– Kapitel 23 –
KAYDEN
Er spürte ein Gewicht auf den Armen, so als würde er die nasse, starrkalte Windtupfer den Berg hinauftragen. Schneidend eisiger Wind kroch unter seine Haut und Kayden merkte, wie ihn jegliche Kraft verließ.
Verschwommen und in einer Hülle aus Tönen treibend, ahnte er, dass sie ihn gefangengenommen hatten. Raue Stimmen waren zu hören und seine Ohren, vertraut mit den Geräuschen eines Schiffes, erkannten das Knarzen der Takelage, das Flappen von Segeln und die huschenden Füße auf schwankenden Planken. Auch bekannte Gerüche waren da: von Holz und Teer und Tauen sowie dem muffigen Schweiß von Männern, die sich Matrosen nannten. Und hinter all dem, der unverkennbare Geruch von Waffenfett, Leder und Stahl.
Dennoch war etwas anders. Oder besser gesagt, wieder da. Dieses grausige Gefühl der Entfernung zu sich selbst. In seinem Schädel schien ein Klumpen Eis zu sein, gespickt mit Nadeln. Erinnerungen überschlugen sich darin, aber es fehlten ihnen die Emotionen, die sie normalerweise mit sich brachten. Immer wieder entglitt ihm selbst diese vage Erkenntnis und er tauchte in eine schwarz gähnende Bewusstlosigkeit ab.
***
»Ich dachte schon, ich habe dir zu viel eingeflößt.« Die Stimme troff vor Hohn und Selbstgefälligkeit.
Er hob den Blick und blinzelte gegen die Blendlaternen, die auf ihn gerichtet waren.
»Dieser süffisante Ton der Selbstüberschätzung«, krächzte Kayden. »Wenn das mal nicht eine Penta ist.«
Ein Lachen, glockenhell und weich.
»Ihr Nordmänner habt einen seltsamen Humor. Aber es stimmt. Und ich möchte mich aufrichtig dafür bedanken, dass du meinen debilen Bruder, Marvellus, bis an die Kante gelockt hast. So musste ich ihm nur noch einen Schubs geben.«
»Freut mich, wenn ich behilflich sein konnte.« Kaydens Hals fühlte sich an wie der rußige Abzug einer Esse. Er stand in einem Raum, der vom Boden bis zur Decke mit Stein ausgekleidet war. Schamottsteine, wenn er das richtig sah. Diese speziell gebrannten Ziegel wurden für Kamine benutzt oder aber eben für die Essen der Schmieden. Der Vergleich mit seinem Hals passte also. Musste wohl Intuition gewesen sein. Dennoch sagte ihm sein Gleichgewichtssinn, dass er sich auf einem Schiff befand. Doch es stand nicht unter Segeln, sondern lag vor Anker. Nach und nach kamen seine Erinnerungen zurück, zumindest jene, die dazu geführt hatten, dass er sich jetzt dieses dämliche Geplapper anhören musste.
Hatte Nephele überlebt? Hatte sie sich in Sicherheit bringen können? Sie war immerhin eine Wasserwirkerin. Und der Spiegel? Lag er noch auf dem Grund des Meeres?
Ein Schnippen erklang und zwei bullige Schatten traten hinter den Blendlaternen hervor. Soldaten in schwarzen Rüstungen. Kayden neigte den Kopf und bemerkte, dass seine Arme von den Händen bis zu den Ellbogen von Gestein ummantelt waren – offenbar so etwas wie Fesseln für Feuerwirker. Die beiden Soldaten traten hinter ihn, legten ihm eine Schlinge um den Hals. Das Tau war dick und der Knoten wurde nach hinten gedreht. Holz knarrte und er wurde ein Stückchen in die Höhe gezogen. Kayden schnaufte und balancierte auf den Zehenspitzen, um das Gewicht zu verringern.
Die Frau kam zu ihm und blieb zwischen den Laternen stehen. Sie war hochgewachsen, schlank wie ein Speer und trug eine Kapuze über dem Kopf.
»Leider hat mir meine Herrin befohlen, dich lebend zu fangen, Wolfshall. Sonst wärst du längst Fischfutter. Aber es scheint ihr wichtig zu sein, dass du deinem Wanderer erst später begegnest.«
»Ich werde ihr einen Kuchen schicken«, zischte Kayden mit zusammengebissenen Zähnen.
Wieder das Lachen, dieses Mal kalt. Sie kam näher und ihre Stiefelabsätze klackten auf dem Steinboden, als wären sie aus Metall. Sie gab ein Zeichen und Kaydens Füße verloren jeglichen Halt. Das Seil zog sich enger und er spürte, wie sich Panik in seinen Adern sammelte.
»Es ist schwierig, sich zu konzentrieren, wenn einem die Luft genommen wird, oder? Der Druck auf dem Genick. Es muss unangenehm sein, nicht wahr?«
»Fall tot um!«, hauchte der Nordmann.
»Es waren Shizaris Anweisungen, nicht meine. Denn ich denke, dass du nicht einmal für das Leben deiner Prinzessin ein Flämmchen aus deinen Fingern zaubern könntest. Du bist nicht ausgebildet. Allein der Drache hat dir Macht verliehen. Sogar dein Drachenmesser habe ich dir gelassen. Niemand kann diese Klinge berühren, aber ich werde dafür sorgen, dass du gar nicht mehr weißt, wozu dieses Mistding gut ist. So bist du nichts als ein dreckiger Ravaner, der besser in seinem unbedeutenden Dörfchen geblieben wäre, um Torf zu stechen und irgendwann zu sterben.« Sie machte eine Geste. Kayden wurde wieder heruntergelassen und Wut mischte sich in seine Furcht.
Diese Prozedur wiederholte sich etwa zehnmal – solange, bis er in sich zusammensackte und dankbar war für jedes Quäntchen Luft, welches in seine Lungen strömte.
Invidia kam zu ihm, fasste ihm unter das Kinn und lächelte wie eine Mutter, die nicht versteht, wieso das Kind die Strafe nicht akzeptieren kann.
»Du bist erstaunlich, Wolfshall. Deine Adern sind voll von Nachtwolke .« Sie entließ die beiden Soldaten, die sich gehorsam entfernten. Offenbar ging sie davon aus, dass er in diesem Zustand gerade noch dazu imstande war, sich halbwegs aufrecht zu halten. »Es ist die gleiche Substanz, die auch in den Schwarzblutpfeilen verwendet wird. Die Helle hat davon zu kosten bekommen, soweit ich weiß.«
Ja, das hatte sie. Kayden war dabei gewesen und hatte die Wunde mit den Sonnentränen behandeln müssen. Seitdem schlief Meridiem.
Invidia Penta musterte ihn aus dem Schatten der Kapuze heraus.
»Wie geht es der Lichtzauberin?«, fragte sie.
»Kämmt sich die goldenen Locken, liest ein nettes Buch, trinkt Tee, was weiß ich«, knurrte er seine Antwort.
»Du bist zäh, das muss ich dir lassen. Nachtwolke frisst Licht! Und ebenso Feuer. Deine innere Glut wird langsam vergehen. Doch sei gewiss. Sollte die Temperatur in diesem Raum ansteigen oder irgendetwas, außer meiner Schönheit, zu glühen beginnen, dann werde ich dir diese nutzlose Eigenschaft austreiben.« Sie wandte sich ab und stolzierte zurück zu ihrem Platz zwischen den Laternen, wo – wie Kayden jetzt sah – ein schlichter Stuhl stand.
Schwarzblutpfeil … Er hatte einen schwarzen Bogen bei Elk gesehen. Dann war er es gewesen, der Meridiem so schwer verletzt hatte. Invidia setzte sich, schlug die Beine übereinander. Eines begriff er: Es gab Menschen, die mussten nicht von der Dunkelheit berührt werden, um so richtig mies drauf zu sein. Die waren so in die Welt gekommen. Wie sein Bruder.
»Wie hast du es geschafft, zwei meiner Seeschlangen einfach verschwinden zu lassen?«, wollte sie wissen und besah sich ihre Fingernägel. »Immerhin hat die dritte dich auf meine Planken gespuckt.«
»Hab freundlich gefragt«, lachte Kayden und nahm die Folgen in Kauf für diesen kleinen, sinnlosen Sieg.
»Du bist wunderbar, Wolfshall. Wir beide werden noch jede Menge Spaß miteinander haben, da bin ich mir sicher.«
***
Sie waren nicht mehr bei den Dünen!
Kayden sah hohe Klippen auf der Steuerbordseite. Das Schiff war nach Norden ausgerichtet. Wollte Invidia dorthin? Was lag dort? Die Wüste der verlorenen Tränen ? Wollte sie sich dort mit jemandem treffen? Es hatte keinen Sinn, sich den Kopf zu zerbrechen. Er würde es früh genug erfahren. Sie hatten ihn samt seiner eingemauerten Arme und Beine vor dem Achterdeck an einen dicken Pfahl gebunden, der neben der Treppe stand.
Die Wellen brachen sich am Bug und das von ihm so vermisste Schwanken und die salzige Luft belebten ihn, auch wenn er sich wünschte, es wäre an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit. Er hoffte, dass Kasai sich aus diesem Kampf heraushalten würde und sich versteckt hatte.
Auf Deck herrschte reges Treiben. Es war ein Kriegsschiff, ähnlich jenen, die Barshan Anur angegriffen hatten, und mit keinem der Segler zu vergleichen, auf die Kayden je einen Fuß gesetzt hatte. Es strahlte etwas aus, das ihn schaudern ließ. Dunkel, gewaltig und gebieterisch.
Sie hatten ihm erneut eine Schlinge umgelegt und das Ende über die Reling des Heckkastells geworfen. Invidia stand dort oben und er konnte nur ihr kantiges Kinn und die Kapuze erkennen – aber auch, dass sie auf diesem Kinn einen schwarzen Strich hatte, der bis über ihren bleichen Hals lief und dann unter der leichten Rüstung verschwand.
»Bringt sie her!«, rief sie. Es waren wenige Soldaten an Deck und noch weniger Matrosen. Dafür stand eine mannshohe Eisentruhe mittschiffs, die einige Luftlöcher aufwies. Kayden bekam sein berühmtes ungutes Gefühl im Magen.
Vier schwer gerüstete Soldaten kamen den breiten Niedergang herauf, in ihrer Mitte eine zitternde Nephele, mit auf den Rücken gebundenen Armen. Man hatte sie in grobe Kleidung gesteckt – vermutlich nachdem sie sorgfältig durchsucht worden war. Der Nordmann erschrak, als er die Apparatur auf ihren Schultern sah. Sie hatten ihr einen mit Teer abgedichteten Metalleimer aufgesetzt, der ihren Kopf umschloss und in den vorn ein Sichtfenster aus Glas eingelassen war. Oben war er offen und ein Schlauch ragte heraus, der in ein Fass dahinter mündete. Dort betätigte ein Diener die Pumpe, welche unaufhörlich den Eimer mit Wasser füllte. Nephele konnte nur Luft holen, indem sie permanent ihre Kräfte dafür benutzte, das nachströmende Wasser hinaus zu drücken. Eine perfide und grausige Art, ihre Kräfte im Zaum zu halten. Jetzt konnte er sich vorstellen, wie sie in den Tothautlanden zum Wasserwirken gebracht worden war.
Sie war blass, starrte mit großen Augen die Eisentruhe an und wurde dann etwa fünf Schritte vor ihm auf die Knie gezwungen. Das Haar hing ihr salzverkrustet und wirr im Gesicht. Ihre Arme waren auf den Rücken gefesselt und auch sie wirkte, als wäre sie unter dem Einfluss der Droge.
»Du hast den Spiegel für deine Gebieterin gehoben. Dafür dankt sie dir. Doch etwas stimmt damit nicht, kleine Wirkerin! Shizari hat den Inhalt geprüft.«
»Ich habe alles getan, was von mir verlangt wurde«, klang es blechern aus dem Eimer. Kayden aber wusste, was hier geschah. Nephele hatte eine Scherbe des magischen Artefakts an sich genommen. Er hatte sie gewarnt, dass das nicht gutgehen würde.
»Ein Stück fehlt. Gib es heraus oder …«, Invidia deutete auf die eiserne Kiste, »… ich muss deinen Lohn einbehalten.«
Die Zeit für Verhandlungen war vorüber, das wusste auch die junge Frau. Sie keuchte, hustete, würgte und etwas fiel aus ihrem Mund auf den Boden des Eimers. Ein Diener in grauen Gewändern huschte voran, fischte das Objekt mit einer Zange heraus und brachte es eilig auf das Achterdeck.
»Nun, ich hoffe für dich, dass dies alles ist«, drohte Invidia.
Nephele ließ den Kopf hängen und nickte.
»Gut für dich, Kind. Dennoch muss Ungehorsam geahndet werden.« Sie winkte den Soldaten und diese stellten sich um die hohe Eisenkiste auf. Zwei lange Stangen wurden gebracht und in die entsprechenden Halterungen geschoben. Kayden wollte eben etwas sagen, doch das Seil zog sich um seinen Hals, hob ihn in die Höhe. Dieses Mal war da nur noch Zorn und er spürte die Glut in sich erwachen. Das Gleiche schien mit Nephele zu geschehen, die schrie und sich hektisch umdrehte, während die Soldaten die Kiste zur Reling trugen. Aus dem Inneren waren nun flehentliche Rufe zu hören. Einen Jungen und eine Frau erkannte Kayden trotz des Rauschens in seinen Ohren. Er begriff, dass Invidia soeben einen Fehler begangen hatte. Wut entfachte die Elemente beinahe so effektiv wie eine Ausbildung, nur leider wesentlich unbeherrschter. Trotz der Apparatur auf ihren Schultern schien die junge Wirkerin außer sich und Kayden spürte, wie sich der Wellengang veränderte. Er kam plötzlich seitlich und zwar von Backbord. Der Mann, der das Wasser in ihren Eimer pumpte, kam ins Straucheln und segelte über Bord. Offenbar brach Hektik aus, denn der Nordmann landete wieder auf seinen Füßen und kam zu Atem. Jemand brüllte aus dem Krähennest, als eine heftige Welle das Schiff auf die Seite zwang. Männer verloren den Halt, das Fass mit dem Wasser kippte um. Über sich hörte er Invidia Befehle rufen und sofort kamen weitere Soldaten an Deck, mit Armbrüsten bewaffnet. Sie schossen ohne Vorwarnung und Bolzen, die allesamt auf die Wasserwirkerin gerichtet waren, schwirrten durch die Luft. Kayden sah, wie einer davon an ihrem Eiseneimer abprallte und sich dann in den Bauch eines Dieners bohrte. Jetzt schubsten die Matrosen die Soldaten beiseite, denn der Kapitän brüllte ebenfalls Befehle und diese waren Gesetz! Die vier Männer aber hievten nun mit aller Kraft den Käfig über die Reling, wo er – sich überschlagend – verschwand und die Hilferufe mit sich nahm. Heilloses Chaos entstand, während Invidia schrie, man solle das Mädchen endlich töten, und in Kaydens Augenwinkeln sich eine riesige Wasserwand erhob.
Die Welle traf sie mit voller Wucht. Das Schiff bekam schwere Schlagseite und von einem Moment zum anderen war nichts wichtiger, als zu überleben. Soldaten und Matrosen wurden über Bord gespült und Kayden schwang wie ein Pendel zur Seite, den Strick noch immer um den Hals. Doch er konnte die Füße gegen das Geländer, welches zum Achterdeck führte, stemmen und gerade noch verhindern, dass er erhängt wurde. Dann zersplitterte etwas über ihm und der Strick gab nach. Keine fünf Schritte neben ihm entledigte sich Nephele des Eimers um ihren Kopf, indem sie ihn mit einer Wassersäule in zwei Teile riss. Sie hatte sich aus den Fesseln befreit und sprang über Bord. Der mit Eisen ummantelte Hauptmast knackte heftig und einige Rahen brachen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sich das Schiff zurück in die Waagerechte schaukelte, und der Nordmann erlaubte sich kurz den Wunsch, dass Marvellus Pentas Schwester in den wogenden Fluten ertrunken war. Nach und nach drang das Gewimmer der Verletzten zu ihm. Männer krochen über Deck, teilweise mit gebrochenen Gliedern. Kayden hingegen versuchte, auf die Beine zu kommen, was schwierig war, mit den schweren Manschetten aus Stein an den Unterarmen. Das Feuer in ihm bäumte sich auf, doch das Gift hielt es in Schach. Sein erster Impuls war Flucht. Doch wohin? Mit diesem Gewicht konnte er nicht schwimmen! Hinter ihm erklang schließlich eine leider sehr lebendige Stimme.
»Wir beide sind noch nicht fertig miteinander, Bastard!«, zischte Invidia.
Ein Hüne packte sein Haar, riss es nach hinten und umklammerte mit der zweiten, gepanzerten Faust seine Kehle. Kayden schnappte nach Luft und Pentas Schwester goss ihm eine ganze Phiole Nachtwolke in den Rachen. »Nein, wir fangen gerade erst an!«, fügte sie grinsend hinzu.