– Kapitel 34 –
AIRA
Elris Sonner war der Inbegriff eines Schiffskapitäns. Bärtig, die Haut wettergegerbt und aufrecht wie eine Gallionsfigur stand er am Heck der
Schlangentöter
. Aira wusste, weshalb er nach hinten blickte anstatt nach vorn. Denn die Schlacht, welche dort im Numarland tobte, rüttelte an seinen Grundfesten. Er wäre gerne umgekehrt und hätte Kayden den Rücken freigehalten, genau wie sie selbst.
»Ich habe viele dieser Monster getötet«, sagte er leise. »Mit Feuer und Stahl, eines nach dem anderen. Aber nie zuvor sah ich eine solche Armee von ihnen.«
»Die Dunkle hat bekommen, was sie wollte. Sie hat den Sonnenspiegel gehoben und ihre Kreaturen befreit, die seit dem Großen Krieg darin gefangen waren«, erwiderte Aira. »Wir haben eine Übermacht gegen uns, die niemand besiegen kann, wenn wir es nicht schaffen, die tausend Säulen zu heben, ehe Shizari uns alle dem Erdboden gleichmacht. Deshalb müssen wir uns zwingen, in die andere Richtung zu blicken. Wir können ihnen nicht helfen.«
Der Kapitän musterte sie genau, mit gerunzelter Stirn, als missfalle ihm, was sie sagte. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Ihr seid eine sonderbare Frau, Prinzessin. Sorgt Ihr Euch nicht um ihn?«
Aira seufzte. »Ein sehr kluger Mann hat mir einmal gesagt, alle Sorge um Kayden Wolfshall sei unbegründet, denn er kehre immer zurück. Das ist es, was ich glauben will. Alles andere kommt nicht infrage.«
»Also werden wir unsere Waffenbrüder in einem aussichtslosen Kampf zurücklassen.«
»Er ist nicht aussichtslos, denn schon bald wird Shizari ihren Blick nach Norden richten – hinter uns her. Die Numar sind nicht ihr eigentliches Ziel.«
»Da mögt Ihr recht haben.« Elris nickte ihr zu, dann machte er sich
auf zur anderen Seite seines Schiffes. Aira folgte ihm, vorbei an einer Esse, in deren Glut gewaltige Harpunen steckten, und einer Mannschaft grimmig dreinblickender Seeleute, die trotz aller Raubeinigkeit auch eine Aura von Furcht umgab. Nephele machte sich nützlich, indem sie ihnen beim Einholen der Taue half, und Klecks war einem Matrosen ins Krähennest hinauf gefolgt, wo sie mit ihren scharfen Augen im Moment am besten aufgehoben war. Weit über ihnen schwebte Kiesel, der das Meer nach schwarzen Leibern absuchte.
Elris deutete auf die Schiffe des freien Volkes, welche die
Schlangentöter
und den Rest der Flotte wie ein schützender Wall umgaben. »Energische Burschen, diese Fjeld. Sie sind wie ihre Schiffe: einfach und schnell. Ich habe mit ihrem König gesprochen, diesem Timucin. Kennt Ihr ihn?«
»Flüchtig«, murmelte Aira und blickte zu Boden.
»Ein Steinschädel, wie man bei uns zu Hause sagt. Aber ich denke, wir können auf ihn zählen. Er schreckt weder vor dem Tod noch vor der Dunkelheit zurück. Irgendeine Prophezeiung seiner Mutter steckt dahinter – zum Glück für uns.«
Wenn du wüsstest
, dachte Aira. In gewisser Weise war Dorka Wolfshall immer dagewesen, obgleich sie sie nie kennengelernt hatte. Genau wie Neera hatte sie ihr eigenes Leben verwirkt, um Platz für diejenigen zu machen, die nach ihr kamen – Aira und Kayden. Heute war der Tag, an dem sich zeigen würde, ob das Opfer ihrer Mütter sinnlos gewesen war. Sie durften nicht versagen!
Elris zog ein Fernglas hervor und richtete es auf die Insel. »Wir werden ein Stück weit backbord vom Vulkan an Land gehen, da ist Platz für alle. Was soll dann geschehen, Prinzessin?«
»Nephele und ich suchen nach der Stelle, an der die tausend Säulen versteckt sind. Ich weiß im Groben, wo das sein muss. Um sie zu heben, werden wir auch Kayden und Waris brauchen – das vermute ich zumindest. Wenn sie eintreffen, muss alles vorbereitet sein. Und Ihr …« Sie brach ab und sah den Kapitän ernst an. »… Ihr gebt uns Rückendeckung.«
Sie hätte ebenso gut sagen können:
Ihr werft Euch den Monstern zum Fraß vor.
Aber Elris war ein Soldat, der für die Freiheit seines Volkes kämpfte, kein goldgieriger Söldner, daher zuckte er mit keiner Miene. Timucin würde es ebenso wenig tun. Aira war nicht wohl bei dem Gedanken, dass sie diesen tapferen Männern einen Umstand von
besonderer Bedeutung verschwieg: Sie hatten Kaydens Lichtsplitter nie gefunden. Doch jetzt blieb keine Zeit mehr, um ihn zu suchen. Was für eine andere Wahl also hatten sie, als ohne den Feuerstein loszuziehen und zu hoffen, dass die Götter ihnen ein Wunder zuteilwerden ließen?
»Die Sonne verdunkelt sich«, sagte Elris mit Blick auf den wolkenverhangenen Himmel. Graue Schleier breiteten sich dort über das Himmelsgestirn aus, hüllten es ein, als wollten sie es verschlingen. Aira schauderte. In ihrem letzten Gespräch hatte Orcas ihr vorhergesagt, dass dies passieren würde. Dann, wenn die Nacht am dunkelsten war, würde die Finsternis aus ihrem Gefängnis fliehen.
Auf einmal stand Nephele hinter ihnen, die stets traurigen Augen nach oben gerichtet. »In den Tothautlanden nennen wir es die Heilige Schlange«, sagte sie. »Seit Äonen hält das Licht der Sterne sie gefangen, doch heute Nacht wird es nicht hell genug sein. Auch Shizari ist nur eine Dienerin – der
Zerstörerin
! Sie wird kommen.«
***
Die Küste war schroff und voller scharfer Felsen. Die Kiele der Fjeld-Schiffe ächzten unter den spitzen Steinen am Ufer, als sie an Land gezogen wurden. Elris’ Flotte, die mehr Tiefgang hatte, musste weiter draußen vor Anker gehen, was bedeutete, dass sie die ersten sein würden, die von den Seeschlangen angegriffen werden würden. Eines der Beiboote hatte Aira, Nephele und Klecks zur Insel gerudert.
Es legte genau neben Timucins Schiff an, an dessen Steven der filigran geschnitzte Kopf eines Pferdes prangte. Der König selbst führte gerade einen herrlichen Schimmelhengst von Bord, dessen Fell so strahlend weiß war, als hätte es nie den Staub der Steppe berührt. Timucin hielt ihn locker am Zügel, obgleich dessen Hufe auf dem felsigen Boden unruhig tänzelten. Als er ihrer gewahr wurde, kam der König mit dem Pferd am Zügel auf sie zu.
»So treffen wir uns wieder«, sagte Aira.
Timucin nickte ihr zu. »Ich habe meiner Göttin ein Versprechen gegeben. Und ich habe es gehalten.« Er streichelte den Hals seines Hengstes. »Das ist Ziryan. In Eurer Sprache bedeutet es
Nordwind
. Er wurde geboren, um Euch dorthin zu bringen, wohin ihr gelangen müsst.«
»Oh nein, ich kann fliegen«, lehnte Aira das Angebot ab und deutete auf Kiesel, der weiterhin über ihnen schwebte. Nur zu gut erinnerte sie sich an ihre kläglichen Reitversuche auf Kaydens Maultieren.
»Manche Dinge sieht man besser aus der Luft, andere vom Boden aus. Mein Volk weiß das seit Anbeginn der Zeiten. Deshalb hatten wir beides: Pferde und Drachen.«
Das Argument war nicht von der Hand zu weisen. »Dann werden meine Begleiter fliegen … Und ich reite
.
«
Und sterbe nicht durch Shizaris Hand, sondern weil ich vom Pferd falle
, fügte sie in Gedanken hinzu.
Timucin winkte einen seiner Krieger herbei, der gerade einen nicht minder prächtigen Rappen von Bord geführt hatte, und nahm ihm das Tier aus der Hand. »Ich begleite Euch. Ihr werdet jemanden brauchen, der die Natur zu lesen vermag. Denn wie ich sehe, ist die tapfere Numar-Kriegerin bei ihrem Volk geblieben.«
Er saß schneller im Sattel, als eine Möwe krächzen konnte. Aira entschied, dass es keinen Sinn machte, ihm sein Vorhaben auszureden, da sie in der Tat Hilfe nötig hatte. Auf der Karte waren die tausend Säulen deutlich sichtbar gewesen, doch wer wusste schon, ob sie die richtige Stelle auf Anhieb fand. Ungeschickt hievte sie sich in den Sattel. Nachdem sie etwas zu hart hinein geplumpst war, begegnete sie dem Blick des Fjeld-Königs, der von endloser Bestürzung geprägt war.
»Wie habt Ihr es nur bis hierher geschafft, wenn Ihr noch nicht einmal ein Pferd besteigen könnt?«
»Auch wenn es Euch seltsam anmuten wird, Herrscher der Grasebenen: mit Köpfchen.«
Er lachte kehlig. Dann trieb er seinen Rappen vorwärts und Aira ließ die Zügel locker, damit Ziryan, der
Nordwind
, hinter ihm her stürmen konnte.
In schnellem Tempo ließen sie die Küste hinter sich und passierten eine baumlose Ebene, deren Lavafelsen mit Moos überwuchert waren. Aira wagte es kaum, nach unten zu sehen, doch die Pferde der Fjeld waren zähe, trittsichere Tiere, die selbst auf diesem unebenen Untergrund Halt fanden. Nach oben musste sie nicht blicken, um zu sehen, dass Nephele und Klecks ihr auf Kiesel folgten, denn der Schatten des Gargoyles zeichnete sich deutlich ein Stück vor ihnen ab. Timucin ritt voraus, doch Aira sagte ihm die Richtung an. Ohne Probleme erreichten sie schließlich die Stelle, von der sie glaubte, es wäre die Richtige. Still und tot erhob
sich der Vulkan im Hintergrund. Vor ihnen jedoch lag nichts außer einer leeren Ödnis aus Stein und Felsen. Aira wendete den Schimmel und sah sich nach allen Seiten um.
»Ist das der Ort?« Timucin zügelte sein Reittier, Skepsis im Blick.
»Wenn ich den Abstand zwischen Strand und Vulkan richtig einschätze, ja.«
»Hier ist nichts.«
Leider glaubte Aira ihm aufs Wort. Man musste nicht in den Grasebenen der Fjeld geboren sein, um das zu erkennen. Sie winkte Kiesel zu, woraufhin der Gargoyle sich niedersinken ließ und in knappem Abstand vor ihnen landete.
»Habt ihr etwas Auffälliges gesehen? Eine Stelle, die auf Magie oder einen Steinkreis hindeutet?«
Nephele und Klecks schüttelten die Köpfe. »Es muss mehr als das sein«, sagte die Wasserwirkerin. »Bestimmt wird die Kraft aller vier Wirker gebraucht, um es freizulegen. Aber wenn du mich fragst: Hier an diesem Ort gibt es keine Magie.«
»Dann werden wir weitersuchen. Von hier an spiralförmig in alle Richtungen.«
Noch während sie sprach, brach Dunkelheit über sie herein, so plötzlich, als hätte jemand das Feuer der Sonne erstickt. Aira blickte nach oben, direkt in das Herz der hellen Macht, doch es entfachte keine einzige Träne mehr in ihren Augen. Stattdessen hatte sich eine Art vorzeitige Dämmerung über die Welt gelegt. Schwarze Flecken bedeckten das allmächtige Himmelsgestirn und immer mehr nebelhafte Schlieren zogen darüber hinweg.
»Die Zeit drängt«, sagte Klecks.
»Fliegt weiter! Wir dürfen nicht aufgeben!«, rief Aira den anderen zu, während sie die Zügel des Schimmels herumriss und beide Schenkel in seine Flanken drückte.
***
Es war der Hengst, der schließlich die richtige Stelle fand – vermutlich aus dem einfachen Grund, weil er Durst hatte. Auf den ersten Blick gab es zwischen all den Gesteinsformationen am Fuße des Vulkans kein Wasser. Doch das »störrische Tier«, wie Aira es nannte, blieb mitten auf
einem kleinen Sandbett stehen und scharrte mit den Hufen. So sehr sie auch versuchte, Ziryan mittels ihrer Absätze zum Weitergehen zu bringen, er reagierte nicht auf ihre hilflosen Versuche.
»Haltet ein!«, rief Timucin und lenkte sein Pferd neben sie. »Dieser Ort … er flüstert. Hört Ihr es nicht?«
»Wir sind viel zu weit oben. Auf der Karte schien der Punkt mehr in Richtung Küste zu liegen.«
»Keine Karte ist so genau wie der Instinkt eines Pferdes. Steigt ab und grabt!«
»Graben? Ich bin eine Windwirkerin. Habt Ihr schon mal eine Sturmgöttin graben sehen?«
Er zuckte mit den Schultern, dann saß er ab und untersuchte die Beschaffenheit des Untergrunds. Im Zwielicht dieses letzten Tages sah Aira feinen Sand durch seine Hände rieseln. Sie sprang ebenfalls vom Pferd und besah sich die Stelle. Tatsächlich schien so etwas wie eine Anziehung davon auszugehen, ganz leise nur, wie das Rauschen eines Blattes im Wind. Die Prinzessin schloss die Augen. In ihrer Erinnerung sah sie Orcas vor sich, wie er sie auf Kambriloss besuchte, um ihr sein Mantra zu überbringen.
Öffne dich!
Sie fühlte den Sturm in ihrem Inneren anschwellen. Auch ihr Element konnte das Flüstern hören. Langsam hob sie die Arme und schickte eine leichte Brise, die den Sand zur Seite trieb. Ein kleiner Wirbelsturm entstand, der ob der Mengen an Staub, die sich bereitwillig mit ihm vereinigten, schnell größer wurde.
Schnaubend wichen die Pferde zurück und auch Timucin brachte sich hinter einem ausladenden Findling in Sicherheit. Je mehr Sand sie davontrieb, desto mehr Energie musste Aira aufwenden. Und als eines der Körnchen ihr Gesicht berührte, verstand sie auch, weshalb das so war: Es war feucht. Sie waren auf Wasser gestoßen.
Die Prinzessin ließ ihre Arme sinken. Im schwachen Licht der flackernden Sterne sah sie einen See vor sich liegen, glatt und still wie zuvor das Sandbett. Neben ihr setzten polternd die steinernen Tatzen des Gargoyles auf. »Hab ich mir doch gedacht, dass dieser Staubsturm etwas Gutes bedeutet!«, rief Kiesel.
Klecks jubelte und selbst in Nepheles Gesicht stand so etwas wie Freude. Sie trat neben Aira und ließ ihren Blick über den See schweifen. »Sieht ganz so aus, als wäre nun ich an der Reihe. Tritt zurück, Hoheit, es
könnte nass werden!«
Aira tat, wie ihr geheißen, und beobachtete aus sicherer Entfernung, wie Nephele das Wasser mittig teilte und es zu beiden Seiten auseinandertrieb. Beinahe fünfzig Schritt hoch türmten sich die beiden Wellen, ehe sie umklappten und als Sturzbäche über den felsigen Boden davon rannen. Nun, da auch die zweite Elementschicht abgetragen war, konnte man sie erkennen: tausend Säulen, manche breit wie die Pfeiler eines Palastes, andere schmal wie eherne Flöten. Doch noch immer lagen sie tief verankert in dem darunterliegenden Gestein. Lediglich die Spitzen lugten daraus hervor.
»Wir brauchen Waris«, murmelte Aira.
Bei dem Gedanken an die Erdwirkerin wandte sie sich unwillkürlich zur Küste um. Da sah sie es: Von Bord der
Schlangentöter
wurde eine Harpune abgefeuert. In weitem Bogen segelte sie durch die Luft und schlug mitten in den schwarzen Leib einer Seeschlange ein, deren Umrisse in der Dunkelheit erst jetzt zu erkennen waren. Schaurige Todesschreie schollen über den Ozean hinweg und bei ihrem Klang begannen sich die schwarzen Wellen des Meeres zu kräuseln. Aus der tosenden Gischt tauchten noch mehr Monster hervor, reckten ihre geifernden Mäuler in Richtung der Schiffe. Weitere Harpunen wurden nun von Elris’ Flotte abgeschossen. Und in all dem Chaos schien die Nacht zum Tag zu werden, denn vom Festland aus schoss Drachenfeuer über den Himmel, so gleißend hell, dass Aira blinzeln musste. Sein Licht enthüllte eine Armada aus dunklen Seglern, die bereits Kurs auf die Insel genommen hatte. Nie zuvor hatte sie so viele Schiffe gesehen, so schwarz, so groß, so voller Grausamkeit. Nur noch Elris Sonner und die Krieger der Reiche standen jetzt zwischen Shizari und den tausend Säulen.
»Kayden«, flüsterte sie. »Komm zu mir, so schnell du kannst!«