– Kapitel 35 –
KAYDEN
»Dunkelheit kommen!«, raunte Waris an sein Ohr. »Kometen bald fallen auf Mutter.«
Nach oben blickend konnte Kayden zwar keinen der schwarzen Kometen ausmachen, jedoch vertraute er der Erdwirkerin. Dafür spürte er, dass das Feuer der Sonne seine Kraft einbüßte. Die Sterne hatten ihren Glanz verloren; die Ketten, mit denen sie die Finsternis umschlossen hatten, waren endgültig zerrissen. Der Nordmann stand auf, drehte sich um, stakste über Waris hinweg und schob sie ein Stückchen nach vorn. »Halte dich am Sattelknauf fest!«, riet er der Kriegerin. »Ich habe zu tun.« Die Tochter des Königs duckte sich, und sah er da etwa einen Anflug von Furcht in ihren Augen?
»Du verrückter Mann!«, brüllte sie und krallte ihre Finger um den Knauf. »Was du denn tun?«
Doch Kayden hatte weder Zeit, sich die verfluchte Dunkelheit anzuschauen, noch für irgendwelche Erklärungen. Im Geiste sprach er mit Kasai. »Du hast meine Botschaft damals weitergegeben, oder?«
Sie warten auf mein Zeichen .
»Gut. Würdest du bitte diese drei Schuppen anheben«, bat Kayden und tippte die entsprechenden oberhalb des Flügels an. Sofort klappten sie nach oben. Der Nordmann band das Ende eines Seils mit einem Seemannsknoten darum und Kasai sicherte ihn, indem er die Schuppen wieder fest an seine Haut drückte. Derweil rief Kayden nach Rashka, dem roten Erddrachen aus der Höhle der Schlucht, und ging zurück zum Sattel. Er tippte Waris auf die Schulter. »Wir werden uns hier trennen, meine Freundin«, erklärte er und befestigte das Seil um ihre Hüften. Die Numar sah fassungslos dabei zu, bis sie seine Hand packte. »Nein! Ich hier bei dir! Gemeinsam fliegen.«
Kayden schüttelte den Kopf. »Du fliegst auf Rashka weiter. Aira braucht dich bei den Säulen. Sollte mich nicht wundern, wenn es alle vier Wirker braucht, um diese Dinger zu finden.« Das Haar flatterte ihm um die Ohren und er machte sich so seelenruhig einen Zopf, dass Waris wütend wurde.
»Du auch Wirker. Du kommen mit!«, beharrte sie.
Kayden hob sie aus dem Sattel und die Kriegerin krallte sich an ihm fest. Neben ihnen tauchte der rote Drachenleib auf und hielt auf sie zu. Waris schien zu ahnen, was ihr bevorstand, und wollte sich wieder hinsetzen. Sie stieß wilde Flüche in der Numar-Sprache aus. Kasai ging in einen Gleitflug über und ebenso der andere Drache. Es war eine phänomenale Leistung, als die beiden ihre Schwingen übereinanderlegten und so eine Brücke zwischen sich bildeten. Kayden aber bekam Waris nicht aus der Schockstarre. Sie schien von Panik überwältigt und murmelte unentwegt. Vermutlich Gebete an die Mutter.
»Du Augen zu!«, schrie er lachend, hob die schlanke Frau auf seine Schulter und stapfte los. Hatte er Angst? Nein! Er wusste nicht einmal genau, was er da tat, er setzte einen Fuß vor den anderen, wie Tausende Male zuvor auf den schwankenden Planken, als die Welt noch aus Schiffen und einer unbestimmten Zukunft bestanden hatte. Er glaubte, dass seine Mutter ihn leitete, Windtupfer neben ihm ging und sogar Lina ihm Glück wünschte. So stieg er auf Rashkas Rücken, setzte Waris hinter dem Halshorn des Drachen ab, nahm ihre Hände, die sie darum schlang, und wartete, bis sie ein stummes Nicken von sich gab.
»Flieg zu Aira!«, sagte er, löste das Seil und lief über die Flügel zurück. Er hörte noch, dass die Numar etwas rief, aber da trennten sich die beiden Drachen bereits voneinander und begannen wieder, mit kräftigen Schlägen an Höhe zu gewinnen.
Wenn das so weiterging, würde dieser Tag zu einem verdammt langen Lied werden, das war mal sicher.
Als unter ihm die Armada der Einen in Sicht kam, gab Kasai das Zeichen: ein für das menschliche Ohr unhörbares Vibrieren, das auf die Wellen gerichtet war.
Gleich, das wusste Kayden, würde die See zu kochen beginnen.
***
Harpunen wurden von der Schlangentöter aus abgeschossen. Glühende Lanzen, die sich in die See bohrten. Am Strand hatte sich die Armee aus den verschiedenen Reichen versammelt. Sie errichteten mit Felsen und mitgeführten Pfählen aus Kambriholz eilig Barrikaden. Etwa zwei Meilen dahinter schlossen sich die Reihen der Fjeld an, die mit ihren Pferden eine zweite Verteidigungslinie bildeten. Elris Sonner aber stand mit seiner Flotte an vorderster Front. Der Kapitän hatte seine Schiffe mit Ketten verbunden und eine Blockade um den Strand formiert, den einzigen Ort, an den Shizari anlanden konnte. Die riesigen Segler der Einen hatten zu viel Tiefgang, um bis an das Ufer zu rudern. Dafür aber hatte sie ihre Wachsungeheuer, welche die Blockade umgingen, über Felsen und Riffe krochen und sich unweit der Barrikaden versammelten. Da die Biester in solcher Zahl auftauchten, konnte dies nur bedeuten, dass sie den Sonnenspiegel zusammengefügt und ihre einst von Meridiem gebannten Kreaturen befreit hatte. Damals jedoch wurde die Stadt Dukar belagert. Seeschlangen waren nicht vonnöten gewesen, vielmehr Ungeheuer, welche dazu fähig waren, Mauern einzuebnen, Schlachtlinien zu durchbrechen und Wirker über den Haufen zu trampeln. Für einen Kampf im Meer ungeeignet. Zudem waren diese Biester nicht mit anderen Biestern gefüllt.
Deshalb hatte Kayden einen Vorteil auf seiner Seite. Shizari würde ihren Angriff auf den Strand konzentrieren, weil sie Aira und die anderen davon abhalten musste, die tausend Säulen in Funktion zu bringen. Also taten ihre Seeschlangen das, was sie am besten konnten: die Schiffe der Gegner angreifen, um so Platz zu schaffen, damit die Fußsoldaten anlanden und den Verteidigern den Garaus machen konnten. Genau deshalb waren die hinteren Schiffe nicht gesichert, nahm Kayden an. Im Krieg griff man jene Linien an, die am schwächsten waren. Und diese hier würden in wenigen Momenten eine Überraschung erleben.
Mit Bestürzung sah er, wie eines von Elris’ Blockadeschiffen förmlich in Stücke gerissen wurde. In Panik wurde versucht, die Kette zu lösen, damit es nicht auch das nächste unter die Wellen ziehen konnte. Der Bug des dahinter liegenden Schiffs senkte sich bereits bedrohlich tief, als die Männer die Verbindung kappen konnten und es sich aufrichtete. Dann brach plötzlich eine Feuerfontäne durch die Decks des letzten Seglers von Shizaris Flotte. Das Tuch an den Rahen brannte sofort lichterloh. Eine zweite Feuersäule und das Schiff bekam Schlagseite, rammte den Rumpf des daneben rudernden, wobei sein brennender Mast auf dessen Heck krachte. Jetzt erhob der wirkliche Krieg sein grausames Haupt.
***
»Lass uns fallen!«, brüllte Kayden und Kasai legte die Flügel an. Der Nordmann presste die Schenkel gegen den Sattel, duckte sich hinter die Hörner und beschwor das Feuer, das im Bauch des Drachen zu pulsieren begann. Unablässig formte Kayden eine Kugel mit seinen Händen und als der Flammenstrahl aus dem Rachen fauchte, fing er die Energie ein, ballte sie zusammen und schleuderte sie gegen das Heck eines der schwarzen Schiffe. Das Kastell, Ruder und jede Menge Soldaten wurden in die Dämmerung gesprengt und wirbelten brennend davon.
Da sie schon einmal im Tiefflug waren, rasierte Kasai von zwei weiteren Schiffen die Masten ab und stieß dabei unablässig Feuer aus. Von einem dritten Segler aus wurden sie mit Speeren beschossen und ein Pfeilhagel folgte ihnen. Doch die Saat war gesät. Schiffe standen in Flammen, Männer sprangen über Bord und versanken in ihren schweren Rüstungen. Die Meerdrachen griffen von unten an und über der Flotte gaben die Erddrachen ihnen den Rest. Das Wasser brodelte. Zäher, dichter Qualm versperrte allmählich die Sicht und Kayden wartete auf das andere Zeichen, welches kurz darauf krachend die Luft durchschnitt – ein schwarzer Blitz. Sie war also hier! Das konnte noch ein Vorteil für sie werden.
Er konnte nicht erkennen, ob Shizaris Zauber ein Ziel gefunden hatte, aber plötzlich fühlte er etwas anderes, das sein Herz wie eine Wolke umhüllte – tiefkalten Hass. So alt, dass der Nordmann für einen Augenblick vergaß, wo und wer er eigentlich war. Er hob den Blick und spürte das uralte Blut der Kometen nahen. Er hoffte, dass die anderen dies nicht spürten, denn sie mussten all ihre Sinne beisammenhaben, um die Säulen zu befreien. Kasai drehte ab, da sie hier nichts weiter ausrichten konnten. Die Lichtsplitter waren das Einzige, was jetzt noch zählte. Sie flogen eine weite Kurve und Kayden musste mit Bestürzung erkennen, dass Shizaris Soldaten mit Aberdutzenden Booten den Strand erreicht hatten. Wachsmonster stürmten die Barrikaden. Biester, die wie Nashörner aussahen und gut viermal so groß waren. Spinnen und Echsen, Schlangen und hundeähnliche Wesen, die rasend schnell über den dunklen Sand hetzten. Diese Kreaturen wurden von einer pechschwarzen Flugschlange aus befehligt, die aus den violett verfärbten Wolken sank und kreischend über dem Schlachtfeld schwebte. Auf ihrem Rücken saß ein Mann mit wehendem Umhang und einer Krone auf dem schmierigen Lockenköpfchen – Prinz Sebald.
»Airaaaa!«, brüllte Kayden und lenkte seinen Drachen in Richtung des Vulkans.