– Kapitel 30 –
AIRA
»Kein Mucks, wenn dir das Leben dieses Fuchses etwas wert ist!« Immer noch hallten die Worte durch Airas Kopf. Gesprochen, nein geknurrt, von einem Mund, der nach Fäulnis stank. Seit Tagen hatte Waris ihre Verfolger gewittert. Aber als sie dann so plötzlich über ihnen in der Luft aufgetaucht waren, war Aira dennoch gelähmt gewesen: eine ganze Horde fliegender
Takyn Vor
mit grauenvoll entstellten Wachssoldaten auf ihren buckeligen Rücken! Eines davon hatte Klecks einfach mit seinen Krallen ergriffen – wie ein Bussard, der auf eine Maus herabstieß.
Was war ihr anderes übriggeblieben, als stillzuhalten?
»Lichtsplitter!«, hatte der stinkende Mund in ihr Ohr geraunt. »Ihr habt sie! Die
Eine
weiß davon!«
Und ausgerechnet Klecks hatte die Soldaten daraufhin hinter Kayden her geschickt. Ja, ihr Vertrauen in den Nordmann schien höher als der Malaj selbst zu sein. »Er ist in der Höhle! Er holt den Letzten!«, hatte sie gerufen, woraufhin alle Krieger voller Gier und Dummheit losgestürmt waren, um Kayden zu überwältigen – ohne auch nur zu hinterfragen, ob vielleicht jemand anderer als der einzige Mann in ihrem Kreis die restlichen drei Steine verwahrte. Zurückgeblieben waren nur die
Takyn Vor
als Wachen.
Aira hatte innerlich bis zehn gezählt, tief Luft geholt und dann Alba Bagheta auf das fledermausähnliche Wachsmonster geschleudert, welches Klecks in seinen Klauen hielt. Es wurde ein Gemetzel.
***
Auch jetzt noch zappelten einige der wächsernen Klauen, Schwanzspitzen und Flügel, die ringsum auf dem Boden der Schlucht verteilt lagen. Airas Blicke aber galten nur Kayden. Aufrecht, wie es einem Krieger aus dem
Norden gebührte, stand er da, unverletzt und mit wild lodernden Flammen in den Augen. Die monströsen Drachen hinter ihm hätten jeden anderen Mann unbedeutend wirken lassen. Er aber war ein Fels in der Brandung, ein unsinkbares Schiff. So wie andere ein Schwert am Gürtel trugen, präsentierte er seine Armee aus Feuerbringern. Und sogar die magischen Wesen der Numar sanken verzaubert in die Knie.
»Feuersplitter hat nicht gerufen?«, drangen Waris’ enttäuschte Worte zu Aira vor, doch sie selbst fühlte keinerlei Frustration. Es war egal, ob Kayden mit vollen oder leeren Händen zurückkehrte, solange er es nur in einem Stück tat. Wen kümmerte schon ein Lichtsplitter, wenn er ein Flammeninferno haben konnte?
Jetzt, wo die Fabeltiere sich zurückzogen, trauten sich auch Kiesel und Kasai wieder aus ihrer Deckung hervor, die ja im Grunde nichts anderes als der riesige Leib des Gargoyles gewesen war. Mit jedem polternden Schritt, den dieser der Gruppe näherkam, fiel einiges Gestein von ihm ab und so schrumpfte er nach und nach auf seine übliche Größe zurück.
Die Drachen in Kaydens Gefolge gaben bei seinem Anblick ein schnatterndes Geräusch von sich. Auch wenn Aira ihre Worte nicht verstehen konnte, hörte sie doch die Verachtung heraus, mit der die majestätischen Wesen den Gargoyle bedachten. Anders als Kasai hatten sie eine kompakte Körperform und große, mit spitzen Verknöcherungen gespickte Schädel. Ihre Schuppen leuchteten in glänzenden Braun- und Orangetönen. Ganz offensichtlich sahen sie nicht nur so aus wie die wahren Herren Avantlans, sondern fühlten sich auch so. Einer davon – der Größe und dem Auftreten nach wohl der Anführer – senkte den Kopf wie ein angreifender Stier und gab dabei ein herausforderndes Zischen von sich. Augenblicklich blieb Kiesel stehen. Angesichts der Überzahl, die sich ihm in den Weg stellte, schrumpfte er noch ein bisschen mehr.
Doch bevor einer der Drachen auch nur ein Flämmchen hervorbringen konnte, fuhr ein perlmuttfarbener Blitz zwischen sie und den Gargoyle. Drohend ließ Kasai die Muskeln unter seinen Schuppen spielen. Seine Pupillen verengten sich, während er mit einem Vorderbein auf den Boden stampfte. Dabei starrte er den Anführer an und dieser starrte zurück. Die anderen Drachen hielten den Atem an. Auch Kayden und Waris erbleichten, als hätten sie eine unerhörte Provokation über Kasais Gedanken vernommen.
Dann, ganz plötzlich, neigte der große Drache sein Haupt und pustete
etwas heiße Luft aus. Kasai tat dasselbe, bevor er zur Seite ging und Kiesel mit der Spitze seines Flügels anstupste. Es war wie eine Aufforderung. Der Gargoyle verstand und ahmte die Geste der Drachen nach.
Was auch immer die magischen Wesen da gerade besprochen hatten, eines war Aira klar: Von diesem Moment an würde keiner ihrer beiden geflügelten Begleiter mehr ein böses Wort über den anderen verlieren. So unterschiedlich sie auch waren – der gemeinsame Kampf hatte sie verbunden. Und Freunde mussten einander nicht ähnlich sein, um sich zu respektieren.
Der Aufstieg über die gegenüberliegende Treppe blieb ihnen dennoch nicht erspart. Denn so schwerfällig, wie Kasai und Kiesel in die Schlucht hinabgeglitten waren, so mühsam kämpften sie sich jetzt wieder an den steilen Felswänden empor, halb fliegend, halb kriechend. Es war, als hätte jemand tonnenschwere Lasten an ihren Beinen befestigt. Auch die anderen Drachen hatten ihre liebe Not damit, ihre verzauberte Heimat zu verlassen. Aira rief einen Sturm herbei, der ihnen von unten ein wenig unter die Flügel griff.
Schwer atmend erreichten sie schließlich alle ihr Ziel und blickten zurück auf die Schlucht der stummen Worte.
Kayden trat neben Aira. »Natürliche Magie ...«, sagte er. »Sie fühlt sich unbeschreiblich an.«
»So wie das Prickeln der Frühlingssonne auf der Haut«, antwortete Aira. »Wie Wind, der durch ein Weizenfeld streift. Es ist der eine Moment, in dem das Orchester schweigt, um seinen Solisten zu präsentieren.«
Lange sah Kayden sie an. Und irgendwann wagte sie es, seinem Blick zu begegnen. »Sind Eure Erinnerungen zurück?«, fragte sie bang.
Er runzelte die Stirn wie unter Anstrengung. »Ich weiß es nicht. Manchmal sage ich Dinge, die aus einer verborgenen Tiefe meines Kopfes kommen – vorhin in der Drachenhöhle zum Beispiel. Und hin und wieder, wie jetzt, tauchen Gefühle auf, die sehr viel älter als zwei Tage sein müssen.«
Aira spürte einen warmen Wirbelwind in ihrer Körpermitte kreisen, von wo aus er sich nach oben ausdehnte und alles auseinanderriss, was sie so sorgsam in Ketten gelegt hatte: Herz, Blut, Vernunft. Sie wollte irgendetwas Wahnsinniges tun – diesen Mann an sich reißen, ihre Beine um seine Hüften schlingen und ihn um den Verstand küssen. Kaydens
Hand legte sich an ihre Wange und wischte ein Staubkorn beiseite.
»Ihr später Paarung!«, durchbrach Waris sie mit ihrer unverkennbar deutlichen Numar-Art. »Jetzt schauen nach Norden! Wir betreten Königreich, das kaum je ein menschliches Auge erblickt.«
So jäh diese Worte Aira und Kayden voneinander trennten, so beeindruckt war die Prinzessin beim Blick auf das Land der Numar, das sich nun vor ihren Augen auftat. Es war von unberührter Schönheit, mit tiefdunklen Seen, zerklüfteten Bergen und endlosen Wäldern aus Baumriesen. Hätte Aira nicht gewusst, dass Waris’ Vorfahren seit Anbeginn der Zeiten hier lebten, so hätte sie geglaubt, ein verlorenes Paradies gefunden zu haben. Eines, in dem Gold und Stahl keine Macht hatten. Nie schien jemand hier gerodet, Burgmauern hochgezogen oder einen Acker bestellt zu haben. Jedes Wesen, das die Luft dieser Königslande einatmete, tat dies im Einklang mit seiner Göttin, der Natur.
»Ich euch bringen zu Vater – König Tindert. Wir fliegen!«
»Hammer und Meißel, endlich wieder Wind unter den Flügeln!«, freute sich Kiesel, der trotz der Versöhnung mit den Drachen einen ausreichenden Sicherheitsabstand zu diesen einhielt.
Kayden kletterte auf Kasais Rücken, während Nephele mit Waris auf dem rotbraunen Anführerdrachen flog. Die Wasserwirkerin schien ähnliche Vorbehalte gegen so viel Fleisch gewordenes Feuer zu haben wie Kiesel und Klecks. Denn auch das Fuchsmädchen war alles andere als begeistert von ihren neuen Begleitern. Erst als sie in Airas Umhang gehüllt auf dem Rücken des Gargoyles saß und die Drachen aus größerer Entfernung sah, gab sie ihre verkrampfte Körperhaltung auf.
»Du magst sie nicht?«, fragte Aira mit einem Wink auf das majestätische Untier zu ihrer Rechten, welches ohne Reiter flog.
»Sie machen mir Angst«, piepste Klecks. »Sie sind so riesig und so … heiß!«
»Ich kann noch viel riesiger als die!«, warf Kiesel ein, was Aira und Klecks zum Schmunzeln brachte, denn ja – wahrhaftig, das konnte er!
»Was hat Kasai den anderen angedroht, wenn sie dich nicht in Ruhe lassen? Hast du das herausbekommen?«, fragte Klecks interessiert.
»Ja, Waris hat es mir übersetzt. Es war sehr herausfordernd … und ein wenig despektierlich!«
»Nun erzähl schon!«
Der Gargoyle grinste so breit, dass man es selbst von seinem Rücken aus sehen konnte. »Er sagte: Beleidigt meinen steinernen Freund noch einmal und ich puste jedem von euch eine Fontäne Wasser in den Arsch!«
Ein Glucksen arbeitete sich in Airas Kehle empor. Es war ein befreiendes Gefühl, endlich wieder zu lachen. Und noch während sie es tat – frei, ungebrochen und umspielt von ihrem Element –, merkte sie, dass Kasai nicht weit entfernt von ihnen flog, Seite an Seite mit dem Gargoyle. Auch der Drache hatte so etwas wie ein selbstzufriedenes Grinsen in seinem Gesicht. Und Kayden? Der sah sie an, als wollte er sie mit Haut und Haar verschlingen.
***
Sie landeten auf einer Lichtung im Wald, die kaum groß genug für all ihre Drachen war. Beinahe fünfundzwanzig Feuerbringer standen nun unter Kaydens Kommando – oder hatten sich zumindest mit ihm verbündet. Die andere Hälfte von ihnen hatte Kayden zu den Fjeld geschickt, wo sie deren Armee in den rauen Bergen bei Dukar im Kampf gegen seinen Bruder unterstützen sollten.
Auf den ersten Blick erkannte Aira keinerlei Dorf oder Herrschaftsgebäude in der näheren Umgebung. Dann aber sah sie die Krieger, welche auf den zahlreichen Ästen der Bäume ringsum kauerten. Jeder einzelne Baumriese hatte fast die Ausmaße von Kambriloss, doch hier gab es nicht nur einen, sondern Hunderte dieser Giganten.
Trotz der winterlichen Kälte waren die meisten der Numar halbnackt wie Waris. Sie schienen unempfindlicher gegen Temperaturschwankungen zu sein als die Menschen des Kontinents. Keiner von ihnen regte sich und obgleich sie ihre Pfeile und Speere nicht auf Aira und ihre Begleiter richteten, hatte man dennoch den Eindruck, angriffslustigen Raubtieren gegenüberzustehen.
Waris ließ sich von ihrem Drachen gleiten und brüllte etwas in ihrer Sprache. Dabei hob sie triumphierend ihr Kurzschwert in die Luft und deutete auf die Drachen. Diese eindeutige Siegespose brachte Leben in die anderen Mitglieder ihres Volkes. Auch sie reckten ihre Waffen nach oben und jubelten ihr zu. Selbst aus den entferntesten Kronen und Dickichten hörte man sie schreien.
Doch das Gebrüll verstummte auf Anhieb, als ein älterer Mann mitten
aus dem Stamm des größten Baumriesen trat. Er trug das lange Haar in einem glänzenden Knoten auf dem Scheitel, was seine spitz zulaufende Kopfform noch mehr betonte. Die olivgrüne Haut und die geriffelten Wülste auf seiner Stirn wiesen ihn als Numarkrieger aus, die Krone auf seinem Haupt als deren König. Weitere Herrschaftszeichen trug er nicht, sondern hatte sich lediglich einen Umhang übergeworfen, unter dem er eine weiße Hose aus einem undefinierbaren Material trug. König Tindert umarmte seine Tochter zur Begrüßung.
»Willkommen im Königreich der Numar«, sagte er anschließend in der formalen Sprache Avantlans, sodass alle ihn verstehen konnten. »Ich grüße die Wirker Barshan Anurs und das Volk der Drachen, welches beschlossen hat, mit ihnen in den Kampf zu ziehen. Bleibt hier und ruht euch aus. Empfangt die Kraft der Bäume und den Segen der großen Mutter. Esst und trinkt, um eure Körper zu stärken. Doch wenn ihr dann weiterzieht, in welche Himmelsrichtung auch immer, hofft nicht auf eine zusätzliche Armee.«
Während er geredet hatte, war Tindert immer näher auf Kayden und Kasai zugegangen. Nun stand er direkt vor dem Maul des Wasserdrachen und musterte dessen Reiter mit unergründlichem Blick. Was dann aus seinem Mund kam, fühlte sich an wie ein Rückschlag von Wochen, vielleicht sogar ein Todesstoß: »Du bist nicht bereit, junger Feuerkrieger – warst es nie. Und nun hat die Dunkelheit deine Glut in Asche verwandelt. Nach einer solchen Seele wird der Feuersplitter niemals rufen. Es ist genau wie vor zweihundert Jahren: Etwas Entscheidendes fehlt. Mein Volk zieht nicht mit dir in den Tod.«