– Kapitel 20 –
AIRA
»Ich wollte es dir die ganze Zeit sagen, aber ich wusste nicht wie!«
»Gut, du nichts gesagt! Sonst Mut verloren!«
Die Lippen von Klecks und Waris formten Worte, doch Aira hörte sie kaum. Auch das geschäftige Treiben der Fjeld ringsum nahm sie nur durch einen dichten Nebel wahr. Es war, als hätte die Welt eine daunenwarme Decke über sie gebreitet, die jedes Geräusch von außen dämpfte. Nur ihr eigener Herzschlag drang zu ihr durch – laut, stark und voller Tatendrang. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, was da gerade in ihr vorging: Stolz durchflutete ihre Adern bis in die Zehenspitzen. Ein sonderbares Gefühl! So musste es einem Wüstenstrauch ergehen, wenn nach Monaten der Dürre plötzlich Regen auf ihn niederfiel. Unfähig, den Blick von der Statue Nirahels zu reißen, blieb Aira einfach weiter vor dem Kunstwerk sitzen und sah den Schneeflocken zu, die taumelnd vom Himmel fielen und das Haupt der Göttin mit einem weißen Kristallkranz krönten.
Irgendwann landete Waris’ Knie schmerzhaft in ihrer Seite. »He! Aufwachen! Du alles verstanden?« Die Numar beugte sich zu ihr herab und legte den Kopf schief.
»Nein«, murmelte Aira.
Waris verdrehte die Augen. »Du Krone besiegt! Wind gewirkt, obwohl Schnitzwerk an Thron die ganze Zeit da!«
»Ja, ich kann es selbst kaum glauben.«
»Vielleicht du wirklich Nirahel?« Auf Waris’ Stirn erschienen noch ein paar Falten mehr, während sie wohl darüber grübelte, ob jemand die Wiedergeburt einer Göttin sein konnte, an welche das Volk der Numar überhaupt nicht glaubte.
»Du bist es! Keiner von uns konnte es sich vorstellen, aber Kayden hat es immer gewusst!«, gab Klecks zum Besten.
Bei der Erwähnung dieses Namens kehrten Airas Sinne zurück. Das brennende Gefühl, nach dem Rechten sehen zu müssen, überkam sie. Sie sprang auf, öffnete ihren Beutel und nahm die Schatulle mit der immerwährenden Glut heraus. Bereits als ihre Finger sich darum schlossen, wusste sie, dass Kayden am Leben war, denn es fühlte sich noch immer warm an. Doch während sie es öffnete, drang ein seltsamer Geruch aus dem Inneren hervor. Erschrocken fuhr Aira zurück. Was war das? Fäulnis? Oder einfach ein besonders intensiver Geruch nach schmierigem Ruß?
Klecks schnupperte in die Luft, als wäre sie gerade ein Fuchs und kein Mädchen. »Das stinkt schrecklich! Nach … nach …«
»Dunkelheit«, ergänzte Waris.
Sie sahen einander an. Wie eisige Finger schloss sich die Angst um Airas Herz. »Kayden«, flüsterte sie. »Irgendetwas passiert mit ihm. Wir haben hier zu viel Zeit vertrödelt!«
Sie spürte Waris’ Hand kaum, die sich tröstend auf ihren Oberarm legte. Aber die Furcht in Klecks’ Augen sah sie genau.
»Lichtsplitter finden!«, beschloss die Numar im befehlsgewohnten Tonfall einer Königstochter.
»Nein, wir müssen …«
»Eliandar zu weit weg. Splitter hier. Und Fjeld wissen, wo liegt! Wenn gefunden, wir retten Feuerwirker. Los komm!« Sie nahm Aira das Kästchen aus der Hand, verschloss es und steckte es wieder in deren Beutel. Dann packte sie die Hand der Prinzessin und zog sie in Richtung des Häuptlingszeltes. Mit hängenden Schultern schlich Klecks hinter ihnen drein.
Timucin saß immer noch im Schneidersitz auf seinem Podest, offenbar in eine Zwiesprache mit seiner Herzgöttin oder seinen Ahnen vertieft. Airas Erscheinen hatte jedoch genug Gewicht, um ihn augenblicklich zurück in die reale Welt zu bringen. »Herrin des Sturms!«, begrüßte er sie ehrerbietig, aber nicht unterwürfig. Allem Anschein nach hatte er seine neue Rolle als König der Fjeld bereits gänzlich in sich aufgesaugt, was unter anderem an der Krone zu sehen war, die er nun wieder auf dem Haupt trug. Airas ernste Miene deutete er wohl als Missmut über diesen Umstand und wollte sie abnehmen.
»Behaltet Eure Krone!«, sagte sie. »Gebt uns stattdessen die Information, wo der Lichtsplitter zu finden ist!«
Es war sein Blick, der ihn verriet. Derselbe schnelle Augenaufschlag, den er zuvor mit Alviss getauscht hatte. Noch während er um Worte rang, wusste Aira, was er ihr verschwieg: nichts. Er hatte absolut keine Ahnung, wo der Erdstein zu finden war.
»Verflucht, Ihr wolltet mich zu Eurem Weib machen, aber mir den Brautpreis vorenthalten?«, zischte sie.
»Es gibt keine Krone, die nicht mit Blut oder Täuschung erfochten wurde.«
Was für eine schale Ausrede! Aira spürte die Wellen ihres eigenen Blutes anschwellen, um sich zu einer allesverzehrenden Sturmflut aufzubauschen. Sie würde ihn in Stücke reißen, diesen Timucin Eisenherz – und genau dieses Vorhaben schien sich in ihren Augen widerzuspiegeln, denn der Fjeld hatte es plötzlich eilig, eine Erklärung hinzuzufügen.
»Ich wusste nicht, wer Ihr seid, Nirahel. Ich hielt Euch für eine gute Partie. Eine Frau von hohem Rang und mit wertvollen Gaben. Richtet nicht über mich, weil ich versucht habe, die Zukunft meines Volkes zu sichern.«
»Euer Volk wird auch ohne Euch überleben!« Sie schaffte es kaum noch, den Wind in ihrem Herzen zu bändigen. Das alles war einfach zu viel! Kayden war in Gefahr und Waris würde hier nicht ohne den verdammten Splitter weggehen! Vermutlich war es auch keine Lösung, Timucin zu töten, aber in diesem Moment war es Aira beinahe egal. Irgendwo musste sie hin mit ihrer Wut und der endlosen Enttäuschung.
»Ihr hattet darüber hinaus auch keine Ahnung, wie der Bann der Krone aufgehoben werden kann, habe ich recht? Auch diese Information hattet Ihr mir im Gegenzug für die Heirat versprochen!«
»Ihr habt es selbst herausgefunden, Herrin«, sagte Timucin. Er hob das Kinn an und hielt ihren Blick mit der Tapferkeit des freien Volkes. Weder rief er seine Krieger herbei noch bettelte er um Gnade. Eines musste sie ihm lassen, trotz allem: Er war schon jetzt ein besserer König, als ihr Vater es je gewesen war. Wahrhaftige Herrscherwürde offenbarte sich nur im Angesicht des bevorstehenden Todes.
»
Timucin, du sollst über allen anderen Fjeld und an der Seite der Wirker stehen
«
,
rezitierte da auf einmal Klecks die Prophezeiung Dorkas. »Lass ihn am Leben, Aira! Ich glaube, seine Rolle in dieser Geschichte ist noch nicht zu Ende.«
Sie hatte recht! Es gab keinen Grund, den neu gewählten König der Fjeld gleich am Tag seiner Krönung hinzurichten. Vielmehr musste sie nach vorne blicken und darüber nachdenken, was nun zu tun war. Dennoch fiel es ihr schwer, dem Drängen ihres rachsüchtigen Elements nicht nachzugeben. Sie zog ihr Mieder enger und presste den Wind aus ihren Lungen.
»Wenn Ihr das nächste Mal auf Brautwerbung geht, dann gebt bessere Versprechen ab!«, sagte sie zu Timucin. »Wir werden uns wiedersehen, Herrscher der Grasebenen.«
Der Fjeld nickte ihr zu, mit einem Gesichtsausdruck, eisern wie sein Herz.
Sie wandte sich ab und wollte das Zelt verlassen, da stand er auf und rief ihr hinterher: »Nirahel!«
»Was?«, fragte sie, ohne sich umzudrehen.
»Die Gräser und Berge, die Flüsse und Wälder – und auch die Steine. Sie alle haben ihre eigene Sprache. Wenn man genau hinhört, kann man sie flüstern hören. Und manchmal, wenn die Zeit gekommen ist, dann rufen sie sogar. Laut genug, auf dass die richtigen Ohren sie hören können. So erzählt man sich in meinem Volk.«
Diese versöhnlichen Worte beruhigten Airas aufgewühltes Blut. Doch leider enthielten sie keinerlei neue Information. »Das wissen wir schon«, antwortete sie, ehe sie durch die Zeltplane hinaus ins Freie schlüpfte.
Draußen sah sie Waris fragend an. Die Erdwirkerin senkte beschämt den Kopf, was ein gänzlich ungewohnter Anblick bei ihr war. »Kein Rufen. Kein Flüstern. Vielleicht meine Ohren nicht die Richtigen«, sagte sie leise.
***
Kieserian en Meyssel von Quartz stand noch immer wie ein Mahnmal der Altvorderen auf dem kleinen Felsplateau, die steinernen Muskeln angespannt, ein halb fertig gebautes Vogelnest zwischen seinen Ohren. Sein grimmiger Blick war das Erste, was man von der Klamm aus sehen konnte. Selbst die Fjeld mussten von so viel Entschlossenheit beeindruckt gewesen sein, ehe der alles entscheidende Pfeil den Gargoyle in eine leblose Skulptur verwandelt hatte.
Klecks warf einen Blick in das Nest, ehe sie den Schlüssel wieder
einsetzte – aus Angst, Kiesel könnte seine Wut anschließend an einem unschuldigen Vogel oder einem Gelege von Eiern auslassen. Doch es befand sich nichts darin. Also nahm sie einen tiefen Atemzug und puzzelte den kometenförmigen Stein in das passende Schlüsselloch. Kaum, dass er eingerastet war, ging ein Zucken durch den Körper des Gargoyles. »Aaaaachtung!«, brüllte er und riss seinen Kopf nach oben. In hohem Bogen wurde Klecks von seinem Rücken geschleudert. Waris fing sie glücklicherweise auf.
»Ein Pfeil! Wurde jemand getroffen?« Aufregung und höchste Anspannung standen in Kiesels Augen.
»Ja … du!«, piepste Klecks.
Verwirrt sah der Gargoyle sich um. Man konnte förmlich mit ansehen, wie die Erkenntnis in ihm wuchs, schon wieder unfreiwillig lahmgelegt worden zu sein – er sie aber nicht wahrhaben wollte.
»Gerade eben … warst du noch ein Fuchs«, sagte er zu Klecks. »Und du …«, dabei schweifte sein Blick weiter zu Waris, »... warst irgendwo im Gebirge unterwegs.«
»Es tut mir leid, mein Freund«, sagte Aira.
»Soll das heißen, man hat mich schon wieder ...?«
Sie nickte.
»Was ist passiert?«
»Ein Überfall der Fjeld. Sie haben uns gefangengenommen, doch wir konnten entkommen. Und überdies haben wir deren König davon überzeugt, auf der Seite des Lichts zu kämpfen«, fasste Aira die Geschehnisse zusammen.
»Der wollte Aira heiraten!«, platzte Klecks hervor. »Und sie ist Nirahel, die Sturmgöttin, die nicht gebannt werden kann!«
»Ähm … was?« Mit seiner Vorderpfote kratzte Kiesel sich die letzten Überreste des Vogelnests vom Ohr.
»Das ist eine längere Geschichte. Ich werde sie dir unterwegs erzählen«, beschloss Aira.
»Also fliegen wir weiter?«
Sie nickte.
»Wohin?«
Niemand antwortete, doch aller Augen richteten sich auf Waris.
»Hast du denn gar keine Idee?«, wollte Aira wissen. »Nicht einmal einen Ansatzpunkt, welches die richtige Richtung sein könnte?«
Die Numar zauderte. »Während Reise hierher – ich immer geglaubt – ich folge Ruf.«
»Also hast du ihn doch rufen gehört?«
»Nicht rufen. Mehr locken. Nur Gefühl. Vielleicht falsch.« Sie wandte sich ab und betrachtete den Gargoyle. »Du Schlüssel hassen. Ist schlechtes Leben so. Ich Zauber auflösen. Wenigstens das ich kann.«
Ein ungläubiges Funkeln trat in die Augen Kiesels. »Du kannst dafür sorgen, dass diese verfluchte Magie in meinem Nacken verschwindet?«
Waris zuckte mit den Schultern. »Ist Erdwirker-Zauber. Ganz leicht für mich. Muss nur Stein mit Stein verbinden, dann Schlüssel Teil von dir.«
Diese unverhoffte Ankündigung sorgte dafür, dass Kiesel für einen Moment beinahe so versteinert aussah wie noch vor wenigen Minuten. Dann jedoch kam gewaltig Leben in ihn. »Zum Haueisen nochmal! Ich bin dabei – und würde es mich meine Flügel kosten!«, rief er und drehte sich ein paarmal stampfend um die eigene Achse, was wohl so etwas wie ein Gargoyle-Freudentanz war. Nachdem er damit fertig war, blieb er artig stehen und ließ Waris aufsteigen. Die Numar griff in seinen Nacken.
»Warte!«, warf Aira ein. »Was, wenn dieser Schlüssel einen tieferen Sinn hatte? Vielleicht hat Orcas es genau so gewollt.«
»Schlüssel sinnlos. Orcas tot. Jetzt andere Zeiten.« Damit legte Waris ihre Hände, die sofort zu glühen begannen, auf die betreffende Stelle. Aira betrachtete die Erdwirkerin genau. Hochkonzentriert rief sie ihr Element an und leitete dessen Kraft zielsicher über ihre Fingerkuppen an die richtige Stelle weiter. Das alles ging vollkommen ruhig und meditativ vonstatten, ganz anders, als es oft bei Aira der Fall war. Es war beinahe so, als verschmelze sie selbst mit dem Gestein, aus dem der Gargoyle gehauen war. Kein Grollen stieg dabei aus der Erde empor, kein Buschwerk erzitterte im Hintergrund.
Jetzt verstehe ich, warum gerade die Windwirker ein Symbol bekommen haben, das sie bannt
, dachte Aira.
Wir haben das aufbrausendste aller Elemente. Das zornigste, lauteste und unkontrollierbarste. Die Erde ist das genaue Gegenteil.
Irgendwann zog Waris ihre Hände zurück, doch sie bewegte sich keinen Millimeter. Die Augen geschlossen, beide Handflächen gegen ihre Schläfen gedrückt, blieb sie einfach sitzen.
»Alles in Ordnung?«, wagte Kiesel zu fragen. »Hat es funktioniert?«
»Schscht!« war der einzige Laut, der aus Waris’ Mund drang. Es klang alarmierend genug, um all ihre Begleiter ebenfalls in eine Schockstarre zu versetzen. Niemand traute sich nachzufragen und so standen alle nur bewegungslos da, bis die Numar plötzlich ihre Augen aufriss und in Richtung der Klamm starrte. Dann tat sie etwas Seltsames: Mit einem Satz sprang sie von Kiesels Rücken, rannte auf die Schlucht zu und brüllte aus Leibeskräften ihren eigenen Namen.
»Waaaris!«, echote es von den Felswänden wider. »Waaaris, Waaaris!«
Klecks begriff es als Erste. Sie machte einen Luftsprung, verwandelte sich dabei in einen Fuchs und schlug übermütig die Hacken der Hinterbeine zusammen. Erst als Aira das sah, verstand sie es ebenfalls.
»Was ist passiert? Dreht sie durch? Ist mein Schlüssel noch da?« Niemand beantwortete die Fragen des Gargoyles. Stattdessen rannten Aira und Klecks hinter Waris und ihrem Echo her. Nur ein einziges Mal hatte die Erdwirkerin ihren Namen geschrien, doch nun schallte er tausendfach durchs Gebirge. Durch die Klamm und weiter den Weg entlang, vorbei an scharfkantigen Felsen und alten Steinlawinen. Der Erdsplitter rief nach ihr – und sie folgte dem Weg, den er ihr zeigte. Dabei legte sie eine Geschwindigkeit vor, mit der keiner außer Klecks mithalten konnte.
Keuchend erreichte Aira die beiden schließlich am Eingang einer Höhle. Die Numar stand kerzengerade davor und starrte hinein. Irgendwo hinter ihnen ertönten die stampfenden Schritte Kiesels, der auf dem schmalen Weg nicht gut vorankam, aber scheinbar keine Zeit opfern wollte, um Ballast abzuwerfen.
»Waaaris!«, wisperte das Echo wie ein Irrlicht, das sich im dunkelsten Schlund des Berges verheddert hatte.
»Du hast es geschafft«, sprach Aira der Erdwirkerin ihre Anerkennung aus. »Der Splitter hat nach dir gerufen – genau so, wie du es immer gesagt hast!«
»Ich Mutter danken!«, antwortete Waris, ohne ihren Blick vom Höhleneingang zu nehmen.
»Was ist vorhin geschehen? Woher wusstest du es plötzlich?«
»Ich Erde gewirkt. Verbindung zu Mutter aufgenommen. Mutter mir ihr Geheimnis offenbart.«
»Ich verstehe. Und im Lager der Fjeld war all das nicht möglich, weil
die Schamanen das Land mit Magie belegt haben, um ihren Stamm zu schützen. Wir alle waren dort blockiert, doch nun bist du wieder eins mit deinem Element.«
»Irgendwann, ich überwinden jede Blockade – wie du. Dann wir Donnerseelen.«
»Donnerseelen? Wir beide?«, hakte Aira nach. »Du meinst … wie Schwestern?«
Die Numar schüttelte den Kopf. »Nicht wir beide. Wir vier. Ihr hier warten. Ich Splitter muss holen allein.« Damit atmete sie tief ein und betrat die Höhle mit forschen Schritten.
Noch lange stand Aira einfach nur da und dachte darüber nach, wen Waris wohl mit »wir vier« gemeint haben könnte. Dass es sich dabei auch um Klecks und Kiesel handelte, glaubte sie kaum. Und was, bei Ägon, war eine Donnerseele? Sie hoffte aus tiefstem Herzen, dass Waris dort drinnen in der Dunkelheit nicht verlorenging.