– Kapitel 28 –
AIRA
Aira kam sich vor wie eine jener Dachschwalben, die sie früher tagelang durch das Fenster ihres Turms in Noskiris beobachtet hatte. Sie waren beständig auf dem First hin- und hergelaufen, auf und ab, ohne ihre dürren Beine stillhalten zu können. Worauf auch immer diese dummen Vögel gewartet hatten – Aira suchte mit derselben Inbrunst den Himmel nach Kayden ab, der einfach so, ohne jegliche Nachricht, mit Kasai und Nephele davongeflogen war. Klecks glaubte, er hätte einen guten Grund für sein Verschwinden und würde schon bald zu ihnen zurückkehren. Die Prinzessin jedoch zweifelte daran. Wer konnte schon wissen, was für Gedanken in einem Kopf herumschwirrten, der seiner Erinnerungen beraubt war. Womöglich war Kayden seiner komplizierten Reisegefährten einfach überdrüssig geworden oder Nephele führte ihn unter einem Vorwand direkt in Shizaris Arme – der Wasserwirkerin war alles zuzutrauen!
Dann jedoch stellte sich heraus, dass nichts davon der Fall war. Die Sonne stand gerade erst eine Handbreit über dem Horizont, als Kasais mächtiger und dennoch so graziler Leib zwischen den Wolken auftauchte.
»Ich war selten so froh, den schuppigen Angeber von einem Drachen wiederzusehen«, brummte Kiesel, der neben sie getreten war.
Aira brachte keine Antwort hervor. Ihr Hals war wie zugeschnürt und das änderte sich auch nicht, nachdem Kasai auf der nächstgelegenen Düne gelandet war und seine Reiter absteigen ließ. Da war etwas Irritierendes in Kaydens Miene, während er auf sie zu kam. Es konnte Triumph oder Sorge sein, in jedem Fall erschien er angespannt.
»Ihr sammelt diese Steine?«, fragte er und streckte ihr seine Hand entgegen. Zu Airas größter Überraschung lag ein Lichtsplitter darin. Er war türkisgrün wie das Meer in einer stillen Lagune.
»Ist das …?« Ihr Blick traf den von Nephele. Die Wasserwirkerin stand
mit hängenden Armen und ausdruckslosen Augen da. Es wirkte beinahe so, als versuchte sie ganz bewusst, ihren Lichtsplitter nicht anzusehen.
»Der Wassersplitter, genau«, sagte Kayden. »Vielleicht steckt Ihr ihn in Euer Medaillon, ehe er durch ein Loch aus irgendeinem Beutel fällt oder sonst wie verschwindet.« Bei seinen letzten Worten zuckte auch sein Blick zu Nephele hinüber.
Schnell holte Aira ihr Amulett hervor und betätigte den versteckten Mechanismus. Die anderen beiden Steine gaben ein kaum wahrnehmbares Pulsieren von sich, während sie Kayden das Schmuckstück hinhielt und dieser den dritten Splitter einsetzte. »Drei von vier«, murmelte er und wirkte dabei wie jemand, der nun endgültig begriffen hatte, dass alles weitere von ihm abhing: Leben oder Sterben, Licht oder Dunkelheit.
Aira legte ihre Hand auf seine. »Ihr werdet es schaffen! So wie Ihr immer alles schafft.«
Er zog seine Hand zurück, als hätte die Berührung seine Haut verbrannt. »Wir müssen weiter!«, brummte er.
Ja, das mussten sie wohl. Eigentlich hätte Aira nun so etwas wie Hoffnung spüren müssen. Ganz zufällig hatten die Götter sie durch diese Wüste geschickt – oder vielleicht war es gar kein Zufall gewesen? Noch sehr genau erinnerte sie sich an den Moment im Wald, als Nephele etwas zu ihrer Marschrichtung hatte sagen wollen, dann aber den Mund wieder geschlossen hatte, nachdem Waris die Wüste erwähnt hatte. Womöglich hatte der Lichtsplitter die ganze Zeit nach ihr gerufen, sie aber hatte kein Wort darüber verloren.
Trotz all dem wollte sich einfach keine Zuversicht in Airas Gemüt einstellen. Kaydens Unsicherheit war nur eines von vielen Themen, die sie belasteten. Weiterhin wussten sie nicht, mit welchen magischen Gegenständen sie den Rest der Karte sichtbar machen konnten, die sie zu den tausend Säulen führen würde. Und Waris hörte nicht auf, sich ständig nach Verfolgern umzudrehen. Dazu kamen die Flugmonster, die am Himmel ihre Kreise drehten. Erst heute Morgen waren sie ihnen erneut ganz nahegekommen. Glücklicherweise gaben die zahlreichen skurrilen Steinbögen und Felsformationen in direkter Nähe eine hervorragende Deckung ab.
Sie wanderten weiter Richtung Norden und, wie so meist, ließ Kayden sich dabei ans Ende der Gruppe zurückfallen. Waris ging voraus, lautlos
und aufmerksam wie immer. Die Numar achtete darauf, sich stets im Schatten der Felsen zu bewegen und Aira verwischte die Spuren ihrer Gruppe durch eine sanfte Brise, die hinter ihnen her wehte. Dennoch blieb Waris irgendwann stehen und blickte zurück. Ein leises Zischen kam über ihre Lippen. »Die Wüste auch Augen hat!«
»Hast du jemanden gesehen?«, erkundigte Aira sich besorgt.
»Nein. Aber Gefühl sagen: Jemand
uns
sieht!«
»Wäre es nicht besser, wenn wir den Rest des Weges fliegen würden?«
Waris schüttelte den Kopf. »Verfolger greift nicht an. Vielleicht allein oder schwach. Flugmonster viel gefährlicher. Und Königreich Numar ist nah. Ich kann riechen seine Erde.«
Sie sollte recht behalten. Am späten Nachmittag wurde der Boden unter ihren Füßen fester und erste Grasflecken wuchsen darauf. Aira zog ihren Umhang vor der Brust zusammen, weil der Winter mit unverkennbarer Penetranz zurückkehrte, und schließlich landete eine große Schneeflocke auf ihrer Nasenspitze.
In einigem Abstand von einer steil abfallenden Felskante blieb Waris stehen und wartete, bis auch Kayden und Nephele zu ihnen aufgeschlossen hatten. Dann deutete sie auf die Schlucht, welche sich wie der Hieb einer riesigen Axt durch die Landschaft zog und weder im Osten noch im Westen ein Ende zu finden schien. Lediglich eine schmale Treppe führte dort hinunter. Bei diesem Anblick wurde Aira klar, weshalb das Land der Numar noch niemals eingenommen oder überhaupt angegriffen worden war: Berittene Soldaten konnten diese Schlucht überhaupt nicht überwinden, Armeen hätten nur Mann für Mann hintereinander in ihr Verderben laufen können. Wer also nicht die Möglichkeiten besaß, aus der Luft oder von der Seeseite aus zuzuschlagen, brauchte es gar nicht erst zu versuchen. Doch Shizari hatte diese Möglichkeiten.
»Das ist
Schlucht der stummen Worte
«, erklärte Waris. »Ihr nicht sprechen dürfen, sonst wecken Zorn von magischen Wesen.«
»Gar nicht sprechen? Auch nicht stöhnen oder fauchen? Und was ist, wenn ich mir wehtue? Darf ich dann
Autsch
sagen?«, plapperte Klecks drauflos.
»Nichts davon! Kein Laut aus Mund oder Schnauze. Nur in Gedanken sprechen, wie Numar mit Drachen.«
»Das kann ich aber nicht!«
Waris verdrehte die Augen. »Dann leise!«
»Hm …« Kurz schien es so, als würde Klecks sich mit dieser Information zufrieden geben. Dann aber stellte sie die Frage, die auch Aira brennend interessierte: »Und was geschieht, wenn ich es aus Versehen vergesse?«
»Lindwurm dich fressen. Oder Mantikor seinen Stachel in dich schlagen! Harpyien deine Augen auskratzen. Vielleicht du erregen Ärger von Werwolf. Er dich beißen und du werden lila Wolf!«
Klecks’ Fell nahm vor Angst einen helleren Ton an. »Ist gut!«, piepste sie.
»Warum fliegen wir nicht einfach darüber hinweg?«, fragte Kayden.
»Nicht möglich. Erdzauber wirkt wie Magnet. Zieht alles nach unten. Drache und Gargoyle können hinabgleiten«, bestimmte sie. »Euch nichts passieren. Ihr magische Wesen wie Bewohner der Schlucht. Aber vielleicht Rangkämpfe geben. Ihr das austragen, bevor wir kommen.«
»
Rangkämpfe?
«, beschwerte sich Kiesel. »Ich bin ein Gargoyle Barshan Anurs, kein dummer Gaul in einem Pferch oder ein hirnloses Raubtier aus den Bergen!«
»Du werden sehen: Gesetze dort unten anders«, erklärte Waris. »Wenig Platz in Schlucht. Viele Fabelwesen da. Sie manchmal aggressiv, wenn Neuling machen falsche Bewegung.«
Aira schluckte. Na, das konnte ja heiter werden! Grundsätzlich war es keine große Herausforderung, eine Weile den Mund zu halten. Aber eine Ahnung sagte ihr bereits, es würde nicht so einfach werden. Dazu kam, dass weder Kasai noch Kiesel es gewöhnt waren, auf engstem Raum mit anderen magischen Wesen verweilen zu müssen. Sie kannten nur die Freiheit eines endlosen Himmels oder Meeres.
Dennoch fügten sich alle in ihr Schicksal. Kasai und Kiesel – nun durch eine gemeinsame Aufgabe vereint – stießen sich vom Rand der Schlucht ab und ließen sich im Segelflug hinuntergleiten, schwerfälliger als sonst. Es sah beinahe so aus, als hingen zentnerschwere Gesteinsbrocken an ihren Klauen.
Die anderen begannen mit dem Abstieg.
Zunächst wirkte alles ganz einfach. Auf der Treppe lag etwas Schnee, aber er war griffig genug, um nicht auszurutschen. Es gab keine Unwegsamkeiten oder von Schlingpflanzen überwucherten Stellen, in denen man sich hätte verfangen können. Schweigend passierten sie die erste Hälfte und hielten dabei Ausschau nach ihren beiden geflügelten
Begleitern, doch diese hatten sich offenbar irgendwo in einer Höhle oder Felsspalte verkrochen. Das breite Tal lag völlig verlassen da.
Dann nahm Aira eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahr und fuhr herum, doch sie konnte nichts erkennen. Ringsum gab es nur dunkelgraue Gesteinsformationen, manche davon riesig wie archaische Tempel, andere spitz und klein wie Waffen, die nur dazu gemacht waren, sich in Fußsohlen zu bohren und Schmerzensschreie hervorzurufen. Ihre plötzliche Achtsamkeit alarmierte auch ihre Begleiter. Sie blieben stehen, ließen ihre Blicke über die Umgebung schweifen und sahen sie fragend an. Aira vollführte eine ratlose Geste mit beiden Armen. Also setzten sie ihren Weg fort.
Nur wenig später geschah es erneut. Ein schnelles Huschen hier, ein wackelnder Zweig dort, mehrere rieselnde Steinbäche, deren Auslöser nicht erkennbar waren. Nun legte auch Kayden seine Hand an den Griff seines Schwertes. Waris jedoch blieb ganz ruhig, was vermutlich als gutes Zeichen zu werten war. Sie hatten beinahe das Ende der Treppe hinter sich gebracht, da blieb Airas Blick an einem Paar leuchtend schwarzer Augen hängen. Wie glatt polierte Obsidiane lugten sie aus einem Gesicht, das aus Stein gemacht zu sein schien. Ein Bergkobold! Sie erinnerte sich genau an die Beschreibung dieser tückischen, kleinen Biester in den Büchern von Jandors Bibliothek: »Bergkobolde, auch gemeine Gnome genannt, zeichnen sich in erster Linie durch ihre Bösartigkeit gegenüber allen Lebensformen aus. Wann immer es ihnen möglich ist, bringen sie arglose Wanderer in Bedrängnis und erfreuen sich am Leid anderer.«
Dieser Kobold führte offenbar etwas ganz Ähnliches im Schilde, denn noch während er dort hinter dem Stein kauerte und sich der Reisegruppe ganz bewusst zeigte, trat Klecks mit ihrer Vorderpfote auf etwas, das wie eine schwabbelige rote Qualle aussah – und genau dieselbe Wirkung hatte es auch. Das Jaulen war heraus, noch ehe Aira ihr die Schnauze zuhalten konnte. Schnell bat sie den Wind, es in die Gegenrichtung davonzutragen. Eine helfende Böe kam angerauscht und riss das Geräusch mit sich fort. Doch war das genug gewesen?
Wie angewurzelt blieben alle stehen und lauschten. Dann hörten sie es: schabende Krallen auf felsigem Untergrund. Schuppige Körper, die sich durch den Schneematsch wanden. Von überall her kamen plötzlich Fabelwesen angekrochen und -geschlichen, um nachzusehen, ob es wahr
war, was ihre Ohren vernommen hatten: einen Laut aus einer Kehle. Aira sah ein Einhorn, das bedrohlich mit den Vorderhufen scharrte. Eine Horde riesiger Eber arbeitete sich soeben aus einem Erdloch heraus. Und aus dem Eingang einer Höhle, die wie ein enormes Maul geformt war, schob sich ein Drachenkopf, der ganz sicher nicht zu Kasai gehörte.
Waris legte beschwörend einen Zeigefinger auf ihre Lippen.
Die Wesen kamen näher und schnupperten in ihre Richtung. Obgleich sie auf der Treppe wie auf einem Präsentierteller standen, schien keines davon sie zu sehen. Es war beinahe so, als wären sie für deren Augen unsichtbar – aber nur, wenn sie schwiegen. Weitere Bestien krochen nun aus den Felsspalten ringsum. Aira erkannte Hippogryphe, Sphinxe und Zentauren. Sowie zwei weitere Drachen. Mit rauchenden Nüstern und glitzernden Schuppen kamen diese auf sie zu. Sie waren von gedrungenerer Gestalt als Kasai und ohne Rückenflosse, was darauf schließen ließ, dass sie keine Wasserdrachen waren, sondern diejenigen Feuerbringer, die damals den Ruf Barshan Anurs ignoriert hatten. Ihre Schuppen leuchteten in allen Schattierungen ihres Elements. Ohne den bedrohlichen Blick in ihren echsenhaften Augen wäre es ein herrlicher Anblick gewesen. Zitternd drückte Klecks sich an Airas Bein.
Doch noch während sie so dastanden – unfähig, auch nur einen Muskel zu rühren –, ertönte auf einmal ein anderes Geräusch. Es war das tiefe Grollen, das Aira schon öfter aus Kasais Hals gehört hatte. Alle Fabelwesen wandten sich gleichzeitig danach um.
»Na, ihr Bestien! Noch nie einen echten Wasserdrachen gesehen?«, drang Kiesels Stimme an ihr Ohr. »Und seinen Freund, den unbesiegbaren Gargoyle?«
Seite an Seite traten die beiden einstigen Rivalen hinter einem Haufen Geröll hervor. Einen winzigen Moment lang geschah gar nichts. Dann stieß der erste Hippogryph ein schrilles Krächzen aus und die gesamte Horde magischer Wesen stürzte sich auf Kiesel und Kasai.
Man hätte fast meinen können, der sonst so aristokratisch anmutende Gargoyle hätte sein Leben lang nichts anderes getan, als Rangkämpfe mit wilden Gegnern auszutragen, so selbstsicher ging er dabei vor. Lediglich die Art und Weise, wie er sich einen Vorteil verschaffte, entsprach noch dem, was man bisher von ihm gesehen hatte: Er sog so lange sämtliches Gestein aus seiner Umgebung in sich auf, bis das Geröll, welches ihm und Kasai als Versteck gedient hatte, gänzlich
verschwunden war. Heraus kam der größte Gargoyle, den Aira je gesehen hatte. Noch ehe die angreifende Meute ihn erreicht hatte, stellte er sich einfach quer zur Schlucht und schirmte mit seinem unempfindlichen Körper auch den Drachen ab. Den Wolfskopf eingezogen, die Löwenpfoten eng an den Leib gepresst, lag er nun da und ließ alle Hörner, Flammen, Giftstachel und Verwünschungen an sich abprallen. Ach, wie leicht doch alles sein konnte, wenn man aus Stein gehauen war!
Jemand zupfte an Airas Ärmel. Sie riss ihren Blick von Kiesel los und erkannte Kayden, der aufgeregt winkte. Waris hatte bereits die unterste Treppenstufe erreicht und hetzte nun über die Ebene, hinter ihr Nephele und Klecks.
Aira verspürte den wilden Impuls, Kayden zu küssen, ehe sie um ihr Leben rannten. Vermutlich war es der Wind, der durch ihre Adern rauschte und ihr diese ungezügelte Leidenschaft verlieh. Sie nahm sich zusammen und schickte ihm stattdessen nur einen entsprechenden Blick. Er verstand ihn, denn ganz kurz entglitten ihm seine Gesichtszüge. Dann liefen sie hinter den anderen her, so schnell sie ihre Beine trugen.
Auf der gegenüberliegenden Seite gab es ebenfalls eine Treppe. Als Aira dort ankam, hatten die anderen schon die ersten Stufen genommen. Die Prinzessin wollte es ihnen gleichtun, doch da fiel ihr auf, dass Kayden nicht mehr hinter ihr war. Panisch drehte sie sich um und sah ihn mitten in der Schlucht stehen, die Augen geschlossen und die Hände auf die Ohren gepresst, als könne er den unsäglichen Lärm, welchen die magischen Wesen veranstalteten, nicht ertragen. Um ein Haar hätte Aira nach ihm geschrien, doch im letzten Moment schluckte sie ihren Ruf hinunter.
Da ließ Kayden seine Hände sinken und sah sie an. In seinen Augen funkelte etwas, hell wie die Tautropfen auf den Grasebenen der Fjeld, und Airas Herz pochte unwillkürlich lauter. Erinnerte er sich wieder? War irgendetwas passiert, was das Feuer und die Liebe der vergangenen Monate zurückgebracht hatte?
Er zwinkerte ihr zu wie ein kleiner Junge, doch dann wandte er sich nach rechts und hastete auf die furchterregende Höhle zu, aus der der erste Drache gekommen war. Aira spürte, wie sich ein Schrei aus ihrer Kehle emporarbeitete, unaufhaltsam wie ein Sturm, der danach drängte, aus ihr herauszubrechen – ganz gleich, welche Konsequenzen er nach
sich ziehen würde. Sie öffnete den Mund, doch da legte sich von hinten eine Hand über ihre Lippen.