– Kapitel 37 –
KAYDEN
Manchmal hatte Kaydens Mutter ein geheimnisvolles Lied gesummt, während ihr Blick sich im Feuer des Kamins verlor. Sie hatte ihm nie erklärt, woher die Melodie stammte oder ob auch Worte dazugehörten. Aber er erinnerte sich an das Gefühl, welches die sanften Töne in ihm ausgelöst hatten. Sie hatten ihn fortgetragen, in die weite Welt hinaus – dorthin, wo alles seinen Anfang nahm. Der junge Kayden hatte daran geglaubt, dass die Sturmgöttin selbst dadurch ihren Geliebten wiederfinden würde, einfach, indem sie an den Ort zurückkehrte, der ihre Liebe erst entflammt hatte. Dieses hauchzarte Wispern flirrte plötzlich zwischen seinen Rippen, als kehre es heim. Doch noch wurde es von der Klage einer sterbenden Welt übertönt.
Ich kann es schaffen
, dachte er.
Ich beende, was ich im Palast zu Noskiris begonnen habe, und schneide diesem Bürschchen das Wachsherz heraus
.
Ein kurzer Druck mit dem Schenkel und Kasai sank in eine enge Kurve, die sie näher an Sebald heranbringen sollte, als unter ihnen Schreckliches geschah. Der Nordmann musste hilflos mit ansehen, wie seine geliebte
Schlangentöter
förmlich aus dem Meer gehoben wurde. Ein riesiges Ungeheuer tauchte darunter auf. Etliche Männer stürzten über Bord. Die Plattformen für die Harpunen feuerten noch einmal, bevor auch sie über Bord gingen. Baumdicke graue Fangarme wickelten sich um den Rumpf, schlugen auf dem Deck hin und her. Der Mast zersplitterte, das Ruder hing in der Luft. Kayden schrie und änderte den Kurs, raste auf den Strand zu, auf dem das grausame Gemetzel seinen Lauf nahm. Kasai sammelte sein Feuer und der Nordmann brüllte, während einen Wimpernschlag später die
Schlangentöter
mit einem gewaltigen Ruck in die Tiefe gezogen wurde und die schäumenden Wellen sich darüber schlossen, als hätte sie niemals existiert. Wie betäubt starrte
Kayden auf die Stelle, an der eben noch seine Freunde um ihr Leben gekämpft hatten: Elris, Krummbart, Skiff und all die anderen … ausgelöscht, vom Angesicht der Welt getilgt.
Ohne dass Kayden es wahrnahm, schwenkte der Drache ins Landesinnere. Er saß da, den Wind im Gesicht, ohne Tränen. Dieser Tag würde weit über jegliche Grenzen hinweg die Seelen aller Menschen verändern. Jedenfalls hatte die seine soeben eine tiefe Wunde erhalten.
Komm zu dir, Kayden!
Kasai rüttelte ihn wieder ins Hier und Jetzt.
Ich gehe runter.
***
Da waren sie! Die tausend Säulen. Ein Wald aus Felsen und Magie. In seiner Mitte machte Kayden eine Kuppel aus, die wie eine Pupille in einer stacheligen Iris saß. Lava floss von den Hängen des Vulkans, versperrte einem Teil der Angreifer den Weg dorthin. Doch die Säulen waren von Ungeheuern nahezu umzingelt und es versammelten sich immer mehr von ihnen. Noch hielt die Hitze sie in Schach.
Sie mussten außerhalb landen und Kasai fegte den groben Sand mit einem Feuerstrahl beiseite, wartete, bis Kayden aus dem Sattel gestiegen war, und hob wie vereinbart wieder ab. Hier unten war er keine Hilfe und der Nordmann wollte nicht riskieren, ihre vielleicht letzte Fluchtmöglichkeit zu verlieren. Auch wenn dem Meerdrachen das gar nicht schmeckte, aber er hatte die Anweisung, sich aus den Kämpfen herauszuhalten.
Im Zwielicht ragten die Säulen vor Kayden auf. Die Aura dieser vergessenen Magie wirkte so gar nicht hell oder schützend, ganz im Gegenteil. Eine unheilvolle, stumme Phalanx, die von höheren Mächten zurückgelassen worden war und die man besser unberührt ließ. Obgleich sie die letzte Hoffnung war, auf die Avantlan noch zählen konnte.
Ein paar verirrte Wachsspinnen krabbelten ihm entgegen. Kayden griff nach seinem Element, das überall um ihn herum schwelte, konzentrierte es, streckte die Hand aus und die Ungeheuer verdampften regelrecht.
Zwischen den turmhohen Säulen wurden die Schatten dichter und das flirrende Summen verstärkte sich, zog ihn zu sich. Es konnte nur bedeuten, dass der Feuersplitter sich mit seinem Element verbunden
hatte. Das magische Artefakt war hier, an diesem Ort.
Er näherte sich der Kuppel, die aus einem ungewöhnlich hellen Gestein bestand. Er konnte keine Fugen erkennen, also nahm er an, dass sie von einem Erdwirker erschaffen worden sein musste. Ein runder Eingang führte ins Innere und er meinte, Stimmen zu vernehmen. Kiesel schritt unruhig an der Seite der Kuppel auf und ab und sein steinerner Wolfskopf suchte beständig nach Gefahren. Vor dem Eingang jedoch hielt dieser König der Fjeld Wache und blickte sich nach allen Seiten um, einen schweren Krummsäbel in der Faust. Irgendetwas an dem Mann schien in Kayden anzuklingen. Doch war dieser kurze Gedanke schnell verdrängt, denn ein vielstimmiges Knurren näherte sich von beiden Seiten. Aus den harten Schatten der Säulen hetzten Ungeheuer auf ihn zu, als er den Felsenwald hinter sich lassen wollte. Mit schnellen Blicken zählte er sechs Kreaturen, halb Hunde, halb Echsen, deren Krallen den rußigen Sand aufwühlten.
Der Fjeld wirbelte herum, die Klinge im Anschlag, während aus dem Himmel ein Flammenstoß aus Kasais Rachen direkt auf Kayden niederging. Der hob die Arme, teilte das Glosen in der Mitte, als zöge er einen Vorhang auf, und lenkte mit ausgestreckten Armen das tödliche Feuer entlang der letzten Säulenreihe. Die wenigen jaulenden Laute der Ungeheuer rissen abrupt ab und der Nordmann ging einfach weiter auf den Fjeld zu, in dessen Augen plötzlich ein Ausdruck erschien, der von Scham zu Erleichterung wechselte und schließlich in Ehrfurcht gipfelte.
»Ist Aira dort drinnen?«, fragte Kayden. Der Hüne fasste sich, nickte und machte den Eingang frei. Sein Mund klappte auf, als wollte er noch etwas sagen, doch da war der Feuerkrieger schon an ihm vorbei und trat in die Kuppel.
***
Das Licht im Inneren blendete Kayden einen Wimpernschlag lang, als ihm ein dürres Mädchen in die Arme sprang und ihn so heftig umarmte, als wollte sie nie mehr loslassen.
»Du bist da! Endlich. Ich habe solche Angst gehabt«, schluchzte Klecks.
Weitere Stimmen wurden nun laut.
»Löwe Splitter gefunden?«, kam Waris gleich auf den Punkt.
Nephele lächelte lediglich und schob eine Locke hinter ihr Ohr.
Und schließlich kam Aira auf ihn zu, forschte in seinen Augen und fand, was sie erhofft hatte – das Feuer der Hingabe. Ohne ein Wort gab sie ihm einen Kuss und mehr brauchte es auch nicht.
Erst jetzt wurde er sich der Kuppel gewahr. Sämtliche Wände waren aus Gold, ebenso der Boden. Kayden setzte das Fuchsmädchen ab und blickte sich staunend um.
Etwa fünfzehn Schritt betrug der Durchmesser des Bauwerks. Im Zentrum erhob sich eine goldene Statue, die auf einem Sockel ruhte und auch hier nichts als das schimmernde Metall. Er wusste, dass Gold in vielen Legenden als Symbol der Sonne galt, aber verdammt, diesen Laden auszurauben, würde sich mal so richtig lohnen. Dennoch blieb sein Blick auf der Statue haften. Ihre Proportionen hatten nichts Menschliches, sondern wirkten entrückt, mehr Kunst als Wirklichkeit und dennoch war es eindeutig eine Frau, die dort an die Decke der Kuppel starrte. Ihre Glieder hingegen waren mit dem Körper eins geworden. Die Arme hielt sie überkreuzt vor der Brust, worin sie scheinbar eingesunken waren. Nicht anders verhielt es sich mit den Beinen, die schlicht mit einer langen Vertiefung angedeutet wurden. Weder trug sie Kleidung noch sonst etwas, das ihren Stand oder ihre Herkunft offenbarte. Dafür war sie über und über mit Schriftzeichen bedeckt, die von oben nach unten verliefen, wie an einem Senkblei ausgerichtet. Diese Symbole setzten sich auf dem Boden nahtlos fort und auch an den gewölbten Wänden – bis zur Decke. Als wären die Worte aus dem Himmel gefallen und über die Figur geflossen.
»Niemand kann es lesen«, raunte Aira. »Bitte, Kayden. Sag mir, dass du den Feuersplitter fühlen kannst!«
Waris rang die Hände und bewegte sich, als sei ihr ganzer Körper plötzlich zu eng geworden. Offenbar war etwas geschehen und sie haderte damit. Die junge Wasserwirkerin schaute bang zum Ausgang und Klecks hatte Tränen in den Augen. Kayden trat an die Wand und fuhr mit den Fingerspitzen darüber. Unter den Schriftzeichen waren hauchfeine Gravuren. Er erkannte Linien, die in Bahnen verliefen. Kreise, die von langen Ellipsen umschlossen und wiederum mit anderen verbunden waren. Sternenbilder in solcher Vielzahl, als wäre die Nacht in Gold verewigt worden. Die filigranen Zeichnungen verschwammen förmlich vor seinem Auge, als bewegten sie sich. Als würden sie …
»Bei Nirahels Atem«, flüsterte er. »Sie
tanzen
!«
»Kayden?« Aira berührte seinen Arm.
»
Im Tanz der Sterne wirst du es finden.
«
,
wisperte der Nordmann. »Das hat Eldus Quinn zu mir gesagt. Es steht auf …« Mit einem Mal verstummte das Flirren unter seinen Rippen. Er wandte sich zu den anderen um und zog Taidos Schwert aus der Scheide. »Diese verfluchten Drecksäcke!«, lachte er und suchte den Boden ab. Direkt vor der Statue fand er einen Schlitz, steckte das Schwert hinein und ein sanftes Klicken ertönte. Alle starrten auf die Statue, auf deren goldenem Torso – genau dort, wo man den Bauchnabel vermuten würde – sich eine Vertiefung bildete. Sie hatte die Form eines Auges.
»Bei den Göttern!«, flüsterte Aira und berührte die Stelle. Kayden legte seine Hand um den Schwertgriff, drehte es herum, ein zweites Klicken und der Knauf sprang auf – wie der Deckel einer geheimen Schatulle. Darin war ein Splitter eingefasst, der ein blutrotes Schimmern von sich gab, das wie ein Herzschlag pulsierte.
»Sie haben es die ganze Zeit gewusst«, sagte der Nordmann leise. »Orcas und auch Meridiem. Sie hatten den Splitter längst gefunden und ihn dem einzigen Feuerwirker anvertraut, von dem sie sich sicher waren, er würde niemals Verrat üben. Taido hatte damals für seine Geliebte Rosal seinen Posten verlassen und damit schreckliches Unheil heraufbeschworen. Sie wussten, dass er diese Schuld mit unbedingter Loyalität zurückzahlen würde. Und so hat er das Schwert verzaubern lassen, damit es eines Tages der richtige Wirker mit seinem Feuer erweckt.«
Kayden nahm den Splitter aus dem Knauf und gab ihn Aira. Mit ruhiger Hand öffnete sie ihr Amulett und vervollständigte die restlichen Steine darin. Atemlos hob sie das Schmuckstück an die Vertiefung, setzte es ein und … Nichts.
»Wo das Licht?«, brüllte die Numar, während die Prinzessin es noch einmal versuchte. Von draußen rief der Fjeld, dass Gefahr drohe, eine verdammt riesige Gefahr. Da sitze jemand mit einem Umhang und einer Krone auf einer schwarzen Flugschlange.
Airas Blick wurde schmal. »Sebald Blutspeer!«, sagte sie tonlos und unbändige Ruhe schwang darin, tosender als jeder Sturm.
Waris war schon zum Tor hinaus. Nephele folgte ihr. Da meldete sich Klecks und streckte ihr zartes Händchen aus. »Ich werde es schaffen, Aira. Gib es mir! Kayden wird mir helfen.«
Einen Moment verwirrt von den ernsten Worten des Fuchsmädchens, legte Aira das Amulett in Klecksʼ Hand, ging los, blickte über ihre Schulter zurück und der Nordmann konnte den inneren Konflikt sehen, der sie gerade zerriss.
»Schnapp dir das Lockenköpfchen!« Mehr Worte brauchte es nicht. Aira nahm ihren Stab und rauschte zwischen die Säulen, hinein in das dunkle Zwielicht.
Kayden wandte sich um. Klecks stand vor der Statue und zupfte an ihrem Kleidchen herum. »Hier also wird es enden«, weinte sie.