– Kapitel 24 –
AIRA
Leise schwappten die Wellen über den Strand. Hin und wieder berührte eine davon Airas nackte Füße, als wollte sie nach ihr greifen und sie mit sich in die nasse Dunkelheit ziehen. Warum sie ausgerechnet diesen Platz gewählt hatte, um ihrer Trauer nachzugeben, wusste sie nicht. Vielleicht, weil das Meer Kaydens Heimat gewesen war. Es war tief und dunkel, genau wie der Schmerz in Airas Brust. Ungezügelt wie der Hass, der durch ihre Adern floss. Sanft wie der letzte Kuss eines Geliebten, der niemals wiederkehrte. Trauer ist der Preis, den wir für unsere Liebe bezahlen , hatte ihre Mutter einmal gesagt. Und Aira zahlte – immerfort. Erst Neera, dann Kendra, jetzt Kayden. Wie viele geliebte Menschen konnte ein Herz verlieren, ehe es in Stücke brach?
Ihr Kopf war seltsam leer, während sie dasaß und auf das Meer hinausstarrte. Die Nacht war kristallklar, ohne eine einzige Wolke am Himmel. Dafür stand der volle Mond nur knapp über dem Horizont und goss silberne Strahlen über den Ozean. Aira sog die eisige Luft in sich auf, die so sehr nach Leben roch, obgleich der Tod unaufhaltsam durch die Welt wandelte – heimlich wie ein Meuchler der Finsternis.
Kasai war noch einmal aufgebrochen, um weitere Erkundigungen einzuziehen. In seiner seltsamen Gedankensprache hatte er Waris von einem schwarzen Schiff berichtet, welches die Seeschlangen befehligt hatte. Ob Shizari selbst es lenkte oder einer ihrer Diener, war Aira gleich. Im Grunde war ihr alles gleich, was nun passieren würde – nur eines wollte sie noch: Rache. Dieses Schiff finden und zerstören, jede Seele auslöschen, die darauf segelte, jedes Herz zum Schweigen bringen, das darauf schlug.
Kayden war tot! Ein Zittern durchlief ihren Körper, wenn sie daran dachte; ihr Kinn bebte und ihre Hände krallten sich in den Sand. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus. Sie sprang auf und schrie die angestaute Verzweiflung aus sich heraus – laut und gellend, im vollen Bewusstsein, was sie damit auslösen würde. Nur zu gerne gab sie die Zügel frei, mit denen sie bis zu diesem Moment ihr Element im Zaum gehalten hatte.
Von einer Sekunde auf die nächste verwandelte sich die stille See in tobende Flut. Wütend peitschte der Sturm die Wasseroberfläche, entfachte meterhohe Wogen und ritt auf ihnen hinaus in die Unendlichkeit. Aira schrie so laut, wie sie noch nie geschrien hatte. Es war, als bestünde die ganze Welt nur noch aus diesem einen Schrei. Tiefschwarze Wolken bauschten sich am Himmel, donnernd wie die Hufe einer ganzen Armee, und alsbald brachen Blitze daraus hervor, die sich aufmachten, um irgendetwas zu zerstören und zu zerschlagen – und wenn es nur ein kleines Riff oder ein Schwarm Makrelen war.
Weinend brach Aira zusammen. Und noch während sie blind vor Tränen im Sand kauerte, spürte sie, wie der Wind sich wieder legte. Der Sturm zog davon und nahm die Gewitterwolken mit, bis nichts mehr davon zu sehen war außer sternklarer Nacht.
Es begann als gluckerndes Geräusch. Und genau wie beim ersten Mal glaubte Aira zunächst, ein Wachsmonster hätte sie aufgespürt. Doch diesmal zog sie nicht ihre Waffe, sondern verharrte reglos auf den Knien am Strand, während Kasais mächtiger Körper dem Meer entstieg. Seine Schuppen glänzten wie tausend umgedrehte Muschelschalen – ein Weiß, das jede nur mögliche Farbe reflektierte. Mit unergründlichem Blick sah er sie an. Dann streckte er eine seiner Klauen aus und ließ etwas herausfallen. Im ersten Augenblick dachte Aira, es handele sich um ein Stück Treibholz, doch gleich darauf erkannte sie, dass es ein Mensch war. Eine Frau mit rabenschwarzem Haar, gekleidet in Männerhosen und eine einfache Tunika. Um ihren Hals herum verlief ein blutverkrusteter schwarzer Ring, der seltsam nach Teer roch. Sie schien bewusstlos zu sein.
»Wer ist das?«, fragte Aira.
Der Drache ließ seine Schwanzflosse aufs Meer niederfahren. Als sie nicht gleich reagierte, schöpfte er mit einer Klaue Wasser, welches er langsam durch seine Zehen rinnen ließ.
»Ich verstehe«, flüsterte Aira. »Feuer und Wasser! Du hast nach beiden gesucht.«
Doch gefunden hatte er nur eines davon. Denn das Feuer war erloschen. Dieses Mädchen musste die Wasserwirkerin sein, an deren Auftauchen sie schon nicht mehr geglaubt hatte. Nun war sie da – einfach so. Am liebsten hätte Aira sich umgedreht und wäre davongelaufen. Was mit den Lichtsplittern passierte, interessierte sie nicht mehr. Wen kümmerte schon die Rettung einer ganzen Welt, wenn seine eigene zerbrochen war? Doch in diesem Moment schlug die Frau ihre Augen auf und sah sie an. Es waren die dunkelsten Iriden, in die Aira jemals geblickt hatte: totschwarz, durchzogen vom Aschgrau der Verzweiflung. Dieser erste Blick, den die beiden miteinander tauschten, erzählte mehr Geschichten als alle Bücher im Palast von Noskiris.
»Wie ist dein Name?«, fragte Aira tonlos.
»Nephele.«
»Du bist eine Wasserwirkerin.«
Sie antwortete nicht, nickte nicht einmal, entweder weil sie ihr nicht traute oder weil ihr egal war, was von nun an passierte. In jedem Fall hatten sie beide etwas gemeinsam.
»Ich heiße Aira Felsenfaust. Ich bin …« Sie stockte, weil Nephele beim Klang ihres Namens laut zu lachen begann. Es war ein grauenvolles Lachen, vollkommen unpassend zu der Situation, in der sie sich befanden, und doch schien es von ganz tief innen zu kommen. Wimmernd drehte die Wasserwirkerin sich auf den Rücken und lachte weiter, mit bebender Brust und tränenüberströmten Wangen.
Aira ballte die Hände zu Fäusten. »Was ist so lustig?«
»Aira Felsenfaust. Die Prinzessin aus dem Turm!« Nepheles Stimme brach. »Warum hat das Schicksal mich nicht einfach untergehen lassen? Warum hat es stattdessen diesen verfluchten Drachen geschickt, der mich von der Kiste losgerissen hat?«
»Welche Kiste?«
» Invidias !« Erst jetzt sah die Wasserwirkerin Aira wieder an. Ihr Blick war abgrundtief dunkel – Augen, die den Tod in seiner schrecklichsten Gestalt erblickt hatten. Für einen Moment schien sie orientierungslos, als hätte sie den Verstand verloren. Dann stand sie mühsam auf und nahm Haltung an. »Meine Familie. Ich konnte sie nicht retten. Sie starben genau den Tod, den Shizari für sie vorgesehen hatte. Alles, was ich getan habe, war sinnlos.«
»Was hast du getan?« Furchtbare Bilder stiegen vor Airas innerem Auge auf. Feuer und Wasser, hatte Kasai gesagt. Kayden! Er war mit ihr zusammen gewesen. Und diese Nephele wusste, was passiert war. Vielleicht war sie sogar schuld daran. »Was hast du getan?«
»Ich habe ihn vergiftet«, grollte die junge Frau, »mit vielerlei Arten von Gift. Ich habe seine Gedanken manipuliert, seinen Geist verwirrt und seine Sehnsüchte erstickt. So lange, bis er ein leichtes Opfer für die Eine war.« Ein Windstoß von vorne warf Nephele beinahe um. Sie ruderte mit den Armen, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden, versuchte aber nicht ansatzweise, sich zu verteidigen.
Die Erkenntnis, womöglich Kaydens Mörderin gegenüberzustehen, raubte Aira den Atem. »Du hast ihn zerstört. Es ist deine Schuld … Nur wegen dir musste er sterben!«
Nephele machte den Mund auf, schloss ihn aber sogleich wieder. Sie wirkte wie jemand, der nicht wusste, auf welchem seiner zwei gebrochenen Beine er stehen sollte. Bis sie ganz offensichtlich beschloss, ihrem jämmerlichen Dasein ein Ende zu bereiten. »Schmerzhaft, so ein Leben außerhalb der schützenden Turmmauern, nicht wahr, Prinzessin?«
Es war diese eine Provokation zu viel, die Airas ohnehin schon labilen Verstand zum Explodieren brachte. Sie merkte nicht einmal, was sie tat, doch im nächsten Moment warf eine heftige Böe Nephele rückwärts gegen die Felswand der angrenzenden Klippen, wo sie mit dem Hinterkopf gegen einen spitzen Stein knallte. Ein beinahe erleichtertes Stöhnen drang aus ihrem Mund, bevor sie langsam in sich zusammensackte und regungslos liegenblieb. Aira starrte auf ihre Hände und sah den weißen Stab mit ausgefahrenen Klingen darin. Sie musste ihm nur noch sein Ziel nennen, dann würde Kaydens Mörderin ihren letzten Atemzug tun. Unbarmherzig wanderte ihr Blick zu Nepheles verbranntem Hals. Ihr dürstete nach deren Blut. Vergeltung war ein schwacher Trost, aber vermutlich der einzige, den die Götter ihr zugestanden.
Noch während sie ihre Finger öffnete und Alba Bagheta zum Tanzen brachte, schob sich jedoch der Drache zwischen sie und ihr Opfer.
»Was soll das?«, zischte Aira, die Augen blutunterlaufen.
Kasai schüttelte lediglich den Kopf und ließ wieder seine Schwanzflosse auf die Wellen niederfahren.
»Es ist mir gleich, ob sie eine Wasserwirkerin ist oder eine billige Hafenhure. Sie wird uns ohnehin keine Hilfe sein, denn sie ist mit der Dunkelheit im Bunde!«
In bester Wachhund-Manier legte Kasai sich vor der ohnmächtigen Frau in den Sand und breitete einen seiner Flügel über sie aus.
Verständnislos sah Aira ihn an. »Wie kannst du es wagen? Kayden war auch dein Freund!«
Ein Seufzen entwich dem Drachen, doch er änderte weder seine Meinung noch seine Position. Wütend steckte Aira ihre Waffe wieder in die dafür vorgesehene Halterung. Dann rannte sie den Strand entlang zu den Dünen, wo sie Waris, Klecks und Kiesel zurückgelassen hatte.
***
Wenig später kam sie mit ihren Begleitern im Schlepptau zurück. Kasai hatte seine Position nicht im Geringsten geändert. Noch immer barg er die verräterische Wasserwirkerin unter seinen Flügeln, als hüte er ein verlorenes Drachenei. Stumm wie immer stellte Waris ihn zur Rede, was dieses Mal besonders lange dauerte.
»Er gesagt, Kayden hat Frau mitgebracht. Wusste genau, dass Dunkelheit in ihr. Aber er dennoch geglaubt, sie hilfreich.«
Aira war außer sich. »Sie hat ihn vergiftet. Das hat sie selbst zugegeben!«
»Wollte Familie retten – Mutter und Bruder. Sie gezwungen worden.«
»Das ist mir gleich! Sie hat Kayden getötet, versteht das denn niemand?«
»Doch. Ich verstehe es«, schluchzte Klecks. »Aber ich wüsste dennoch gerne, was genau sich da draußen auf dem Schiff zugetragen hat.«
»Und wo es hingesegelt ist«, fügte Kiesel hinzu.
Was diese Fragen anging, so musste Aira ihnen recht geben. Womöglich wusste Nephele, welchen Kurs Invidia genommen hatte und wie sie aufzuspüren war. Nachdem sie ihnen das gesagt hatte, konnte man sie immer noch umbringen.
Mit dieser Lösung erklärte sich sogar Kasai einverstanden. Ein Schwall von Wasser aus seinem Maul sorgte dafür, dass die Wasserwirkerin wieder zu sich kam. Stöhnend schlug sie die Augen auf und fasste sich an den Hinterkopf. Sobald sie Aira und ihre Begleiter erblickte, trat ein Ausdruck in ihr Gesicht, der beinahe so etwas wie Enttäuschung spiegelte. Es dauerte eine Weile, bis die Prinzessin begriff, welche Art von Enttäuschung es war: Nephele war tatsächlich niedergeschlagen, weil sie immer noch lebte. Was musste einem Menschen zugestoßen sein, dass er seinen eigenen Tod so sehr herbeisehnte?
Waris packte sie im Nacken wie einen ungehorsamen Hund und zog sie vor Aira in die Knie. »Du uns sagen, was auf Schiff geschehen! Wenn du schweigen, du bereuen!«
Erst sah es so aus, als würde die Wasserwirkerin sich widersetzen, doch dann blickte sie Aira in die Augen und nahm einen tiefen Atemzug. Ihre Schultern bebten. »Du willst wissen, was passiert ist? Ich werde es dir sagen: Invidia Penta ist kein Mensch, sondern eine Krankheit. In ihrer Brust schlägt ein echtes Herz und doch kennt sie kein Mitleid, keine Gnade, keine Liebe. Sie ist Shizaris treue Dienerin, aber in einem Punkt unterscheidet sie sich von ihr: Das Schicksal musste sie nicht brechen, um der Dunkelheit zu verfallen. Sie hat es freiwillig getan – aus purer Machtgier. Dein Kayden Wolfshall ist am Leben, Prinzessin. Wenn du ihn wiederhaben willst, musst du eine Horde von Wachsmonstern und die grausamste Frau des ganzen Kontinents besiegen.«
Kayden lebte! All die schrecklichen Dinge, von denen Nephele sprach, waren belanglos im Vergleich zu dieser einen beglückenden Nachricht. Aira würde klaglos jeden Schmerz und jede Düsternis auf sich nehmen für einen einzigen Blick in seine Augen – und wenn es der letzte war.
»Er ist gar nicht tot? Du meinst … Er wird nur gefangen gehalten und wir müssen nichts weiter tun, als dieses Schiff zu versenken, um ihn zurückzubekommen?« Klecks strahlte. Mehr noch: Sie funkelte wieder. Das ganze Grau, welches sie in den letzten Stunden wie ein Schleier umgeben hatte, war mit einem Schlag von ihr abgefallen.
Nephele lachte bitter. »Ja, kleiner Fuchs. Nichts weiter als das! Und dabei werdet ihr alle sterben.«
»Kommst du mit?«, fragte Aira provozierend. »Zum Sterben? Besser so, als wenn ich jetzt dem Drachen befehle, dich zum Frühstück zu verspeisen.«
»Du kannst mir nicht drohen, Aira Felsenfaust. Ich habe alles verloren, was mir je etwas bedeutet hat. Was kümmert es mich, wann und durch wessen Hand ich sterbe?«
»Dann lass es die von Invidia sein. Steh auf und kämpfe!«
Die Wasserwirkerin erhob sich schwankend. »Damit du deinen Geliebten wiederbekommst?«
Aira schüttelte den Kopf. »Damit du deine Ehre zurückerlangst!«
Sie maßen einander mit abschätzenden Blicken. Keinerlei Verständnis oder Sympathie lag darin und doch gab es eine Sache, die sie beide aneinanderschweißte: einen gemeinsamen Feind. Wie sagte ein altes Sprichwort Jandors so schön: Nichts verbindet Menschen mehr als Hass – nicht einmal die Liebe.
Nephele verstand. »Das Schiff war leckgeschlagen, der Mast beinahe durchgebrochen. Sie werden zurück zur Küste gesegelt sein, um es zu reparieren. Aus der Luft sollte es leicht zu finden sein«, sagte sie mit einem Wink auf die beiden fliegenden Wesen in nächster Nähe.
»Wir brechen auf, sobald du wieder aufrecht stehen kannst, ohne dabei mit den Knien zu zittern«, beschloss Aira und die Wasserwirkerin zeigte durch ein sachtes Nicken an, dass sie einverstanden war.
***
Niemand traute Nephele über den Weg, daher teilten sie sich auf: Aira flog mit Klecks auf Kiesel, während Waris die Beaufsichtigung ihrer neuen Reisegefährtin auf dem Rücken von Kasai übernahm. Am frühen Nachmittag flogen sie los – hoch genug, um außerhalb der Reichweite von Katapulten und Pfeilen zu bleiben, aber tief genug, um keine Bewegung am Boden zu verpassen. Die Schären an der schroffen Nordküste Eliandars boten zahlreiche Möglichkeiten, um selbst ein großes Schiff in verwucherten Lagunen oder Uferhöhlen zu verstecken. Es dauerte Stunden, um sich einen entsprechenden Überblick zu verschaffen, doch außer einigen zotteligen Ziegen und ihren besorgt dreinblickenden Hirten sahen sie niemanden.
Ohne große Hoffnungen brachen sie in der Abenddämmerung schließlich nach Norden auf. Die Küstenlinie war dort übersichtlicher und bot keinerlei Schutz für ein leckgeschlagenes Schiff und dessen Besatzung. Aira fiel nur ein Grund ein, weshalb Invidia vielleicht dennoch diesen Platz gewählt hatte, um vor Anker zu gehen: der gebrochene Mast. Dort im Norden gab es Wälder mit großen Bäumen und für den Fall, dass er ersetzt werden musste, war dies die einzige Möglichkeit, um an entsprechendes Holz zu kommen. Niemand an Bord rechnete mit einem Überfall aus der Luft, weshalb die grausame Kapitänin vielleicht wirklich ohne Deckung angelandet war.
An normalen Tagen empfand Aira den Moment, wenn die Wölbung der Sonne am Horizont zerfloss, als unangenehmes Omen – war die Nacht doch der Vorbote der ewigen Dunkelheit. Heute jedoch schienen die Götter auf der Seite der Rachsüchtigen zu sein, denn im letzten Licht des untergehenden Tages erblickten sie die Silhouette eines monumentalen Kriegsschiffes. Genau wie vermutet lag es unweit des ersten Waldstückes vor Anker. Der gebrochene Mast war bereits entfernt worden, aber in der Dunkelheit konnte Aira nicht erkennen, ob auch ein Lager für die Ausbesserungsarbeiten an Land aufgeschlagen worden war. Hastig befahl sie Kiesel zu landen und gab Waris einen Wink, es ihnen mit Kasai gleichzutun. Sie fanden eine Düne, die hoch genug war, um dahinter sogar den riesigen Drachenleib zu verbergen. In der Hoffnung, nicht gesehen worden zu sein, schlugen sie dort ihr nächstes kaltes Nachtlager auf. Nephele, deren Kleidung immer noch nass war, fror so sehr, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen. Doch es gab keine Möglichkeit, um ihr Linderung zu verschaffen. Wie unerbittlich doch eine Welt war, in der das Feuer fehlte! Zu allem Überfluss begann es auch noch zu schneien.
»Du herkommen!«, sagte Waris zu Nephele und es klang wie ein Befehl. Auch wenn niemand es aussprach, war die Wasserwirkerin eher so etwas wie eine Gefangene ohne Fesseln. Keiner in ihrem Kreis vertraute darauf, dass sie sich bei dem anstehenden Kampf wirklich auf ihre Seite schlug, obgleich sie mehr Gründe als jeder andere hatte, Invidia zu töten. Sie war einfach zu undurchschaubar, zu düster, zu kaputt. Gebrochene Menschen wandelten nur selten auf klaren Pfaden.
Zu Airas Überraschung wies Waris die junge Frau an, direkt vor den Nüstern des Drachen Platz zu nehmen, was diese nur widerstrebend tat. Kasai schien ihr unheimlich zu sein, obgleich er ihr heute das Leben gerettet hatte. »Atem von Drache warm«, sagte die Numar, dann fügte sie erklärend hinzu: »Deine Zähne zu laut klappern!«
Und wirklich ließ das ständige Zittern von Nepheles Körper schon nach kurzer Zeit nach. Die anderen gruppierten sich um den Drachenkopf wie um ein Lagerfeuer.
»Angriff planen!«, beschloss Waris, während sie ihre Hände nach der magischen Heizung ausstreckte. »Kasai sagen, er legen Feuer auf Schiff.«
»Aber dann verbrennt Kayden doch auch!«, rief Klecks entgeistert.
»Drache denkt nein. Feuerwirker unempfindlich gegen Drachenfeuer.«
Das war ein nachvollziehbares Argument. Doch ihr Bauchgefühl sagte Aira, dass es ein Fehler wäre, Kaydens Wirkerkünste gerade jetzt auf die Probe zu stellen. Sie warf einen Blick auf die immerwährende Glut und stellte fest, dass sich nichts verändert hatte: Nur durch die Schwärze der Nacht war das schwache Glimmen überhaupt noch zu erkennen. Sie dachte an ihre Zeit im Turm von Noskiris. Auch sie selbst war damals nicht mehr in der Lage gewesen, ihr Element zu beherrschen. Verzweiflung war kein guter Nährboden für natürliche Magie. Was, wenn Kayden bereits zu schwach war, um seine Kräfte zu bündeln und das Drachenfeuer auszuhalten?
»Das ist zu gefährlich«, beschloss sie. »Wir können nicht abschätzen, wozu Kayden im Moment in der Lage ist und wozu nicht. Es muss anders gehen.«
»Krieger meines Volkes angreifen wie Raubtiere«, sagte Waris. »Schleichen in der Dunkelheit, verborgen hinter Dünen. Dann frontaler Kampf. Wir beherrschen Erde, Wind und Wasser. Grausame Frau keine Chance!«
»Das wird so lange funktionieren, bis sie Kayden als Schild benutzen«, tat Aira auch diesen Vorschlag ab. Ihr graute vor einem Moment wie diesem. Nephele war ein Schwachpunkt. Wer garantierte ihr, dass die Wasserwirkerin in einem solchen Fall nicht lieber Kayden opfern würde, als Invidia ziehen zu lassen?
»Auf mich achtet niemand! Ich schleiche mich rein und nage seine Fesseln durch!«, bot Klecks an, doch auch dieser Plan erntete nur Kopfschütteln ringsum. Genau auf diese Art hatte das Fuchsmädchen sich bei den Fjeld den giftigen Pfeil eingefangen.
Aira seufzte. Sie blickte in die Runde, doch niemand schien eine brauchbare Idee zu haben. Dann räusperte sich mit einem Mal Kiesel.
»Es mag euch ungewöhnlich erscheinen. Aber habt ihr je einen Gargoyle gesehen, der einen Wasserklatscher macht?«
»Einen Wasserklatscher?« Tatsächlich musste Aira kurz nachdenken, was Kiesel damit ausdrücken wollte. »Du meinst – du willst dich einfach von oben auf das Schiff hinabstürzen lassen?«
»So in etwa, ja. Im freien Fall kann ich unglaubliche Geschwindigkeiten erreichen. Ich werde diesen schwimmenden Teerkasten zermalmen, und zwar vollkommen plötzlich. Niemand wird mich kommen hören und keiner wird der Gewalt des Einschlags entgehen können.«
»Auch Kayden nicht«, seufzte Aira.
»Es sei denn, ich ziele auf den Bug. Das Heck wird wegbrechen, aber es bleibt unzerstört. Unter Wasser wartet Kasai, um Kayden in dem ganzen Chaos mitzunehmen. Und ihr Wirker deckt unseren Rückzug, indem ihr Invidia und ihre Seeleute beschäftigt. Was haltet ihr davon?«
So lange Aira diesen seltsamen Plan auch drehte und wendete – er war der einzige, der keine sichtbaren Ecken und Kanten hatte. Sie suchte Waris’ Blick und erntete ein Nicken von ihr. »Abgemacht. Wir warten bis Mitternacht. Dann schlagen wir zu.«
»Und ich?«, piepste Klecks. »Was für eine Rolle spiele ich dabei?«
Die Prinzessin betrachtete den lilafarbenen Fuchs, der da so aufgeregt hin und her wetzte. Wenn sie darüber nachdachte, war das keine schlechte Idee. Denn irgendwer musste hinter ihnen bleiben und den Überblick behalten, falls etwas schief ging. Ein Springer sozusagen – jemand mit gut ausgeprägten Sinnen, der flink rennen konnte.
»Deine Position ist im Wald, Klecks!«