– Kapitel 27 –
KAYDEN
Er reiste mit einer Bande von Verrückten! Doch viel schlimmer war, dass sein Gedächtnis in unzählige Scherben zerbrochen war, deren Teile ihm die Gedanken aufschürften. Seine Kindheit war ihm so bewusst wie seine Hand oder sein Herzschlag. Der Rest jedoch war wie ein Stein in einem Teich versunken, dessen Ort er nicht einmal kannte.
Ein Drache sprach in seinem Kopf, ein Fuchsmädchen – oder was auch immer dieses wunderliche Kind war – schaute ihn an, als wollte es ganz dringend auf den Arm genommen werden. Dazu eine Numar, die offensichtlich etwas gegen ein anständiges Hemd hatte. Dann eine junge dunkelhaarige Frau, die ihn immer wieder aus den Augenwinkeln musterte, als wollte sie sich für ziemlich viele Dinge entschuldigen. Und zum Schluss – Aira Felsenfaust. Sie benahm sich, als hätte sie etwas verloren, das niemand zu ersetzen vermochte. Gelegentlich schaute sie ihn an, mit wundervollen Augen aus Blau und Grau, wie suchend, nur um dann enttäuscht und frustriert den Blick abzuwenden.
Er ging am Ende, denn diese Versammlung merkwürdiger Gestalten hatte etwas Verzweifeltes. Einige Schritte vor ihm fuchtelte die Numar mit den Händen herum und knurrte: »Ich Löwe sollen reiten? Vielleicht er sich erinnern
daran
.«
Die Prinzessin, die neben ihr ging, brauste erbost auf, als wollte sie die Wolken vom Himmel fegen. »Du … bei den Göttern! Ich kann nicht glauben, was du da … Das ist … Hat denn hier jetzt jeder seinen Verstand verloren?« Sie beschleunigte ihre Schritte, bis sie weit vor der Gruppe war.
Kayden neigte den Kopf leicht zur Seite. Eines musste man dieser Aira lassen, sie hatte ein verdammt schnittiges Heck. »Du auch machen können!«, rief Waris ihr nach. »Er guter Ritt, Sturmblut!«
Dem Wortwechsel nach zu urteilen, hatte Kayden hier nicht nur pure
Verzweiflung an der Backe, sondern auch einige Frauen, die kurz vor dem Nervenzusammenbruch standen. Hätte er sich erinnern können, wäre ihm das sicher peinlich gewesen, aber so hatte es etwas von einem interessanten Theaterstück, dessen Wendungen ihn faszinierten. Auch wenn er wusste, dass er der Mittelpunkt dieses Stücks war, für das niemand eine Lösung fand.
Die junge Frau namens Nephele ließ sich zurückfallen und wanderte bald neben ihm. Er nickte ihr freundlich zu.
»Es tut mir leid«, sagte sie zerknirscht und stieß Sand mit der Fußspitze von sich.
Kayden mochte sie – aus welchen Gründen auch immer. Er schaute die beiden magischen Wesen an. Die Schwingen des Drachen schimmerten, berührten etwas in ihm. Doch bevor er es begreifen konnte, verschwand das Gefühl ebenso schnell, wie es entstanden war. Immerhin hatte er eine Schuppe in der Schulter stecken. Und er wusste nicht einmal, wie er sie bekommen hatte. Mit dem wolfsähnlichen Gargoyle konnte er genauso wenig anfangen, aber dafür war er ziemlich beeindruckend, als hätte ein Künstler ihn erschaffen.
»Ich sehe das praktisch«, gab er zurück. »Was immer du angestellt hast, ich weiß es nicht mehr. Also mach dir keine Sorgen!«
Die junge Wirkerin schaute ihn lange an und schüttelte sorgenvoll den Kopf. »Es ist erstaunlich, dass du überhaupt noch deinen eigenen Namen weißt. Eine Berührung der Dunklen hat meist grauenhafte Folgen. Hast du Träume von ihr?«
Kayden rieb sich den Bart. »Ehrlich gesagt träume ich gar nicht mehr. Es ist einfach, na ja, dunkel und still, wenn ich die Augen schließe. Es fühlt sich an, als habe sich etwas in mir zurückgezogen. Es fällt mir schwer, dieses Gefühl zu beschreiben. Als würde da noch ein anderer Kayden sein, der dringend Ruhe braucht.« Ja, so ungefähr fühlte es sich an. Er musste nicht in allem einen Sinn sehen, das war nicht seine Natur. Manchmal schickte einen der
Wanderer
auf eine Reise, so war das nun einmal mit diesem verfluchten Kerl. Und meist lohnte es nicht, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Man tat einfach, was getan werden musste. Das war der beste Plan, den man in der Hand haben konnte.
***
»Ich verstehe
nicht, was diese Erweckung soll.«
Du bist schon immer stur gewesen. Meine Mutter hat dich einst mit ihrer Schuppe gezeichnet. Du bist ein Feuerwirker, aber du hast nie wirklich nach der Gabe in dir gesucht, dickschädeliger Nordmann.
»Ich weiß ja nicht. Ich sehe mich mehr als Mann der See. Schiffsplanken und salzige Wogen.«
Kasai schaute zu den wenigen Sternen auf, die zwischen den ziehenden Wolken auszumachen waren.
Vermutlich mag dich die kleine Wasserwirkerin deshalb. Eigentlich hütet sich das Feuer vor dem Wasser. Doch darum geht es jetzt nicht. Du musst dein Element erwecken, Kayden! Denn eines ist gewiss: Wenn du deine natürliche Gabe vergraben lässt, dann wird auch der Feuersplitter nicht nach dir rufen. Und dann können wir uns auch gleich in Shizaris schwarzen Abgrund werfen.
Der Nordmann griff sich hilflos an die Schläfen. »Da drinnen ist alles durcheinander, Kasai. Ich erinnere mich nicht daran, was geschehen ist, aber ich denke, meine Seele will mich vor etwas schützen. Jetzt danach zu buddeln, erscheint mir riskant.«
Wir haben jedoch keine Zeit, bis deine Erinnerungen sich irgendwann wieder aus ihrem Schneckenhaus trauen. Gehe in dich, Kayden! Versuche, das Licht darin zu finden. Suche danach! Denn eines kann ich dir sagen: Du magst ein sturer Kerl sein, aber mutlos warst du nie. Auch mit dem Aufgeben hattest du Schwierigkeiten, um nicht zu sagen, du kennst das Wort nicht einmal. Du tust, was getan werden muss. Und ich sage dir, es ist wichtig, dass du dein Feuer erweckst. Also tu es!
Er blickte dem Drachen nach, der sich in den Himmel erhob, um die Gegend nach möglichen Gefahren abzusuchen. Kayden setzte sich in den Sand und schnaufte frustriert.
»Ich will meinen Kayden zurück«, sagte eine piepsige Stimme. Das kleine Fuchsmädchen stand einige Schritte entfernt. Ihr Kleid bewegte sich leicht im Wind, sodass sie wie eine Erscheinung wirkte. Ein Geist, der aus der Vergangenheit gekommen war.
»Das wünschen sich alle. Jeder hier sieht mich an, als wollte er mir dringend etwas sagen. Etwas, das fürchterlich wichtig ist. Fühlt sich nicht gut an, das kann ich dir sagen. Im Gegenteil.«
Das Kind kam näher, blieb aber auf Abstand. »Du bist derjenige, der all das hier überhaupt möglich gemacht hat. Ohne dich wären wir längst
verloren.« Ihr Tonfall bekam einen anderen Klang, als würden die Silben glänzen. »Ich war es, die dich gefunden hat«, sagte sie und setzte sich ebenfalls, die dürren Beine im Schneidersitz. »Oft war ich unterwegs, habe mich unter die Menschen geschlichen, wenn
sie
geschlafen haben. Obwohl sie es mir verboten hatte.«
»Sie?«, fragte Kayden.
»Meridiem. Aber ich tat es dennoch. So hörte ich von dem
Löwen, der mit einer Schlange kämpfte
. Ich wusste sofort, dass du anders bist. Viele Menschen sind nicht gut, Kayden. Sie denken nur an sich und wie sie noch mehr bekommen können. Sie leben vor sich hin, ohne zu fragen, wieso sie auf dieser Welt sind. Du hast das jeden Tag getan. Du bist ein Suchender – ein Mann, der sich nie damit zufrieden gab, dass die Dinge so sind, wie sie eben sind. Das hat mich beeindruckt. Und wenn Kayden Wolfshall sich für eine Sache entschieden hatte, dann mit dem ganzen Herzen und bis zum bitteren Ende, wenn das nötig war. Du bist ein wundervoller Freund, ein furchteinflößender Gegner und hast das ehrlichste Herz, das ich kenne.«
»Stell mir diesen Kerl unbedingt mal vor«, lachte Kayden. »Ich würde zu gern einen Krug Schattenbier mit ihm trinken.«
Das Mädchen erhob sich, verwandelte sich in den lilafarbenen Fuchs und schaute ihn lange an. »Wir beide haben noch etwas zu erledigen, wenn es so weit ist. Und genau dafür habe ich dich auserwählt. Weil du das Herz dafür hast.« Mit diesen Worten verschwand sie in der Nacht und ließ den Nordmann mit noch mehr Fragen zurück. Vielleicht sollte er sich damit abfinden, dass etwas geschehen war, und versuchen, es einfach als das anzunehmen, was es war. Eine außergewöhnliche Reise.
***
Sie wanderten weiter Richtung Norden. Waris erzählte ihnen, die Wüste der verlorenen Tränen verwandelte einem normalerweise die Füße in glühende Kohlestücke. Jetzt aber sei Winter und nun könne man laufen und die Schönheit der Landschaft genießen, ohne diesen grässlichen Schnee. Kayden hatte nichts gegen Schnee, aber die endlose Weite und stille Erhabenheit der Wüste hatte eine beinahe beruhigende Wirkung auf ihn. Waren sie einige Tage lang noch mühsam über Dünen geschritten, so waren diese seit dem Morgen allmählich verschwunden
und raues Gestein löste den Sand ab. Da die Wolken immer wieder Flocken ausspuckten, hatten sie zumindest Wasser in Hülle und Fülle. Doch der Untergrund war zu warm, als dass der Schnee liegen geblieben wäre.
Kayden hatte sich wieder an das Ende ihres Zuges verzogen. Er brauchte etwas Zeit für sich und wich vor allem dem Kontakt mit Aira aus, denn es war kaum zu ertragen, sie anzusehen, mit ihr zu reden und dabei einen unfassbaren Sog zu empfinden, dessen Quelle er nicht nachvollziehen konnte. Der neugierige Teil in ihm wollte gerne mehr erfahren und ihre Nähe suchen, aber Kayden befürchtete, es könnte schmerzhaft für sie beide sein. Und im Augenblick wollte er diese Erfahrung vermeiden. Auch die anderen hielt er auf Abstand und vorerst ließen sie ihn in Ruhe und bedrängten ihn nicht, allen voran Waris. Die Numar hatte eine herrliche Art, die Dinge auf den Punkt zu bringen. »Löwe eine Zeit allein gehen. Herz wiederfinden.« Damit war die Sache ausdiskutiert.
Die Wüste wurde zusehends zu einer fantastischen Landschaft. Rotbeiges Gestein, turmhohe Felsformationen, die von Wind und Wetter in bizarre Gebilde verwandelt worden waren. Sie liefen unter gigantischen Felsbögen hindurch, passierten gewölbte Klippen, die aus Dutzenden Schichten zu bestehen schienen und wie stumme, unvollendete Statuen dastanden. Als hätte ein göttlicher Steinmetz Jahrtausende lang an einer verrückten Vision gearbeitet, um das größte Kunstwerk aller Zeiten zu erschaffen.
Ein Steinchen traf seine Brust und holte ihn aus einem traumlosen Schlaf. In einiger Entfernung stand Nephele und schaute misstrauisch auf den Drachenleib, der hinter Kayden von einem Felsen kaum zu unterscheiden war.
»Ich weiß, ich wollte ein wenig für mich sein, aber wieso hält jeder Abstand, wenn er mit mir reden will? Mein Gedächtnis ist ein wenig vom Kurs abgekommen. Ich bin kein verschlagener Irrer. Oder ist es, weil die Dunkle mich berührt hat?«
»Ich denke, sie tun das aus Respekt. Und was mich betrifft … Der Drache macht mir ein wenig Angst. Zu viel Feuer für jemanden wie mich.« Sie trat zu ihm und setzte sich auf einen Felsbrocken. »Ich muss dir etwas sagen.«
Na, dann mal los
, lud Kayden sie mit einer Geste ein. Sie schien nach
den richtigen Worten zu suchen, gab es dann aber auf.
»Etwas ruft nach mir. Es ist ein ganz seltsames Gefühl. Nicht so wie bei den Träumen, wenn Shizari darin erscheint, sondern … Es verursacht ein wohliges Kribbeln – wie früher, als ich schwimmen gelernt habe.«
»Dann spürst du womöglich den Wassersplitter«, überlegte Kayden. »Dein ureigenes Element merkt, dass du in der Nähe bist. Aber mitten in einer Wüste? Hast du Waris schon davon berichtet?«
Nephele rutschte unruhig auf dem Felsen herum. »Nein. Ich kenne diese Menschen eigentlich gar nicht. Und sie trauen mir nicht, besonders Aira. Du hingegen schon. Du hast die ganze Zeit daran geglaubt, dass ich das Richtige tun kann, wenn ich nur den Mut dafür aufbringe. Du hättest mich töten können. Stattdessen warst du der Einzige, der mich wie eine Freundin behandelt hat ... trotz meiner Fehler.«
Er wusste nicht, ob er sich geschmeichelt fühlen sollte, denn er kannte den Grund für ihr Vertrauen nicht. Dennoch behagte es ihm nicht, dass Waris nichts von dieser Sache wusste. Die Numar mochte ein wenig eigen sein, aber sie war zielstrebig und hatte hier eine Art Führungsposition in der Gruppe. Der Soldat in Kayden konnte das nicht einfach ignorieren.
»Du sagst, der Splitter ruft nach dir. Hast du eine Ahnung, wo er sich befindet?«, wollte er wissen.
»Ich weiß, in welche Richtung wir gehen müssen.«
»Mhm, das ist ziemlich vage. Zudem würde ich ungern mitten in der Nacht durch die Wüste laufen. Wir nehmen Kasai mit, wenn das für dich in Ordnung geht. Den anderen können wir es auch später erklären.«
Sie blickte abwechselnd ihn und den Drachen an. Schließlich nickte sie.
***
Seit fast einer Stunde waren sie unterwegs. Kasai flog niedrig, soweit die Landschaft es zuließ. Nephele saß hinter ihm und tippte jeweils auf seine linke oder rechte Schulter, sobald sie glaubte, dass der magische Ruf aus dieser Richtung kam. In der Ferne konnte Kayden die Umrisse eines großen Bergmassivs ausmachen, doch er entdeckte weder einen Fluss noch einen See, in dem sich der Splitter hätte befinden können. Er hoffte inständig, dass die junge Wirkerin sich nicht irrte. Dann aber wurde es
hinter ihm unruhig. Aufgeregt klopfte Nephele ihm auf den Arm und rief, dass sie landen sollten.
Hohe Felsklippen ragten unter ihnen auf wie ein steinerner Wald ohne Wipfel. Es war schwierig, darin eine genügend große Lichtung zu finden, aber nach einer Weile landete Kasai und legte die Flügel an. Sie stiegen ab. Kayden nahm Grummlers Pilzlaterne aus dem Seesack und schnallte sich das Schwert um. Es roch nach Sandstaub und der Wind wisperte, wenn er sich in den Klippen verfing. Nephele sah sich um und der Nordmann konnte sich nicht vorstellen, dass hier eine Wasserquelle sein sollte.
»Bist du dir sicher, dass der Ruf von hier kommt?« Er spähte durch die gewaltigen Steinriesen, deren Schatten bis in den Himmel griffen.
»Es ist hier!«, erwiderte sie und starrte auf den Boden, der übersät war mit kleinen Wellen aus Sand. »Unter uns!«
»Na ja, vielleicht gibt es eine unterirdische Kammer oder einen Tunnel. Nur, wie wollen wir ihn finden?«
Nephele schien zwischen Verlegenheit und Trotz zu schwanken. Aber selbst sie musste einsehen, dass ihre Gabe zwar das Wasser zu finden vermochte, es jedoch schwierig zu erreichen war, wenn das Element durch Tonnen von Gestein verborgen lag.
»Das ist nicht fair!«, knurrte sie und ließ sich auf die Knie sinken.
»Vielleicht sollten wir Waris eine Nachricht schicken«, meinte Kayden. »Da kommt man wahrscheinlich nur mit Erdmagie durch.«
»Nein!«, wimmerte Nephele. »Jeder Elementarwirker wird von seinem Splitter gerufen und kann ihn auch finden. Es braucht keine zweite Magie, die einem die Tür aufmacht. Das jedenfalls hat Waris behauptet. Es muss also einen Weg nach unten geben.« Sie strich mit der Hand über die Sandwellen. Kayden fühlte mit ihr, hockte sich neben sie und legte eine Hand auf ihre Schulter, die unwillkürlich zu zucken begann.
»Mein ganzes Leben habe ich gekämpft. Jeden einzelnen Tag. Ich musste meinen Vater begraben, weil meine Mutter den Schmerz nicht ertrug. Ich musste meine Familie ernähren, weil niemand sonst es tat. Und dann nahm Shizari mir all das weg, weil ich eine Gabe besaß. So viele Tage in einsamer Dunkelheit!« Sie begann zu schluchzen und Kayden glaubte, dass diese Tränen direkt vom Grund ihrer Seele zu kommen schienen. Er hatte Mitleid mit der jungen Frau und doch konnte
er nichts tun, außer neben ihr zu sitzen und da zu sein. Nephele krümmte sich zusammen, den Kopf auf die Erde gepresst, die Hände umklammerten den Sand. »So viel Leid und Tod. Ich ertrage das nicht länger. Und die
Eine
will einfach nicht aus meinen Gedanken verschwinden!« Hemmungslos weinte sie, als wollte sie niemals wieder etwas anderes tun, als hier zu kauern.
Der Nordmann bemerkte es zuerst. Die Erde unter ihnen bewegte sich, gab ein knirschendes Schaben von sich, als stöhne Mutter Erde über die Tränen, die sie benetzten. Dann ein Knall und Kayden riss die junge Frau hoch und taumelte mit ihr hinter einen Felsen. Staub wallte empor und hing wie Nebel über der Stelle, an der Nephele soeben noch ihre Tränen vergossen hatte. Sie traten an den dunklen Spalt heran, der dort aus dem Nichts entstanden war. Kayden beugte sich vor und staunte nicht schlecht, als er in die Tiefe blickte, in der sich tatsächlich Stufen in der Dunkelheit verloren. »Bei Nirahels Atem. Es scheint, als habe Mutter Erde dich erhört!«
Auch die junge Wirkerin traute sich jetzt zu ihm, wischte sich mit dem Ärmel über das nasse Gesicht. »Ich rieche Wasser. Ich spüre es! Dort unten wartet es auf mich!«
»Nun, das ist dein Weg, nicht meiner, Nephele«, sagte Kayden und gab ihr das Glas mit dem Leuchtpilz.
»Bitte, begleite mich!«, bat sie. Der Nordmann schaute Kasai fragend an, der lediglich mit einer Schwinge zuckte.
»Ich hasse Höhlen«, brummte Kayden und stieg in die Finsternis.
***
Es ging tief hinab. Die Stufen waren grob, aber sie boten dennoch genug Halt. Das grünliche Licht waberte an den Schachtwänden und wies nur wenige Schritte voraus. Dahinter ein schwarzes Rechteck, das noch weiter in den Bauch der Erde wies.
Nach einiger Zeit begannen Kaydens Schritte einen Hall zu bekommen und dann traten sie in eine Kaverne, deren Ausmaße sich allmählich aus der schummrigen Dunkelheit erhoben, denn ihre Wände waren hell wie Kalk. Der Geruch war intensiv, klar und feucht. Dann endlich erkannten sie einen See, der wie in einer monumentalen Schale dalag, ruhig und unbewegt. Kein Lufthauch regte sich. Doch es bildeten sich Tropfen an
der niedrigen Decke, die still in den See fielen. Kayden fing einen davon auf und leckte ihn ab. »Die Wüste hat tatsächlich ein zweites Gesicht«, flüsterte er und die Worte schwebten durch die Kaverne.
Nephele schloss zu ihm auf. »Es schmeckt salzig. Wie Tränen.«
»Mehr noch, ich denke, allein deshalb hat der Spalt sich dir geöffnet. Weil deine Seele geweint hat«, erklärte Kayden weiter. Nephele blickte ihn ungläubig an.
»Das ist wie ein Wunder«, sagte sie leise. »Ich kann es spüren, als würde es durch meine Adern fließen. Kühl und schwer. Noch nie habe ich so empfunden, wenn es um meine Gabe ging. Es ist das erste Mal, dass es ein friedliches Gefühl ist, wie … heimkommen.« Sie ging auf das Wasser zu und es teilte sich vor ihr, wölbte sich zu den Seiten, bis sie unter der Oberfläche verschwand und der See sich über ihr schloss wie eine Decke.
Kayden verlor jedes Zeitgefühl. Es schien ewig zu dauern, bis die junge Frau wieder auftauchte, ans Ufer stieg, ihre Hände, die etwas umschlossen hielten, an die Brust gedrückt. Sie blieb vor ihm stehen, schaute auf ihre Finger, die ein wenig zitterten. Eine neue Träne löste sich und rollte die Wange hinab.
»Wirst du mich vor ihr beschützen?«, fragte sie und blickte auf.
Kayden wusste, wen sie damit meinte. »Ich werde es versuchen, das verspreche ich. Mit meinem Leben.«
»Etwas in mir will damit fortlaufen und es
ihr
schenken. Ich ... ich sollte es nicht in meiner Nähe haben, Nordmann.« Sie streckte ihm ihre Hände entgegen.
»Es ist deine Entscheidung, Nephele«, sagte Kayden.
»Bitte, gib darauf acht und auch auf mich. Du hast es versprochen.« Sie ließ den Splitter in seine Hand sinken und ein Hauch von Schmerz und Wehmut huschte über ihre blassen Züge. Und ganz am Rande ihres Blickes flammte kurz etwas anderes auf – Gier.