– Kapitel 31 –
KAYDEN
Zu sagen, dass er enttäuscht war, wäre untertrieben gewesen. Dennoch wusste er, wieso der König ihm die Gefolgschaft verweigerte. Es war schon schwer genug, sich selbst in einen aussichtslosen Kampf zu werfen, aber etwas ganz anderes, wenn man dem eigenen Volk erklären sollte, warum sie ihre Lanzen gegen die Dunkelheit richten und womöglich niemals ihre Heimat wiedersehen konnten.
»Vater nicht so gemeint. Er wissen um Finsternis. Braucht Schubs.«
»Lass es gut sein, Waris! Er hat recht. Uns fehlt ein Splitter und in meinem Bauch ist es verdammt still.«
»Du finden, ich sicher. Ich niemals irren. Mutter mir gesagt.«
Kayden wandte sich zu ihr. Im Hintergrund sah er diese wild zusammengewürfelte Truppe von … Ja, von was? Träumern? Wahnsinnigen? Klecks starrte ihn an. Und Aira … In ihren Augen sah er Hilflosigkeit. Er konnte ihr Herz bis hierher pochen hören, genährt von einem Strudel aus widersprüchlichen Gefühlen.
Er schlug der Numar auf die harte Schulter. »Wo ist der Strand? Ich muss nachdenken. Diese Wüste hat mir zu viel Sand in die Adern gestreut.«
Sie deutete zwischen die Baumriesen, wo Kayden einen Pfad ausmachen konnte, der aus breiten Steinplatten bestand. Er fragte nicht, wieso ausgerechnet dieser Weg »erbaut» worden war. Es war ihm einerlei. Er schnaufte tief durch und ging los, ohne sich noch einmal umzusehen.
***
Wenn er gehofft hatte, eine ähnliche Landschaft wie nahe der
Klirrenden See
vorzufinden, wurde Kayden erneut überrascht. Der Strand war gut
eine halbe Meile breit und nicht ein Steinchen lag darauf. Keine Riffe oder gefährliche Klippen, nicht einmal Untiefen machte er aus, weil die Strömung keine Wirbel erzeugte. Ob es die Natur oder aus der Magie der Numar entstanden war, wusste Kayden nicht. Jedenfalls war der Rest der Küste so steil, dass man schon Flügel brauchte, um hinaufzugelangen. Ein Angreifer würde dort unten Tausende Männer verlieren, bevor er einen Gegner überhaupt zu Gesicht bekäme.
Eine natürliche Klippe, die wie ein Turm im Fallen anmutete, ragte weiter östlich hervor. Er setzte sich an die Bruchkante, den Blick sehnsuchtsvoll auf die endlosen Wellen gerichtet, und ließ die letzten Tage an sich vorüberziehen – den Schmerz und jene Wege, auf die der
Wanderer
ihn geführt hatte. Und mochten es die Winde der Nirahel gewesen sein, so wollte er sich nicht beklagen.
Nach Stunden stand er auf, denn die Dämmerung ließ ihren Saum über den Rand der Welt fallen. Auf dem Weg zurück begegnete er einigen Numar-Kriegern, die ihm leise schwatzend entgegenkamen. Es waren junge Männer, die sich gegenseitig schubsten und lachten. Sie beäugten ihn zwar misstrauisch, aber offen und neugierig.
»Bewacht ihr den Strand?«, fragte Kayden in der Sprache Avantlans.
Einer der Jungen trat vor und verneigte sich leicht. »Wir lösen die anderen auf dem Turm ab. Das Feuer muss entzündet werden, denn wir erwarten Schiffe aus dem Osten.«
Der Nordmann erwiderte die höfliche Geste, als er ihnen noch einmal nachrief und den Aufenthaltsort des Königs wissen wollte.
Dieser, so gaben sie feierlich an, meditiere auf einer kleinen Lichtung und sie beschrieben ihm den Weg dorthin. Kayden bedankte sich aufrichtig und wünschte ihnen eine sichere Nacht, was die Jungen gern erwiderten, denn eines sprach ihm wohl niemand ab, nämlich dass er ein exzellenter Krieger war, der viele Feinde besiegt hatte.
***
Die Lichtung lag abseits der bewohnten Baumriesen und Kayden wagte sich nur ungern in diese Situation. Doch er wollte guten Willen zeigen. Und wenn er Tindert richtig einschätzte, dann war ein Rat von ihm mehr wert als Hunderte von Mooley.
Schweigend und behutsam betrat er den Kreis, der sanft von in den
Ästen hängenden Juwelen beschienen wurde. Im Zentrum dieser Ruhe fand er das Oberhaupt der Numar.
Der Mann strahlte Unerschütterlichkeit aus. Er saß mit überkreuzten Beinen auf einem heiligen Felsbuckel, dessen glatte Oberfläche mit unzähligen Spiralen bemalt war, vollkommen unterschiedlich in Farbe und Ausführung. Tindert Zandaya hatte, im Gegensatz zu Mooley, sein Element in Herz und Seele aufgenommen. Womöglich noch tiefer.
Die übergreifende Ruhe, welche von ihm ausging, hatte etwas von einem Berg, der am Morgen stoisch die Sonne als Erster begrüßte und am Abend die Sterne willkommen hieß. Sein Gesicht schien in Trance, als spräche er nicht nur mit der Erde, sondern einem anderen Zeitalter. Ihn zu stören, meinte der Nordmann, würde der rüden Belästigung eines Heiligtums gleichkommen. Und zum ersten Mal erinnerte ihn ein Mensch so sehr an den
Hageren Wanderer
, dass er einige seiner Flüche über den knöchrigen Stabträger bereute.
»Du bist hartnäckig«, schnarrte Tindert in einem singenden Ton. »Meine Tochter riet mir, meine Hand offen zu halten. Nun ja, vermutlich hätte sie mich sonst zum Kampf herausgefordert – ungestüm, wie sie ist«, fuhr er fort. Ebendiese Hand hob er jetzt und strich damit durch die kalte Luft, als könnte er in den Schwingungen lesen, die Kayden aussandte. »Ich spüre dich,
Feuerträger
. Doch du hast eine Mauer darum errichtet. Ich erkenne, sie rührt noch aus den jungen Tagen deines Lebens. Trauer hast du damit abgeschirmt. Den Tod eines geliebten Menschen womöglich.«
»Bisher hat niemand mich
Feuerträger
genannt«, erwiderte Kayden.
»
Wirker
ist das falsche Wort in meinen Augen«, brummte der Numar. »Es ist ein Geschenk der Mutter und ein Geschenk
trägt
man. Es ist einem nicht verliehen worden oder eine Form der Anerkennung. Deshalb sollte jeder diese Gabe ehren und mit Respekt behandeln.«
»Tja, da habe ich wohl auf ganzer Linie versagt«, gab der Nordmann zu.
Ein recht schelmisches Lächeln überflog Tinderts Antlitz. »Du bist einen weiten Weg gewandert, Kayden, bis zu diesem heiligen Stein. Ich denke, deine Weigerung, das Feuer anzunehmen, hat dies erst ermöglicht. Waris erzählte mir einiges. Du hast mutig mit deinem Herzen Entscheidungen getroffen, nicht mit deinem Element. Womöglich stehst du deshalb hier.«
Auf diese Weise hatte Kayden das noch nicht betrachtet.
Der König erhob sich andächtig von dem Felsen, der oben wie eine Schale geformt war. Seine Hose bestand aus weißer Rinde, welche um die Beine, über die Hüften und bis zum Bauch gewickelt worden war. Zeichen von filigraner Schönheit waren darauf gemalt. Ein Umhang aus Blättern und Gräsern schleifte hinter ihm her. Barfuß schritt er aus der kleinen Lichtung und bedeutete Kayden, ihm zu folgen.
»Meine Tochter hat eine fast schon sinnliche Beziehung zur Mutter. Sie liebt ihr Element und spricht auf andere Weise, die mich oftmals verwundert, zu ihr. So erfuhr Waris von einem jungen Nordmann, der in den Bergen von Brandawik lebte. Von dir!«
»Ich erinnere mich nicht daran«, musste Kayden gestehen.
Tindert nickte wissend. »Die Dunkelheit hat jene Momente überdeckt, die es dir möglich machen könnten, dich über sie zu erheben. Shizari fürchtet sich vor dir. Vor dem, was du imstande bist zu tun.«
Sie drangen tiefer in den Kambriwald ein, passierten große Steinstelen und Obelisken, übersät mit Ritzungen. Zwei dieser Felsen bewachten den Eingang zu einer Höhle, welche in die Tiefe führte. Der Geruch warmer, fruchtbarer Erde war überwältigend.
Schweigend gingen sie hinein, in den Leib der Mutter.
***
»Du bist ein erstaunlicher Mann, Kayden Wolfshall. Erwählt vom Feuer. Doch auch dem Wasser zugetan. Und dennoch spüre ich mehr. Du hast auch die Berge und Wälder deiner Heimat sehr geliebt.«
»Ja, ich lief manchmal viele Tage mit meiner Hündin über das Land. Einen Berg hat sie besonders gemocht. Dort habe ich sie begraben. Unter ihrem Lieblingsfelsen.«
»Also ist auch die Erde in dir verwurzelt.« Er schmunzelte. »Nirahel, die wilde Sturmgöttin. Auch sie ist ein Teil von dir. Es wundert mich nicht, dass du die verschiedenen Elemente anziehst. Sie fühlen sich wohl bei dir, vertrauen dir.«
Alsbald erreichten sie eine Kammer, die von einem schmalen Lavastrom erleuchtet wurde.
»Ich habe einen Lavateich in der Höhle der Drachen gesehen«, erklärte Kayden und kniete sich hin. »Ich habe sogar meine Hand
hineingehalten.«
»Kein Element will seinen Träger absichtlich verletzen oder sich gegen ihn stellen. Es fließt um dich herum, durch dich hindurch. Denn alles kommt von unserer Mutter. Dennoch ist jedes Element auch ein mächtiges Wesen.« Tindert setzte sich neben ihn und starrte in die vorbeiziehende Glut. »Dies ist ihr Blut. Es verzweigt sich über die gesamte Welt, ein Netzwerk aus Adern, die alles miteinander verbinden. Mutter ist Leben und das Leben ist vielfältig.«
Kayden seufzte: »Ich habe früh meine Mutter verloren und schwor mir, niemals wieder solchen Schmerz zu ertragen, mich zu schützen.«
»Die Liebe, Feuerträger, lässt sich nicht aussperren. Denn sie lebt im Anblick der tosenden Wellen, in dem Geruch nasser Erde, einem wärmenden Feuer voll innig geflüsterter Geschichten und natürlich im Wind, der all dies miteinander verbindet.«
»Was soll ich jetzt tun?«, wollte Kayden wissen.
»Trinke Mutters Blut! Lasse die Vergangenheit hinter dir! Du sollst sie nicht verbannen, denn das wäre der falsche Weg. Jedoch kannst du sie umarmen und somit gleichzeitig freilassen. Ehre sie, vergebe den alten Tagen, aber lasse sie nicht über dein Herz bestimmen, welches sich nach der Gegenwart sehnt.« Mit diesen Worten verließ der König die Kammer und brummte zufrieden.
***
Sie hatten recht! Er war kein Feuerkrieger. Vieles mochte er sein, aber nicht das. Also musste Kayden es herausfinden. Er legte die Kleidung ab, welche ihm nicht gebührte – jetzt noch nicht –, und legte sie sorgsam in den Tunnel. Eine Zeit lang konnte er sich nicht rühren, nahm die Hitze in sich auf, die von der Lava aufstieg. Sein Herz wurde friedlich und als er glaubte, sein Puls sei völlig verstummt, setzte er seinen Fuß voran, mitten hinein in die glühende Ader der Mutter.
War da ein Tosen in ihm? Ein Kampf, den das eigene Licht gegen die Schwärze ausfocht, die ihm so vieles genommen hatte? Schwamm er in den Erinnerungen einer ganzen Welt? Kayden trieb davon, allein das konnte er mit Bestimmtheit sagen. Das Feuer sprach zu ihm und er traute sich zu antworten. Endlich fand er die Stimme seines Blutes, seines Erbes.
Das Herz ist ein verworren Ding.
Es wohnen Feuer und alte Geister darin.
Von tausend Wünschen ganz zu schweigen.
Die uns durch seine Kammern treiben.
Es hat Mauern und Narben.
Auch die lässt es schlagen.
Was wir sind und wer wir waren.
Es kennt jeden unserer Namen.
Lass die Ketten los, die es binden!
Dann wird es wachsen und dich finden.
Er schrie dieses alte Lied seiner Mutter in die Flammen, die seine Seele endlich heimholten.