denjenigen zu sein, der die Sturmgöttin dereinst erwecken wird. Es wird mein Sohn sein, der ihr Herz zum Lodern bringt, denn die Flammen unseres Volkes brennen in ihm. Timucin, du sollst über allen anderen Fjeld und an der Seite der Wirker stehen. Deine wahre Geschichte beginnt, wenn der Wind meinen Namen an dein Ohr trägt.
Timur, mein Gemahl, vor der großen Göttin gehöre ich dir bis zu meinem letzten Atemzug. Eines Tages werden wir uns wiedersehen, in einem neuen Leben, mit einem neuen Herzen. Dorka.
Langsam, als wäre er zentnerschwer, ließ Aira den Brief sinken. Ein schmerzhafter Knoten bildete sich in ihrer Brust. Als sie Dorka erwähnt hatte, hatte sie gleichsam auch deren Prophezeiung in Gang gesetzt, denn sie war der Wind, der ihren Namen an Timucins Ohr getragen hatte. Nur – was sollte das Gerede von Nirahel? Bereits Kayden war vollkommen von dieser Göttin besessen gewesen. Und nun hatte sie es mit einer ganzen Sippe düsterer Krieger zu tun, die scheinbar etwas Ähnliches in ihr sahen. Solche Verwechslungen brachten selten etwas Gutes mit sich.
» Es wird mein Sohn sein, der ihr Herz zum Lodern bringt «, wiederholte er die Worte, die sie soeben vorgelesen hatte.
Aira biss sich auf die Zunge. Das also war der Grund, weshalb sie hier zusammensaßen. Der Häuptling der Grasläufer hatte sich seine Braut auserkoren! Sie wurde hier festgehalten, ihres Elements beraubt und am Ende dem nächsten selbstverliebten Trottel ins Bett gelegt. Nein, so weit würde es nicht noch einmal kommen!
»Ihr seid der falsche Sohn«, sagte sie bestimmt. »Und ich bin nicht Nirahel!«
»Da du nicht Nirahel bist, bin ich wohl doch der richtige Sohn«, antwortete Timucin mit stoischer Ruhe. Er saß im Schneidersitz auf dem Boden und betrachtete sie dennoch von oben herab. »Denn derjenige Sohn, von dem meine Mutter sprach, wird die Sturmgöttin heimführen. Bist du also nicht die Wiedergeburt unserer Göttin, so bist du auch nicht für denjenigen bestimmt, der das Feuer unseres Volkes in seinem Herzen trägt.«
Mit dieser simplen Feststellung hatte er ihr jedes Argument geraubt. Doch gleichermaßen hatte er auch zugegeben, dass ihm sehr wohl klar war, von welchem Sohn Dorka gesprochen hatte – nämlich Kayden.
»Warum wollt Ihr die Prophezeiung Eurer Mutter missachten?« Sie stellte diese Frage, weil sie auf seine Antwort gespannt war, aber im Grunde kannte sie sie längst: Timucin wollte König werden – derjenige, der in die Geschichte eingehen würde, weil er die freien Stämme der Fjeld unter einer einzigen Krone vereint hatte. Eine Krone aus Holz, die Airas Element weiterhin bannte.
»Du bist vielleicht nicht Nirahel«, wiederholte er. »Aber dennoch bist du eine Windwirkerin, eine Prinzessin Jandors. Der zukünftige König der Fjeld muss sich eine Braut erwählen, die sein Reich stärken und sein Volk beschützen kann.«
Niedergeschlagenheit legte sich auf Airas Gemüt. Wieder einmal war sie nichts anderes als eine Figur im großen Spiel um die Macht. Solange ihr Element schwieg – und das von Waris offensichtlich auch –, konnten sie nichts dagegen tun.
»Mein Herz ist nicht mehr frei.« Es war nur ein Flüstern. Unbedeutend wie die Blüte im Schatten eines gigantischen Berges.
»Und meines ist aus Eisen geschmiedet«, antwortete der Fjeld. »Gefühle sind nicht von Bedeutung, das solltest du am Hofe zu Jandor gelernt haben.«
Sie wich seinem Blick aus, denn er brannte auf ihren Lippen. Verzweifelt griff sie nach dem letzten Strohhalm, der ihr noch blieb: »Ich bin bereits verheiratet. Vor den Augen unserer Götter und Völker verbanden mich fünf Priester Jandors mit Sebald Blutspeer, dem Prinzen von Trychon.«
»Ist das der Mann, von dem du gesagt hast, ich solle ein brennendes Schwert in sein wächsernes Herz stoßen?«
Sie nickte schwach.
»Dann ist Sebald Blutspeer tot. Wer ein neues Herz bekommt, dessen vorheriges Leben ist Vergangenheit, so sagt es unsere Göttin. Du bist frei.«
Aus purer Hilflosigkeit griff Aira erneut in die Schale und zog eine ganze Hand voller Insekten hervor. Sie starrte darauf, dann aß sie eines nach dem anderen, einfach um sich Zeit zum Nachdenken zu verschaffen.
»Das ist so falsch!«, platzte es aus Klecks heraus, die tierisch funkelnden Augen auf Timucin gerichtet. »Alles vollkommen falsch! Und du weißt das genau. Du missachtest das Vermächtnis deiner Mutter!«
»Die Tatsachen liegen klar auf der Hand«, antwortete er ruhig. » Du sollst über allen anderen Fjeld und an der Seite der Wirker stehen! Das war ihr Wunsch. Ich werde ihn erfüllen, indem ich die Stämme vereine und eine Windwirkerin zur Frau nehme.« Er wies mit dem Finger auf Aira.
Da erst wagte die Prinzessin es, ihren Blick wieder anzuheben. Er richtete sich auf das attraktive und doch zutiefst harte Gesicht des Stammesführers, seine breiten Schultern, die ausgeprägte Brust, über deren Haut noch immer feine Rinnsale seines Blutes rannen. Erst jetzt erkannte sie, dass eine seiner Tätowierungen eine Krone darstellte.
»Woher wusstet Ihr das?«, fragte sie ihn. »Das mit der Krone?«
»Manchmal bewahren gesprochene Überlieferungen ein Geheimnis besser als jedes Buch«, antwortete Timucin. »Auch in den Reihen der Fjeld gab es seit jeher Windwirker. Wir Grasläufer stammen in direkter Linie von Nirahel ab – deshalb kam es oft vor, dass dieses Element in einem der Unseren wuchs. Damals vor dem Großen Krieg, als die Wirker noch in Dukar ansässig waren, lebten einige unserer Söhne und Töchter im Windturm. Gerieten die Novizen dort in Streit miteinander oder wurden wütend, so geschah es zuweilen, dass sie gefährliche Verwüstungen anrichteten. Eines Tages brachte einer von ihnen den gesamten Turm zum Einsturz.«
Aira dachte an ihre eigene Kindheit und verstand sofort, was gemeint war. Sie war also nicht das einzige Windherz, das die Kontrolle über sein Element verloren hatte. Auch vergangene Generationen hatten mit diesem Problem gekämpft.
»Die Meister von damals fragten den obersten Wirker um Rat, was sie dagegen tun könnten. Viele Tage lang meditierte er, ohne zu schlafen, zu essen oder zu trinken. Dann, als er sich wieder aus seiner inneren Einkehr erhob, wusste er die Lösung: Der Turm wurde neu erbaut – diesmal in Form einer Krone.«
»Aber warum? Weshalb ist es gerade eine Krone, die den Wind zum Schweigen bringt?«
»Weil Königswürde träge macht«, antwortete Alviss anstelle ihres Herrn. »Könige reden anstatt zu kämpfen. Sie fressen anstatt zu jagen. Und sie saufen Wein, anstatt ihren Durst nach Weisheit zu stillen. Selbst die Elemente schweigen angesichts von so viel Zerfall.«
Sofort musste Aira an ihren Vater Gallus denken. Diese Theorie war nicht von der Hand zu weisen. »Und Ihr wollt dennoch König über die Grasebenen werden, Timucin Eisenherz?«, fragte sie spitz.
Er antwortete nicht. Doch an der Art, wie seine Augenbrauen sich niedersenkten, merkte sie, dass ihre Botschaft angekommen war.
»Wie kann ich gegen diesen Bann vorgehen? Weiß mein zukünftiger Gemahl auch das?«
Er nickte. »Du wirst es erfahren – nach unserer Hochzeitsnacht!«
Eine Hochzeitsnacht, in der sie ihn nicht einfach im entscheidenden Moment von sich wegpusten könnte, auch wenn er seine Holzkrone abnahm. Denn da war immer noch die Tätowierung. Er war wahrhaftig gut auf ihre Begegnung vorbereitet.
»Wo liegt der Lichtsplitter der Erdwirkerin?«, wollte Aira wissen.
Ihr entging der Blick nicht, den Alviss und Timucin bei diesen Worten tauschten. Es war ein fragender Blick, vielleicht einer, der von Unwissen sprach. Orcas hatte das Geheimnis der Lichtsplitter all die Jahre hindurch bewahrt. Aber womöglich hatte Dorka auch zu diesem Thema irgendeine Art von Nachricht hinterlassen.
»Auch das ... Sobald die Ehe vollzogen ist«, antwortete der Häuptling.
»Nein!«, schluchzte Klecks. »Tu das nicht, Aira! Es ist vollkommen falsch!«
Die Stille, die sich daraufhin über sie alle legte, schrie zum Himmel. Nur das Prasseln des Feuers und das Knirschen der trockenen Insektenkörper zwischen Airas Zähnen drang durch den Raum. Als sie es das nächste Mal mit dem Blick Timucins aufnahm, konnte sie ihm ansehen, dass er ihre Antwort bereits kannte.