– Kapitel 39 –
KAYDEN
Mit einem Ruck schloss sich das Tor und tauchte die Kuppel in ein sphärisches, goldwarmes Licht. Waris musste das getan haben, um ihn und Klecks zu beschützen.
Vollkommene Stille herrschte hier drinnen. Die Welt außerhalb dieser Mauern hatte keine Bedeutung mehr. Das Fuchsmädchen schaute an der Statue empor, die Arme über der dürren Brust gekreuzt, den Kopf in den Nacken gelegt, als wollte sie deren ungewöhnliche Haltung nachempfinden. Kayden schluckte eine aufkommende Unruhe hinunter. Sein guter, alter Soldatenbauch schwieg und dieses Mal machte ihm das eine verdammte Angst. Langsam setzte er sich, schlug die Beine unter und wartete, bis seine Zunge nicht mehr stillhalten konnte.
»Was meinst du damit, hier wird es enden?«, fragte er leise.
Klecks verwandelte sich in den lilafarbenen Fuchs, tappte auf ihn zu, rieb Flanke und Ohren an seinem Arm und sank nieder, den Kopf auf seine Knie gebettet. »Ich habe mir gewünscht, dass unsere Reise länger andauert. Ich habe es so sehr genossen, mit euch beiden zusammen zu sein. Das war schön.« Kayden kraulte ihren Nacken und das Wesen seufzte wohlig. »Eine Zeit lang fühlte es sich an, als hätte ich wieder eine Familie. Als wäre ich deine Tochter.« Sie stupste ihn mit der Schnauze an. »Du wärst ein guter Vater gewesen, weißt du.« Kayden fühlte sein Herz kaum noch. Es war ihm, als würde das Feuer darin ganz langsam verglühen. Die Erinnerung an Windtupfer lag dort, die seiner Mutter, Lina, Elris … Er ahnte, wohin dieser Moment führen würde.
»Ich werde das nicht tun«, knurrte er. Klecks erhob sich, wurde zu dem Mädchen, das ihn Hunderte Meilen lang mit ihrer naiven, herrlichen, unbeschwerten Art beinahe um den Verstand gebracht hätte. Er sah es an, dieses klapprige Ding mit dem schmutzigen Kleid und den blonden, verwuschelten Haaren. Stolz wie hundert Königinnen, stand sie da und hatte mehr Charisma als ein Drache.
»Hast du es denn nicht bemerkt, Nordmann?«, fragte sie unschuldig. »Dass ich mich vor deiner Flammenklinge hütete? Die Hitze mied?«
»Mag sein«, brummelte er und sein Blick fiel auf das Amulett, welches sie in der Hand hielt.
»Du bist sooo süß, wenn du das Offensichtliche versuchst zu ignorieren, so brummig und bärtig.« Sie lächelte ihn an. »Wie bei Aira.«
»Ich habe es ihr gesagt!«, verteidigte er sich.
»Nein, hast du nicht. Du hast ihr das Gefühl geschenkt, nicht die Worte.« Das Fuchsmädchen erschauderte. »Bitte zeige mir den Drachenzahn.«
Kayden wich vor ihr zurück. »Niemals!« Doch Klecks kam näher und er war unfähig aufzustehen und zu fliehen. Wie von einer anderen Macht gelenkt, zog er die Klinge aus dem Schultergurt. Seine Hand zitterte wie Espenlaub. Mit ihren großen, lila Ohren blieb sie vor ihm stehen, der Blick so fern von dem eines Kindes, wie er es nie gesehen hatte.
»Ich bin der fünfte, der verlorene Splitter, Kayden! Mein Dasein verbindet die anderen erst miteinander, macht sie vollständig, füllt sie mit Bedeutung, Gefühl und dem Geist der Liebe. Ich bin die Liebe! «
»Bei Nirahels Atem«, keuchte er.
Klecks kicherte. »Es stimmt, ich könnte Nirahels Tochter sein. Sie wusste, was Liebe wirklich ist. Es ist jener Moment, da du dich selbst erkennst und es akzeptierst. Dann kannst du alle Ketten loslassen.«
»Sie warf sich von einem Berg«, erwiderte er sinnlos.
»Sie folgte ihrer Bestimmung, Kayden. Sie erschuf die Liebe neu. In all den Geschichten über sie geht es nicht um Rache, den Tod oder die Feindschaft zwischen den beiden Clans. Es geht allein um den befreienden Kuss, um die endlose Leidenschaft zweier Seelen. Nirahel und Ravyn.«
Kaydens Hand hob sich, die Klinge begann zu leuchten. Mit aller Gewalt hielt er sie zurück. Klecks aber machte einen weiteren Schritt, bis die Spitze die Mitte ihres Brustkorbs berührte. Sie verzog schmerzhaft das Gesicht und Kayden liefen stumm die Tränen über die Wangen, seine Muskeln hielten die Waffe fern. Er würde das nicht zulassen, welcher Zauber auch darin wohnen mochte. Er war ein verdammter Steinschädel, ein Nordmann. Er konnte ewig hier sitzen und …
»Lass mich nach Hause gehen, Kayden!«, flüsterte das Kind und legte ihre weiche, zarte Hand an seinen Hals, sah ihm tief in die Augen, in denen Sterne zu fallen schienen. Sie schob die Hand weiter, bis in seinen Nacken. Kayden knurrte und zischte die grausame Anstrengung durch seine zusammengebissenen Zähne. Alles in ihm wollte schreien, doch keine Silbe fand ihren Weg. Dann zog sie ihn zu sich heran. Die Klinge bohrte sich in das weiße Kleid. Er keuchte, schrie endlich, als das Messer in Klecks Haut drang.
»Mache es mir doch nicht so schwer! Weißt du nicht mehr? Ich bin stärker, als ich aussehe.«
Kayden gab auf, sank nach vorn, in die Umarmung des Fuchsmädchens, und die Flammenklinge tat, wozu sie erschaffen worden war.
»Ich liebe dich«, sagte er und ein wunderschönes Lächeln erschien in ihren Augen, bevor es zu einem Funken zerstob und sich auflöste.
Ihre Blicke begegneten sich ein letztes Mal. Bestimmung auf der einen Seite, zerreißende Trauer auf der anderen. Kayden sah, wie Klecks sich in Rauch verwandelte, entschwand.
***
Die Zeit stand still.
Kayden stand still.
Und die ganze Welt mit ihm. Die Klinge glitt aus seiner Hand, fiel zu Boden.
Zu seinen Füßen lag das Amulett und daneben ein violetter Bergkristall, der wie eine perfekte Kugel geformt war. Er kniete nieder, nahm die schwarze Perle heraus und fügte Klecks’ Geschenk ein. Ein kurzes Glühen erfasste die fünf Steine, bevor auch dieses erlosch. Kayden erhob sich, ging zur Statue, starrte einen Augenblick die Vertiefung an und …
»Du wirst sterben, wenn du es versuchst«, erklang es hinter ihm.
Kayden hielt inne.
»Ich sagte ja, ich würde auf dich warten!« Er drehte sich um, ließ den Arm sinken und sein Blick huschte über seine Flammenklinge.
»Sie würde mich nicht verletzen, Wolfshall. Ihr Feuer würde einfach in der mächtigen Schwärze ertrinken.«
Er schaute auf, sah ihr direkt in die Augen. Es war etwas anderes, wenn man jemandem leibhaftig gegenüberstand. Und Kayden war gerade ein wenig enttäuscht. Das viele Schwarz, die gefärbten Finger, die Stirn, die Zeichen, es wirkte wie eine Täuschung, wie eine Lüge.
»Fallen die Kometen endlich?«, fragte er. »Kommt die Zerstörerin ? Unsere Strafe für diese Welt?« Die Frau kam auf ihn zu, mit erstaunlich klaren Augen.
»Die dunkle Schlange ist frei! Und mit ihr wird …«
»Was?«, fuhr Kayden dazwischen. »Was wird kommen? Deine Rache? Die allumfassende Finsternis? Tod und Hass auf ewig? Und wofür?« Er machte einen Schritt nach vorn. Klecks war bei ihm, sang in ihm. Shizari starrte ihn an. Ihre Finger bebten und feine Blitze verzweigten sich über den Kuppen.
»Es ist der Wille der Zerstörerin ! Ich bin ihr …«
»Du wirst mich nicht töten!«, unterbrach er sie abermals.
Die Eine fauchte, riss die Arme hoch. »Es muss enden!«, raunte sie.
Kayden aber packte eine ihrer Hände und strich mit dem Daumen über die schwarze Innenfläche. »Das ist es, was du dir gewünscht hast, nicht wahr? Einen Gefährten, einen, der deinen Schmerz versteht. Denn Feuer ist das Element des Schmerzes. Das ist der Ursprung deines Ichs. Und du glaubtest, dass auch ich daraus entstanden sei. Meine Mutter, Windtupfer, Elk und Lina. Das ständige Fortlaufen. All diese Träume, die du mir gesendet hast, die Verführungen, die Einblicke in deine Vergangenheit. Du wolltest dich mir zeigen, dich offenbaren. Damit ich es verstehe. Und schließlich nahmst du mir meine Erinnerungen an all jene Menschen, die mein Herz berührt haben«, sprach Kayden sanft, beinahe verständnisvoll. Die dunkle Zauberin blinzelte für einen Moment, verwirrt über diese Worte. »Ich habe gerade eines der wundervollsten Wesen auf der ganzen Welt getötet, damit das Licht weiter scheinen kann. Glaubst du wirklich, ich stehe hier und lasse dich gewähren?«
Shizari senkte das Haupt. Wieder erfüllte Stille die Kuppel. Dann aber kroch ein Lachen aus ihrer Kehle. »Dort draußen sind noch Hunderte Ungeheuer. Sie greifen an, jetzt, da du versuchst, meine Seele zu berühren. Nie wirst du sie verstehen, Nordmann, die befreiende Dunkelheit, die uns alle erlösen wird, wenn kein Gedanke mehr eine Grenze besitzt.«
Noch vor wenigen Minuten hatte das Licht in diesem Raum gesprochen. Und Kayden hatte das wesentlich besser gefallen.
»Weißt du, wer ich bin?«, fragte er.
Shizari zischte: »Ein … Nichtssss!«
Das Lächeln einer langen Reise stahl sich auf Kaydens Lippen. »Ich sah meine Mutter unter einem steinernen Sargdeckel verschwinden, stach gefrorenen Torf, schwamm nackt in der Klirrenden See . Ich begrub meine treueste Freundin unter einem Felsen, vergaß, dass Liebe voller Furcht und schwer wie ein Eichenast sein kann. Ich ging fort, fand Freunde, stahl, betrog und kämpfte. Eines Tages wurde ich nach Noskiris geschickt. An meiner Seite ein Fuchs, der heller leuchtete als all die verdammten Sterne dort oben.« Kayden legte Shizaris Hand auf seine Brust. »Und jetzt töte mich, Miststück!«
***
Sie tat es!
Schwarze Blitze ballten sich auf ihren Handflächen und mit einem Schrei, so laut, dass die Götter es hören mussten, stieß die Eine ihre gesamte Macht in Kaydens Leib. Er legte seinen Kopf in den Nacken, dachte an die vielen hundert Meilen, die hinter ihm lagen, ließ los.
Die Magie raste auf ihn zu, um ihn herum und fuhr ohne einen Laut in die Statue, vor der er verharrte.
Shizari wankte.
Kayden atmete.
Uralter Zorn traf auf uralte Magie.
Sie nahm die Schwärze in sich auf, verstand sie, umarmte und verschlang die ewige Finsternis. Auf Shizaris Antlitz verschwand die Dunkelheit, ebenso auf ihren Händen. Zurück blieb die Frau, nicht die Zauberin.
In der Kuppel sanken zwei Menschen zu Boden.
Die eine lief über weiches Gras, winkte aufgeregt ihrem Vater zu, der über einen Hügel kam. Er winkte zurück.
Der andere stand auf, ergriff das Amulett und fügte es in die Statue ein.
Die Hände aus Feuer erhoben das Licht.