– Kapitel 25 –
KAYDEN
Die innere Entfernung war zu einem Abgrund geworden, der sich mit jeder Stunde tiefer in Kayden wühlte. Trotz der Anweisung, ihn leben zu lassen, war Invidia anscheinend der Meinung, dass es ausreichte, solange sein Herz noch schlug. Seine Seele jedoch begrub sie, indem sie ihm weiter Nachtwolke einflößte. Es kam ihm vor, als treibe er aufs Meer hinaus, das kalt und unbarmherzig jegliche Wärme aus ihm zog. Kayden versuchte, ans Ufer zu gelangen, doch so sehr er sich auch mühte, das Gift zog ihn immer wieder fort. Er sah Windtupfer am Strand stehen, auf ihn wartend. Kaum gab ihm dieses Bild Halt, verlor es seine Farben und verwandelte sich in jenen grausamen Moment, da er die treue Hündin leblos aus den Wellen gezogen hatte. Zurück blieb der Schmerz, der sich in ihn brannte und damit das letzte Stückchen Glut nährte, die unter all der Asche glomm und deren Name Wut war.
Er hörte kein Hämmern, keine Rufe oder andere typische Geräusche, die darauf hindeuteten, dass das Schiff repariert wurde. Der Hauptmast hatte einen Riss, das hatte Kayden gesehen. Das Schlingern des Schiffes deutete darauf hin, dass auch mit dem Ruder etwas nicht in Ordnung war. Zudem waren Teile des Schanzkleides in Mitleidenschaft gezogen worden, Rahen gebrochen. Da niemand sie reparierte, konnte dies nur bedeuten, dass entweder keinerlei Materialien für solche Vorfälle an Bord oder die Zimmerleute, die normalerweise jeder gute Kapitän dabei hatte, tot waren. Er nahm an, dass Invidia ein Ziel verfolgte; und wenn sie dieses erreichen wollte, ging sie gerade ein hohes Risiko ein.
Denn sollte ein Sturm aufziehen, und Stürme waren unberechenbar, dann würde dieser verdammte Kahn auseinanderfallen und sie mit Mann und Maus auf den Meeresgrund mitnehmen. Nephele hatte mit ihrer Magie eine Menge Schaden angerichtet und er hoffte, dass die junge Frau ihre Flucht überlebt hatte. Ob sie jedoch auch ihre Familie hatte retten können, bezweifelte Kayden. Aber die Wasserwirkerin verloren zu haben, würde kein gutes Licht auf Invidia werfen und womöglich drangsalierte sie ihn deshalb.
Ein Diener brachte alle paar Stunden zumindest Wasser und auch wenn der Nordmann glaubte, dass es mit Nachtwolke versetzt war, musste er es trinken, um am Leben zu bleiben. Lange, das war ihm bewusst, würde er das allerdings nicht durchhalten.
Im dem mit Schamottsteinen ausgekleideten Raum standen ständig zwei Soldaten, die regelmäßig abgelöst wurden. Sie schwiegen, ließen sich zu keinerlei Aktionen hinreißen und hielten brav ihre Armbrüste auf Kayden gerichtet. Und der hatte es längst aufgegeben, diesen stummen Kerlen irgendwelche Informationen aus den Rippen leiern zu wollen.
Während eines Wachwechsels tauchte dann Invidia auf, offenbar guter Laune. Ein Diener trug für sie die Laterne, sodass ihr Gesicht von der Seite beschienen wurde. Der Nordmann ließ den Kopf hängen. Selten war er einer Frau derart überdrüssig geworden.
»Gute Nachrichten, Wolfshall. Dein Bruder, der Vizekönig von Ravan, führt seine glorreiche Armee gegen die freien Stämme der Fjeld. Zudem ist Dukar nun unter unserer vollständigen Kontrolle. Prinz Sebald hat ganze Arbeit geleistet.« Sie hielt inne. »Was gibt es da zu kichern?«, wollte sie wissen, denn Kayden musste einen Lachanfall unterdrücken.
»Elk als Feldherr? Man muss schon ziemlich verzweifelt sein, um einen wie ihn gegen die unbeugsamen Krieger der Grasebenen zu entsenden. Er wird schneller umdrehen, als die Dunkle fluchen kann, sobald er merkt, aus welchem Holz die Stämme gemacht sind.« Kayden blickte auf und sah den Strich, der Pentas Schwester von der Stirn bis zum Hals in zwei Hälften zu teilen schien. Wieso musste ausgerechnet er immer an die Verrückten geraten? »Und Prinz Lockenköpfchen mag eine Krone aus Wachs auf dem Schädel tragen, aber weder die Fürsten von Dukar werden sich das bieten lassen noch die Bevölkerung. Du wirst sehen. Schon bald beginnt ein zermürbender Krieg auf den Straßen und Plätzen. Und er wird nicht fair ausgefochten werden, das kannst du mir glauben.«
»Schweig, du elender Bastard einer Fjeldhure. Ich selbst war Mitglied einer dieser Fürstenfamilien. Mein Bruder mag nicht ganz bei Sinnen gewesen sein, aber den Fürsten geht und ging es immer nur um Gold und Einfluss. Sie werden sich beugen, wenn sie erst Shizaris wahre Macht erkennen.«
Kayden musste husten, so sehr amüsierte ihn all das. Es war ihm ständig ein Rätsel geblieben, wie sehr Könige ihre sogenannten Untertanen unterschätzten. Meist wussten die hohen Herren nicht einmal, was in ihrer eigenen Hauptstadt vor sich ging. Das war ihm in Noskiris mehr denn je aufgefallen. Jemanden wie Gallus Felsenfaust einfach auszutauschen, würde den meisten am Arsch vorbeigehen. In Ravan und der Hauptstadt Skander war das schon schwieriger. Wenn Elk dort dem Volk seinen Fuß auf den Nacken drückte, dann würde dieses sich wehren. Und keine Armee der Welt war dafür ausgebildet, sich in engen Gassen mit Hinterhalten oder Anschlägen auseinanderzusetzen. Jedenfalls hatten sie in Brandawik keine Strategien im Straßenkampf erlernt.
Doch würde das wohl kaum noch eine Rolle spielen, sollte die Dunkle ihr eigentliches Vorhaben umsetzen. Nur wusste davon niemand etwas, außer ihm und … verdammt, an wen hatte er gerade gedacht?
»Wusstest du, dass ich es war, die den stinkenden Söldner beauftragt hat, dein seltsames Fuchsmädchen zu entführen? Dass ich es war, welche die glorreichen Sechs dafür bezahlt hat, um dich in die Enge zu treiben und um herauszufinden, ob die Prinzessin den Wind in sich trägt? Sie alle sind tot, von deiner Hand … und meiner. Die Dunkelheit wird kommen, Kayden. Noch ist es Zeit, der Einen die Treue zu schwören.«
»Diese Arroganz wird dich bluten lassen!«, schloss Kayden und ein Bild huschte an ihm vorbei. Ein Heilmittel gegen die Finsternis. Es war zum Greifen nah, wie ein Splitter in seinen Gedanken. Er ließ frustriert den Kopf hängen, weil es ihm einfach nicht einfallen wollte. Zu viele Wolken tobten in seinen Erinnerungen.
»Wir werden sehen, Wolfshall. Das werden wir sehen.« Damit verschwand sie und die Soldaten kippten eine weitere Phiole in seine Kehle.
***
Nach Tagen, wie es ihm schien, kehrte sie zurück.
»Lasst uns allein!«, befahl Invidia den Dienern und Soldaten, die sich eiligst davonmachten. Sie schob die Laterne mit dem Fuß neben Kayden, sodass Blitze vor seinen Augen tanzten.
»Schade. Dachte, du wärst vielleicht im Schlaf verreckt«, murmelte er.
Sie kreuzte die Arme vor der Brust. »Ich hatte viel Zeit, meinen eigenen Projekten nachzugehen, während mein Bruder seine Liebhaberstücke zu sammeln begann. Ich sah mich um – im ehemaligen Turm der Winde. Wusstest du, dass er einmal vollständig zerstört wurde? Ja, und zwar von einem der Novizen, die dort das Wirken erlernen sollten. Doch die Kellergewölbe waren lediglich verschüttet. Man hatte sie zugemauert. Ich ließ sie ausräumen und fand einige alte Pergamente. Darunter die Überlegungen eines Meisters, der mit Hilfe eines magischen Symbols die übermütigen Windwirker bändigen wollte, solange sie ihr Element nicht beherrschten. Richtig! Das Symbol einer Krone.« Sie grinste, als habe sie soeben unvermutet einen Edelstein in ihrem Frühstück gefunden. Also war sie es gewesen, die Shizari verraten hatte, wie man Aira bannen konnte.
»Verpiss dich, Mädchen!«, erwiderte Kayden. »Bevor es zu spät ist!«
Sie spuckte ihm ins Gesicht. »Ich bin gespannt, ob du deine störrische Fassade aufrechterhalten kannst, sobald du in ihr Antlitz blicken wirst«, raunte sie. »Ich habe gemerkt, dass du der Gefahr mit Humor begegnest. Doch ich verspreche dir, dieser Schmerz wird dich verändern.«
»Das hat Schmerz oftmals an sich«, sagte Kayden. »Noch fließt Blut durch dein Herz und kein Wachs. Nutze den Moment und fliehe! Es ist deine Entscheidung. Denn eines verspreche ich dir, Invidia Penta: Tust du es nicht, wird nur einer von uns beiden diese Reise lebend überstehen.«
»Wollen wir dann beginnen?«, säuselte sie, schob den Umhang beiseite und holte eine dieser Silbertafeln hervor, jedoch wesentlich größer. Das stumpfe Grau schimmerte. Sie war mehr als einen Schritt hoch, dreieckig geformt und seine Peinigerin stellte das Objekt auf ein Metallgestell mit der Spitze nach unten vor ihn, sodass es auf Höhe seines Kopfes war, kaum eine Armlänge entfernt.
Ein schwarzer Punkt erschien auf der Tafel, der sich zu einem Tropfen ausdehnte. Als hätte jemand mit einer Nadel ein Loch in das Silber gestochen, quoll die unheimliche Finsternis daraus hervor, verschluckte nach und nach das Schimmern, bis es aussah, als habe man das Objekt in ölige Tinte getaucht. Die Oberfläche war unruhig, zitterte. Kayden spähte fasziniert und furchtsam in die gnadenlose Schwärze, die an ihm zog und die Glut, welche er in sich trug, zu ersticken versuchte. Die wabernde Flüssigkeit gewann an Tiefe und der Nordmann glaubte zu erkennen, wie sich Umrisse darin abzuzeichnen begannen. Konturen, die schärfer wurden, als blicke man in ein Fenster, das von einem dunklen Nebel verschleiert war. Ein ungekannter Schmerz fuhr ihm wühlend zwischen die Schläfen. Er sah sie! Shizari stand in der Mitte eines Raumes, den er nicht zuordnen konnte; zu sehr wurde dieser von der Dunkelheit verzerrt, als stürze er an den Rändern in einen Mahlstrom.
»Feuerwirker«, griff ihre Stimme nach ihm, die erschreckend kindlich und dennoch vollkommen unmenschlich klang. Sie ging auf ihn zu, nein, kam wie eine Flut, die sich um ihn schmiegte. Kayden spürte sein eigenes Herz nicht länger pochen. Sein Blick war gefangen. »Lass mich deine Gedanken sehen!« Ein Arm streckte sich aus der Finsternis. Die Finger rußig und verschmiert, als hätte sie noch eben nach Knochen gegraben. Lange, rissige Nägel, von denen Schwärze tropfte, die nicht zu Boden fiel, sondern wieder zurück in die Tafel gesogen wurde. Der Zeigefinger krümmte sich, berührte ihn an der Stirn und ein schwarzer Komet raste in Kaydens Schädel.
***
Hauchdünne Fäden schlängelten sich zwischen seine Erinnerungen, bohrten ihre Tentakel ins Gestern und Heute – schlimmer noch – in das Morgen hinein. Kayden versuchte beharrlich, das bisschen Glut, das noch in ihm schlummerte, diesem Angriff entgegenzusetzen.
»Was seht ihr, dunkle Herrin?«, hörte er Invidia flüstern.
»Eine erstaunliche Kreatur«, sagte Shizari. Und ihre Stimme spiegelte ihre Empfindung wider. »Sein Blut hat alte Adern, sehr alte. Ich habe die Erinnerungen gefangener Fjeld getrunken und war erstaunt über den Mythos der Sturmgöttin. Eine Grasläuferin und ein junger Mann … Hm, es scheint, als sei dieser Nordmann so etwas wie eine Kompassnadel für Elementarwirker. Ein Nachfahre des berühmten Ravyn.«
»Was bedeutet das, große Eine ?«, wollte Invidia wissen.
»Ravyn war ein Wellenrufer. Jedoch wurde er mit Feuer gerichtet, seine Asche verband sich mit Wind, Erde und Wasser. Ah, was sehe ich da? Ein Geheimnis … Einen Splitter aus Licht? Ist es das, wonach du suchst, junger Wolfshall? Nach einer Waffe, die mich zerstören kann? Ja, zeig mir mehr, offenbare mir deine Hoffnungen!« Kayden kämpfte, schob die Gedanken unter seine Glut, versuchte, sie zu verbergen. Doch die Schwärze wühlte weiter, war kurz davor, das letzte Glimmen zu ersticken, als die Welt zur Seite kippte.
Der Klang eines Sturms war unverkennbar. Das hohe Heulen des Windes und das zornige Wüten der Wellen. Kayden öffnete mit letzter Kraft die Augen. Invidia lag am Boden, zusammen mit den Soldaten. Die Laterne rollte wild umher und spuckte ihr Licht in alle Richtungen. Das Gestell, auf dem die Silbertafel verankert war, rutschte an ihm vorbei, schlug heftig gegen die Schamottsteine, wobei die Tafel in Stücke zerbrach und die ölige Schwärze verschwand. Von oben ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen und Kayden wusste, dass es den Hauptmast nun endgültig erwischt hatte. Lautes Rufen und Wehklagen erhob sich in dem Getöse des Sturms. Das Schiff wurde hin und her geworfen, als habe der Wind einen Wutanfall. Planken splitterten, Invidia zog sich an seinen Ketten auf die Beine und schrie ihn an. Er aber lachte, denn er wusste, wem dieser Wind gehörte.
Nirahel!
***
Die Stille nach einem Unwetter war oftmals lauter als alles davor. Kayden spürte, dass sie vor Anker gegangen waren und da er auch die Brandung vernahm, hatte der Kapitän sie in seichte Gewässer gebracht. Doch auch dieses Mal wurden keine Reparaturen durchgeführt. Der Hauptmast war verloren und hatte dabei sicher einigen Schaden hinterlassen. Es sollte Kayden nicht wundern, wenn ihre kleine Seereise hier ihr Ende gefunden hatte. Von einem Niedergang hörte er die mittlerweile bis zum Reißen gespannte Stimme Invidias: »Der Gefangene bleibt auf dem Schiff! Ich will Soldaten am Strand, die uns von der Landseite aus schützen. Ich werde die Eine kontaktieren. Sie wird bestimmt ihre fliegenden Ungeheuer schicken, die uns von hier fortbringen werden. Der Nordmann muss in ihren Besitz gelangen. Unter allen Umständen. Versammelt die restlichen Männer mittschiffs und auf dem Achterdeck! Ich glaube zwar nicht, dass sich jemand von See her nähern könnte, aber ich mag keine Überraschungen. Gebt an alle Armbrustbolzen mit Nachtwolke aus! Dieser Sturm kam aus dem Nichts und verschwand ebenso schnell. Haltet die Augen offen, Hauptmann! Errichtet Barrikaden! Entzündet so wenige Laternen wie möglich, verstanden? Auf dem Schiff löscht sie ganz.«
Auf dem gesamten Segler hallten Befehle und Beiboote wurden zu Wasser gelassen. Winden quietschten, Männer brüllten vor Anstrengung, bis ein lautes Platschen zu hören war. Offenbar hatte die Mannschaft den Rest des Mastes über Bord gehievt. Kayden starrte auf seine eingemauerten Hände und Stiefel, diese dicken Klumpen aus Stein, und überlegte fieberhaft, wie er sie loswerden konnte. Wenn eine Flucht möglich wäre, dann war jetzt der beste Zeitpunkt dafür. Doch sein Geist verlor allzu oft die Richtung, verirrte sich und er sah Bruchstücke von Bildern, die aus einem anderen Leben zu ihm kamen. Die Verbindung, welche Shizari aufgebaut hatte, erlaubte auch ihm einen Blick in ihr Innerstes. Aber es fiel ihm schwer, diese kryptischen Botschaften überhaupt zu verstehen.
Seinen Muskeln hingegen vertraute der Nordmann. Er hatte in Brandawik Wanderungen machen müssen, die allein auf das Überleben abgezielt hatten. Ohne Proviant oder Wasser hatten die Ausbilder sie durch die Berge geschickt. Tagelang waren sie auf sich allein gestellt gewesen, Moos und Flechten essend und nur mit geschmolzenem Schnee als Wasserquelle. Nein, wenn er diese Ketten los war, dann …
»Denkst du etwa über Flucht nach, Wolfshall?« Invidia kam herein und hängte die Laterne an einen Haken.
»Ich überlege nur, wen von euch ich als Erstes töten werde, sobald ich frei bin.« Er zwinkerte ihr zu.
»Eines muss ich dir lassen. Du bist zäh.« Sie zog eine weitere Phiole aus ihrem Mantel. Doch ich denke, dass dein Verstand bald selbst eine Wolke sein wird, die durch die Nacht irrt.« Sie winkte einen der Soldaten heran, der Kayden zwang, den Kopf in den Nacken zu legen. Invidia zog den Stopfen heraus, hob die Phiole an und einen Wimpernschlag später brach etwas krachend durch die Decks. Als sei das Schiff in zwei Hälften gespalten worden, kippte das Heck nach innen und unten. Die Steine, mit denen die Wände verkleidet waren, flogen wie Geschosse umher. Die Planken dahinter zersplitterten und hinterließen gewaltige Risse, durch die sofort Wasser eindrang. Der Soldat, der Kayden gepackt hielt, wurde zur Seite geworfen und von Dutzenden Splittern durchbohrt. Der andere wurde von einem Stein am Helm getroffen. Invidia prallte gegen Kayden, stieß sich ab und landete unsanft auf dem Hintern, Panik in den Augen. »Der verfluchte Gargoyle meines Bruders!«, spuckte sie aus. Auf dem Oberdeck wurde geschrien, was die Lungen hergaben. Was auch immer das Schiff getroffen hatte, es hatte dieses wie ein Katapultgeschoss durchschlagen und versenkte es nun. Kaydens Kerkermeisterin stolperte auf ihn zu, als plötzlich sämtliches Gestein in dem Raum sich in Staub verwandelte und wie durch Magie in die Tiefe gesogen wurde. Einen Moment sah Invidia fassungslos dabei zu, wie sich Kaydens ebenfalls steinerne Ketten auflösten, während er bereits heftig an diesen zerrte. Schließlich zwängte sie sich durch einen Riss und schaffte es nach draußen. Endlich frei, setzte der Nordmann Invidia nach und fiel mehr, als dass er sprang, während der riesige Leib eines Gargoyles auch den kümmerlichen Rest des Decks zerfetzte.
Eisiges Wasser schlug über ihm zusammen. Das Ächzen und Stöhnen des sinkenden Schiffes im Rücken, paddelte Kayden voran. Schnee taumelte in dichten Flocken aus der dunklen Nacht. Invidia hatte einen Vorsprung und baute ihn weiter aus. Er musste sie einholen, bevor sie der dunklen Zauberin eine Nachricht senden konnte. Mit aller Kraft, die er noch besaß, kämpfte er sich dem Ufer entgegen, getragen von einer rasenden Wut. Ein hell glühender Feuerball fiel vom Himmel, landete hinter ihm und setzte das in Brand, was noch aus dem Wasser ragte, samt all jener, die von Bord gesprungen waren.
Ein orangerotes Flackern überzog die Wellen und der Nordmann musste erkennen, dass seine Peinigerin bald den Strand erreicht hatte. Mühsam stemmte er sich gegen die rückläufige Strömung. Das Biest konnte besser schwimmen als geahnt. Invidia erhob sich bereits, blickte sich zu ihm um und forcierte ihre Bemühungen, als sie begriff, dass er ihr auf den Fersen war.
Der Schein des brennenden Schiffes reichte bis zu den Bäumen, welche den Strand säumten. Schatten huschten zwischen den Stämmen umher und er glaubte einen Moment zu halluzinieren, als zwei Soldaten durch die Szenerie flogen, mit den Armen rudernd und wie von einer Böe davongetragen, bis sie in der Dunkelheit verschwanden.
Endlich hatte auch er Grund unter den Füßen und brennender Zorn trieb ihn voran. Mit weiten Schritten übersprang er Felsen, holte auf.
Hinter einer notdürftigen Barrikade kamen weitere Soldaten aus der Deckung, zielten mit Armbrüsten auf ihn und in den Wald. Kayden sah nicht, was genau geschah, aber von einer Sekunde zur anderen versanken die Männer bis zu den Hälsen im Sand, einige sogar ganz. Doch Invidia hatte es geschafft, überquerte den Strand und rief eilig die verbliebenen Soldaten zu sich, damit sie Kayden den Weg abschnitten, während sie weiter Richtung Wald lief.
Die vier Männer in ihren schweren Rüstungen nahmen Aufstellung und mit einem Mal senkte sich eine riesige Wasserkugel über sie, die sich nur Augenblicke zuvor aus der Brandung erhoben hatte. Vollkommen überrascht ließen die Soldaten ihre Waffen fallen, strampelten ungelenk in der Blase umher, versuchten hinauszukommen, traten um sich, bis sie auf den Boden sanken, leblos und ertrunken. Kayden rannte weiter, passierte die ersten Bäume. Hier empfing ihn die Dunkelheit, in die kaum mehr als ein schwacher Schimmer des brennenden Schiffes drang. Er schloss die Augen, horchte nach den fliehenden Schritten, die auf dem gefallenen Schnee knarzten und folgte ihnen. Er setzte über einen toten Baumstamm, rannte, rutschte aus, stürzte, kam wieder hoch und ein harter Tritt gegen die Brust presste ihm die Luft aus den Lungen. Keuchend ging Kayden zu Boden. Invidias Schatten glitt auf ihn zu. In ihrer Hand glitzerte ein langer, gewundener Dolch.
»Manche Menschen wurden dafür geboren, um zu sterben … Ahh!« Der Rest des Satzes verkam zu einem überraschten Schrei. Sie hob ab und wurde nach vorn geworfen. Kayden duckte sich. Ein ekelhaftes Geräusch erklang, dann ein langer Seufzer, schließlich Stille.
»Niemand tut ihm weh, Miststück!«, sprach eine piepsige Stimme. Der Nordmann hob den Kopf. Ein dürres Kind stand vor ihm, das weiße Kleidchen schmuddelig und zerfranst am Saum. Ihre Haut war lilafarben und sie strahlte ihn an, als wollte sie ihm gleich in die Arme springen. Er wandte sich um und erblickte Invidias Leib, der schlaff über dem Baumstumpf hing, aufgespießt von einem Ast, welcher blutig aus ihrem Rücken ragte. Kayden schaute zurück zu dem Kind, aus dessen Ohren jetzt violettes Fell spross. Auch sie schaute auf die Tote.
»Das war ich, oder?«
Der Nordmann nickte langsam.
»Ich habe das nicht gewollt. Aber ich musste dich doch beschützen«, fügte sie kleinlaut hinzu und versuchte erneut ein zaghaftes Lächeln. »So wie du mich immer beschützt hast.«
Er starrte sie an und das Mädchen wich ein Stück vor ihm zurück.
»Du bist Kayden«, bekräftigte sie schüchtern. »Kayden Wolfshall.«
»Ich weiß, wer ich bin. Aber, beim gebrochenen Stab des Wanderers , dich habe ich noch nie gesehen!«