– Kapitel 38 –
AIRA
Sebald Blutspeer. Er war lange genug auf dieser Welt gewandelt, hatte gemordet, verraten und erniedrigt. Seine Augen sollten nicht mehr sehen, ob nach dieser Nacht noch einmal die Sonne aufging! Vom Himmel war das Tosen der schwarzen Kometen zu hören, als Aira aus der Kuppel trat. Schreie schallten von der Küste empor und an beiden Seiten des Vulkans schmolzen wächserne Ungeheuer kreischend in der glühenden Lava. Die Luft roch nach Blut und Tod.
Reglos standen Timucin, Nephele und Waris zwischen den Säulen des Steinkreises, Kiesel wie eine monumentale Wache davor. »Dies ist die Stunde des Untergangs«, sagte der König der Fjeld, ohne Aira anzusehen.
»Doch es wird nicht der unsere sein!«, antwortete sie.
Dann kamen sie. Halb zerstörte Bestien mit verbrannten Gesichtern und abgehackten Klauen. Manchen fehlten ganze Gliedmaßen, die sie im Feuer der Drachen oder des Vulkans verloren hatten. Humpelnd und kriechend bildeten sie einen Kreis um die tausend Säulen, sodass selbst der riesige Gargoyle so weit wie möglich zurückwich. Mächtige Flügel peitschten durch die Luft, doch anstelle eines Drachen, wie Aira für einen Moment gehofft hatte, senkte sich der schwarze Schatten einer Flugschlange auf sie nieder. Kleine, grausame Augen saßen in ihrem glatten Gesicht. Ihr weit aufgerissenes Maul offenbarte zwei Reihen spitzer versilberter Zähne. Und auf ihrem Rücken grinste noch ein anderer Mund – einer, dessen Gift von keiner Schlange des Erdkreises übertroffen werden konnte.
»Sebald!«, schrie Aira. »Verkriech dich nicht hinter deinen Monstern, sondern stell dich mir ein einziges Mal allein!«
Da lachte er nur noch lauter. »Du törichtes Weib! Siehst du die Krone auf meinem Haupt? So wie ich dich damals beherrscht habe, werde ich dich auch heute in den Staub drücken!« Während er sprach, wich sein Lachen einem Ausdruck von solcher Grausamkeit, dass Aira sich an ihre Hochzeitsnacht erinnert fühlte. Er ließ sich vom Rücken seiner Schlange gleiten und kam auf sie zu. Unruhig verharrten die Wachsmonster vor der Linie der äußeren Säulen.
Er wusste es nicht. Shizari wusste es nicht. Denn niemand außer ihren Gefährten und den Fjeld hatte mitbekommen, wie das Windherz von damals zur Donnerseele geworden war, zur Sturmgöttin, die sich keiner Krone mehr unterwarf.
Ohne sich zu rühren, ließ Aira den wächsernen Prinzen näherkommen. Im Abstand von wenigen Schritten blieb er vor ihr stehen, musterte sie, suhlte sich in seiner scheinbaren Überlegenheit. Dann zog er eine Peitsche aus seinem Gürtel, deren Schlag mit eisernen Zacken gespickt war.
»Ein Speer ist dir nicht mehr brutal genug?«, fragte sie tonlos.
»Nicht für ein Miststück wie dich, das mir seit Monaten immer wieder durch die Lappen geht.«
»Heute werde ich dir nicht durch die Lappen gehen, Gemahl. Eher durch dein Herz.« Mit aller Kraft ihres Elements schleuderte sie Alba Bagheta nach ihm. Doch auch Sebald hatte seine Peitsche in ihre Richtung geschwungen. Knapp vor seiner Brust verfing der weiße Stab sich in der Schlinge und kam vom Kurs ab. Anstatt Sebalds Herz zu durchbohren, schlug er als Querschläger in den Flügel der Schlange hinter ihm. Das Ungeheuer stieß einen markerschütternden Schrei aus. Genau in dem Moment, als Aira die Kambriholz-Klinge zurückrief, schnappte das Tier mit seinen silbernen Zähnen danach und biss den Stab mittig entzwei. Aira schrie. Ihre einzige Waffe war verloren! Sie hatte gedacht, es wäre ein Leichtes, Sebald niederzumetzeln, doch der Stolz, den der Wind durch ihre Adern trieb, hatte sie unvorsichtig werden lassen.
»Du respektierst meine Krone nicht?«, brüllte Sebald und schwang erneut seine blutgierige Peitsche.
Aira schickte einen Windstoß, der ihn zwar gegen die nächste Säule schleuderte, aber nicht die Kraft hatte, sein wächsernes Herz zu zerquetschen. Und noch während er dort hing, wandte er den Kopf zur Seite und flüsterte etwas in der Sprache der Tothautlande.
Es war der Befehl zum Angriff.
Alles, was von seiner Armee noch kriechen oder rennen konnte, stürzte sich auf die Wirker. Auf der Stelle waren sie von so vielen schnappenden Mäulern umgeben, dass Aira von Sebald ablassen musste, um sich und ihre Gefährten zu verteidigen. Sie sah, wie Kiesel denjenigen Monstern auswich, die mit metallenen Zähnen oder Hörnern ausgestattet waren, denn ihnen war er bereits in der Schlacht von Barshan Anur zum Opfer gefallen. Alle anderen zermalmte er unter seinen Tatzen oder zwischen seinen Kiefern. Nephele ließ Wasser vom Himmel fallen, das zu faustgroßen Hagelkörnern gefror und auf die Köpfe der Bestien niederprasselte. Waris lenkte die Lavamassen des Vulkans herbei und Timucin kämpfte mit seinem Säbel wie ein wild gewordener Gott. Dennoch hätte ihn eine fliegende Echse erwischt, wenn Aira sie nicht im letzten Augenblick durch eine kräftige Böe weggeschlagen hätte. Nur für diesen kurzen Moment drehte sie Sebald und seiner Schlange den Rücken zu. Da spürte sie die Kälte des Schattens über sich.
Sie fuhr herum und sah den Körper der Schlange auf sich niedergehen. Gerade noch rechtzeitig sprang sie hinter eine der Säulen, ehe der massige Leib des Ungeheuers am Boden aufschlug. Todeszuckungen durchliefen die Schlange, während sie sich kreischend am Boden wand. Zuerst begriff Aira nicht, was passiert war, dann jedoch sah sie den steinernen Ring, der den Hals des Monsters so lange würgte, bis der letzte Atemzug aus seinem weit aufgerissenen Maul entwich. Endlose Erleichterung überkam sie.
Sie wandte den Blick zum Himmel und jubelte: »Wie gut, dass du ihn wiedergefunden hast, Grummler!«
»Und wie verdammt unklug, dass ich ihn erneut verloren habe!«, dröhnte die Stimme des hünenhaften Gargoyles, der dort in der Luft schwebte. Nie zuvor hatte sie Grummler fliegen sehen. Doch nun bewies der »Kleine«, wie Kayden ihn immer genannt hatte, welche Größe wirklich in ihm steckte. Auf seinem Rücken saß kein Geringerer als Mooley. Wahrhaftig – dieser verdammte Erdwirker wechselte die Seiten wie Jandors Hofdamen ihre Geliebten! Nun vollführte er eine langgezogene Bewegung mit beiden Armen und riss damit eine ganze Ladung von Gestein aus den umliegenden Felsen. Polternd ergoss sich die Lawine über die gepanzerten Angreifer, welche es gerade auf Kiesel abgesehen hatten. Man konnte also davon ausgehen, dass Mooley heute auf ihrer Seite kämpfte – auch wenn es Shizari gewesen sein musste, die ihn von Barshan Anur befreit hatte. Im Grunde war er kein einfacher Verräter, sondern ein doppelter. »Pass auf, Prinzessin, hinter dir!«, schrie er, doch die Warnung kam zu spät.
Mit einem Mal fraß sich ein heftiger Schmerz, scharf wie ein Biss, durch Airas Rücken. Unter Stöhnen drehte sie sich um und sah gerade noch, wie Sebald seine Peitsche zurückschnellen ließ. Ihr Umhang und das Mieder hatten zwar verhindert, dass die spitzen Zacken ihr das Fleisch von den Knochen gerissen hatten, dennoch spürte sie Blut über ihre Wirbelsäule rinnen.
Sie blickte tief in Sebalds grausame Augen, sah die Geister all der Menschen, die er gequält und gedemütigt hatte. Ein Orkan aus reiner Wut fegte durch ihre Adern. Dann hob sie die Hände und schleuderte Sebald zur Seite – mitten hinein in das immer noch weit aufgerissene Maul seiner toten Schlange. Ihre silbernen Zähne bohrten sich durch seine Brust. Blut sprudelte aus seinem Mund. Und im Sterben brachte er einen letzten Satz hervor: »Sieh! Sie kommt, um dich zu zermalmen!« Dann sackte sein Kopf zur Seite.
Aller Kampfeslärm verstummte. Die Wachsmonster zogen sich zurück, bildeten eine Gasse und neigten ehrerbietig ihr Haupt. Eine zierliche Gestalt kam auf sie zu, kleiner und menschlicher, als Aira sie sich vorgestellt hatte. Sie trug weder Waffen noch Rüstung, sondern nur ein schwarz gewirktes Kleid, das ihre schmale Statur betonte. Ihr Hals und die Fingerspitzen waren gänzlich von Dunkelheit durchdrungen. Darauf prangten fremd anmutende Zeichen in weißer Farbe. Kurz vor den tausend Säulen ließ sie sich auf die Knie niederfallen und hob ihre dünnen Arme zum Himmel. »Komm, Zerstörerin!«, säuselte sie und zeigte dabei eine Reihe schauderhaft spitzer Zähne. »Ich habe dir den Weg bereitet. Nun komm und verschlinge deine Feinde! Weide dich an ihrer Qual!«
Die Nacht schien von rauschender Schwärze angefüllt zu sein. Zischend ging ein Komet auf das Meer nieder und entfachte eine dunkle Flutwelle. Der nächste holte Grummler aus der Luft, schneller, als er überhaupt nach oben blicken konnte. In einem Hagel aus Gestein und sterbender Magie prasselten seine Bruchstücke zur Erde – und mit ihm Mooley, dessen Freiheit ihm keine Erlösung gebracht hatte. Er hatte die Wirker verraten und Leben ausgelöscht, Shizari in die Hände gespielt und sich am Ende doch dem Drängen seines Gewissens unterworfen. Vielleicht fand er im Tode endlich Frieden. Airas Kehle schnürte sich zu.
»Shizari!«, ertönte da auf einmal Waris’ Stimme und der Blick der Einen glitt zu ihr hinüber, dunkler als die Tiefsee, kälter als Sebalds Lippen. Breitbeinig und mit verschränkten Armen stellte die Numar sich direkt vor den Eingang der Kuppel. »Nicht du. Nicht Schlange. Nicht schwarze Himmelssteine. Keiner kommen an mir vorbei!«
»Allerliebst!«, wisperte die Dunkle, warf einen Schatten an die Außenwand der Kuppel und schlüpfte wie durch einen zweiten Eingang hinein. Das Letzte, was Aira hörte, war das Geräusch von knisternder Kälte, die den Eingang versiegelte.