– Kapitel 36 –
AIRA
Die Erde bebte, als der gewaltige rote Drache darauf aufsetzte. Er spreizte seinen rechten Flügel nach unten und eine reichlich mitgenommene Waris taumelte von seinem Rücken. »Löwe verrückt«, stammelte sie vor sich hin. »Tanzt auf Drachen!«
Aira stürzte auf sie zu. Beide fassten einander an den Unterarmen, froh, sich lebendig wiederzusehen. »Wie gut, dass du hier bist. Wir brauchen dringend deine Erdwirker-Künste«, rief die Prinzessin.
»Löwe das geahnt.«
»Wo ist Kayden?« Panik machte sich in Aira breit, denn in der Dunkelheit konnte sie nirgendwo den perlmuttfarbenen Leib Kasais ausmachen. Dafür scholl Kampfeslärm von der Küste aus zu ihnen empor, vermischt mit dem schaurigen Gekreische der Monster. Die
Schlangentöter
hatte sie nicht aufhalten können. Und nun waren sie auf dem Weg hierher.
»Ich nicht wissen. Hat eigene Pläne. Fjeld uns schirmen ab. Aber einige Monster durch ihre Linie brechen.«
Auch der rote Drache schien das zu wissen, denn er stieß einen durchdringenden Schrei aus und erhob sich wieder in die Lüfte. Kurz darauf fegte eine Feuerschneise über den Weg, auf dem sie hierher geritten waren. Noch immer folgten die
Takyn Vor
Airas Blutspur. Und diese führte sie direkt zum Ziel!
Ihnen blieb keine Zeit mehr zum Reden. Aira packte Waris am Arm und zerrte sie zu dem Erdkreis, in dem noch immer die tausend Säulen verborgen lagen. »Hebe sie heraus!«, drängte sie die Numar. »Wir anderen halten dir die Monster vom Hals.«
Waris nickte, ging näher heran und brachte ihre Hände zum Leuchten.
Aus der Finsternis ertönte ein heiseres Knurren. Aira fuhr herum. Sie
sah eine Bewegung zwischen den Felsspalten, welche sie umgaben. Dunkle Schemen huschten durch die zerklüfteten Fugen, bleiche Klauen kratzten auf dem Gestein. Das Drachenfeuer hatte sie nicht alle vernichtet.
Sie löste die Gurte ihres Mieders und zog den weißen Stab hervor. Auch Timucin und Nephele hatten die Ungeheuer bemerkt. Leise wie Geister schlichen sie heran und stellten sich zu Airas Seiten auf. Klecks hingegen huschte hinter ihre Linie zu Waris, wo sie hoffentlich sicher war – zumindest für den Moment.
Einen Augenblick lang herrschte Stille. Es war, als hielte nicht nur Aira, sondern der ganze Kontinent den Atem an.
Nirahels Schweigen.
Dann ertönte das Knarzen von Gestein hinter ihrem Rücken. Die Prinzessin wandte sich nicht um, denn sie wusste, was geschah: Tausend Säulen erhoben sich aus dem Untergrund – das letzte Bollwerk gegen die Dunkelheit.
Ein schrilles Wiehern erklang und gleich darauf ein dumpfer Schlag. Die Pferde! Timucin hatte sie im Schutz der Felsen zurückgelassen, wo sie den Ungeheuern nun schutzlos ausgeliefert waren. Sie waren die Ersten, die ihr Leben lassen würden. Aira wünschte ihnen einen schnellen Tod – mehr als das konnte sie für die wunderbaren Tiere nicht tun.
Doch entgegen ihrer Annahme steigerte sich das Wiehern in einen wütenden Schrei. Weitere Schläge folgten und schließlich segelte ein zerbeulter Wachsklumpen hinter den Felsen hervor. Zischend vor Schmerz wand sich eine nashornähnliche Bestie vor Timucins Füßen. Der König der Fjeld schwang sein Krummschwert und hackte ihr den Kopf ab.
Aira starrte ihn ungläubig an.
»Sie sind beschlagen«, keuchte er. »Mit Hufeisen aus Kambriholz.«
Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment stürmten die Ungeheuer auf sie zu. Nephele ließ das Wasser, welches sie aus dem See gehoben hatte, zurückfließen und baute eine Mauer daraus. Kiesel stampfte mit seinen riesigen Pranken Monster für Monster zu Brei. Aira brachte Alba Bagheta in einem Wirbelsturm zum Tanzen, während Timucin mit einem todesmutigen Schrei auf eine unförmige Spinne zustürmte und dabei dem klebrigen Faden auswich, welchen sie nach ihm schleuderte.
Die Welt verkam zu einem Chaos aus Hass und Tod. Wachstropfen schienen vom Himmel zu regnen und die Luft war erfüllt vom Dampf der
sterbenden Leiber. Mit aller Gewalt stemmte Aira sich gegen die Angreifer, schlug ihnen erbarmungslose Böen ins Gesicht und trieb ihre Waffe durch deren kreischende Kehlen. Wild rauschte ihr Element durch ihre Blutbahn – bereit, ein letztes Mal tief einzuatmen, ehe alle Luft zu Leere verkam.
Ziryan und Timucins Rappe kämpften tapfer, doch sie hatten keine Chance gegen die Übermacht der Angreifer. Mit blutendem Herzen sah Aira, wie die Monster ihre Taktik wechselten und von den Felsen aus auf die Rücken der Pferde sprangen. Wild buckelnd kamen diese auf sie zugerannt, jedes mit einer Horde brüllender
Takyn Vor
auf seinem Rücken, die ihre Zähne in das Fell der Hengste gruben und erbarmungslos zubissen. Alba Bagheta erwischte zwei davon, Timucins Schwert ein weiteres. Doch der Kampf war aussichtslos. Im Abstand von wenigen Schritten zu Aira sackte Ziryan zusammen, die Augen verdreht, das weiße Fell blutüberströmt. In knapper Entfernung zu ihm biss ein Ungeheuer, halb Hund, halb Echse, Timucins Rappen den Kopf ab. Knurrend und mit den breiten Vorderpfoten scharrend, kam es auf Aira zu. Eine von Nepheles Wasserfontänen warf es ein Stück zurück, doch sogleich stand es wieder auf. Die Prinzessin bündelte den Wind in ihren Händen. Wie hatte Waris sie genannt?
Donnerseelen.
Und wer einen solchen Namen trug, der endete nicht zwischen den Kiefern eines Wachsmonsters!
Doch ehe Aira ihr Element losgelassen hatte, geschah etwas Seltsames: Der Sturm, den sie eigentlich hatte entfachen wollen, erhob sich ohne ihr Zutun hinter ihrem Rücken. Regentropfen, so groß wie Taubeneier, stürzten vom Himmel herab und unter ihren Füßen bebte die Erde.
Sie drehte sich um und sah Waris zwischen den nun erhobenen Säulen stehen. Turmhoch reckten sich die Stelen zum Himmel empor, mit einer kreisrunden Erhebung in deren Mitte. Immer noch glühten die Hände der Erdwirkerin, doch nun schien es, als hätte dieses Glühen sich ausgebreitet und fresse sich an ihren Armen empor, um Stück für Stück ihren gesamten Körper einzunehmen. Dann zogen sich die Wolken am Himmel zusammen und ein ohrenbetäubender Donnerschlag ertönte, gefolgt von einem Blitz, dessen vielfach geteilte Spitze auf die Erde niederging. Gleißende Helligkeit blendete Airas Augen und für einen Moment schloss sie die Lider.
Als sie diese wieder öffnete, lagen alle Wachsmonster tot zu ihren
Füßen. Ungläubig starrte sie auf die Numar-Kriegerin, die noch immer wie eine Statue inmitten der Säulen stand, mit Adern, in denen flüssiges Licht zu pulsieren schien.
Sie werden kommen
, hörte Aira die Stimme von Orcas in ihrem Kopf. Die ganze Zeit hatte sie geglaubt, er habe nur von weiteren Wirkern gesprochen. Doch er hatte auch seinen eigenen Nachfolger gemeint – jemanden, der alle Elemente zugleich beherrschte. Und dieser Jemand war eine Frau: Waris! Sie hatte es immer im Blut gehabt, doch niemandem, nicht einmal ihr selbst, war es aufgefallen. Bereits beim Tod des Hornvogels, als ihre Wut auf Mooley alle Elemente durcheinandergebracht hatte, hätten sie es merken müssen. Aber die wahrhaft wichtigen Dinge begriff man immer zu spät.
»Du …«, kam es flüsternd aus Airas Mund. Doch da zitterte der Boden unter ihren Füßen erneut. Das Beben setzte sich fort, den Berg hinauf, bis es die Spitze des Vulkans erreichte. Gesteinsbrocken flogen durch die Luft und dann schoss eine Aschewolke aus dem Schlund, gefolgt von gleißender Lava. Lautlos wie die orangerot glühende Zunge der hellen Macht fraß sich ihr Strom durch die Nacht – nach unten, wo sich bereits eine neue Angriffswelle von Monstern bildete.
Aira zwang ihre Beine, sich zu bewegen. Hastig eilte sie auf Waris zu, die sich noch keinen Fingerbreit gerührt hatte. Sie griff nach deren Arm, fuhr jedoch sofort zurück, denn er war glühend heiß.
»Feuer!«, stieß Aira hervor. »Du kannst die Säulen entzünden!« Aus dem Augenwinkel heraus sah sie, wie Klecks einen entsetzten Sprung zur Seite machte.
Nun endlich richtete die Numar ihren Blick auf sie. Die Ruhe und Gefasstheit einer obersten Wirkerin lag darin. »Das nur Löwe kann. Oder?« Ganz offensichtlich hatte sie noch nicht begriffen, was mit ihr passiert war.
»Nein! Orcas’ Vermächtnis liegt in deiner Seele. Hilf uns, Waris! Entfache das Feuer!«
Bei diesen Worten ergriff Klecks endgültig die Flucht. Schutzsuchend versteckte sie sich unter Kiesels Bauch. Waris runzelte die Stirn. Dann jedoch schob sie Aira beiseite und trat in die Mitte des Steinkreises. Sie musste nicht einmal ihre Arme erheben wie früher, um die Macht aus ihrem Inneren zu beschwören. Es reichte ein Wimpernschlag und die Säulen fingen Feuer. Lichterloh griff das Inferno um sich, hüllte alles ein,
was sich in dessen Mitte befand, nur Waris selbst blieb vollkommen unversehrt. Aira sah, wie sie die kuppelförmige Erhebung innerhalb des Kreises umschritt, umgeben von einem Flammenmeer, dessen todbringende Hitze sich ergeben vor ihr verneigte.
So schnell, wie es gekommen war, versiegte das Feuer wieder. Und nun konnte auch Aira das Tor erkennen, welches sich in der Kuppel geöffnet hatte.
»Haltet Wache!«, wies sie Timucin und den Gargoyle an. »Ruft uns, wenn ein neuer Angriff bevorsteht!«
Der König nickte, woraufhin die Prinzessin mit Nephele und Klecks in den Steinkreis trat. Waris erwartete sie bereits am Eingang der Kuppel.
»Hier drin – Krieg wird entschieden«, sagte sie. »Lichtsplitter einsetzen, dann Dunkelheit besiegt.«
Sie waren am Ende ihres Weges angelangt. Dort, wo die Welt neu geboren werden konnte. Tränen stiegen in Airas Augen empor, während sie ihr Medaillon abnahm. Denn all der Tod, all die Anstrengung waren vergeblich ohne Kaydens Splitter. Sie wandte ihren Blick zum Himmel hinauf. Etwas bewegte sich dort oben, windend, fallend. Die Zerstörerin hatte ihr Gefängnis aus Licht durchbrochen. Begleitet von einem kaum sichtbaren Rauschen schlängelte sie sich zur Erde herab. Und je näher die Dunkelheit vorrückte, desto deutlich sichtbarer wurde der rätselhafte Schauer, welcher sie umgab. Es waren schwarze Kometen.
Wo bist du, Nordmann? Im Augenblick des Todes will ich deine Hand halten, auf dass unsere Asche für immer vereinigt bleibt!