– Kapitel 40 –
AIRA
Shizari hatte sie zum Sterben zurückgelassen. Wie Schlachtvieh, das einen unbedeutenden Tod starb, nicht wert, dabei gesehen zu werden. Sie war kaum in der Dunkelheit verschwunden, da stürzten sich die Wachsmonster von allen Seiten auf die Wirker. Schwarze Gesteinsbrocken regneten vom Himmel und über ihnen ertönte ein Geräusch, als öffnete sich der endlose Schlund eines riesigen Mauls.
Aira sah die Unbeugsamkeit in den Gesichtern ihrer Begleiter. Nephele, die ihre Arme ausbreitete, um ihre Familie hinein zu schließen. Timucin, in dessen Augen das Grün der Grasebenen stand. Kieserian, der stolz seinen Nacken dehnte, in welchem kein gebieterischer Schlüssel mehr saß.
Und Waris. Weiterhin stand die Numar vor der Kuppel, doch sie war die Einzige, die ihr Schicksal nicht akzeptierte. Mit einem Urschrei auf den Lippen riss sie eine Faust nach oben, wie besessen von der Illusion, jetzt noch etwas ändern zu können. Ihre Flotte war versenkt, ihre Drachen vom Himmel geholt, das Blut ihrer Krieger tränkte die Erde. Aber das Herz von Waris Zendaya schlug noch immer und sie würde kämpfen, bis es seinen allerletzten Schlag tat. Das Pulsieren ihrer hell leuchtenden Adern weitete sich aus, ehe es urplötzlich explodierte. Ein dumpfer Schlag rauschte über Aira hinweg. Schrilles Pfeifen ertönte in ihren Ohren und machte sie einen Moment lang taub.
Mitten im Lauf prallten die vier Wachsmonster, welche mit geifernden Mäulern auf sie zusprangen, gegen eine unsichtbare Barriere. Weniger als eine Handbreit vor ihrem Gesicht stürzten sie zu Boden und blieben benommen liegen. Aira wagte es nicht, einen Muskel zu bewegen. Sie wandte den Blick zur Seite und sah auch ihre Begleiter noch aufrecht stehen, endlose Verwirrung in ihren Gesichtern. Alle gleichzeitig drehten sich zu Waris um und sahen, wie das Licht aus ihrer geballten Faust sprühte und einen Schild bildete, genau wie jenen, den Orcas damals um das Kloster von Barshan Anur gelegt hatte. Dabei hielt sie ihre Augen in höchster Konzentration geschlossen.
Aira wusste nicht, wie lange der magische Schutzzauber halten würde, aber sie konnte die Leidenschaft spüren, mit welcher die neue oberste Wirkerin ihn erhoben hatte. Ganz gleich, was nun passierte: Die Tapferkeit, mit der Waris dem Tod ins Gesicht spuckte, würde in die Geschichte Avantlans eingehen – selbst wenn diese in wenigen Augenblicken endete.
Dann begannen die Spitzen der Säulen plötzlich zu glühen. Zunächst hielt Aira es für ein Flimmern des Lichtschilds, doch einen Herzschlag später begriff sie, was wirklich vor sich ging: Kayden und Klecks hatten es geschafft! Sie hatten das Medaillon vervollständigt und mit der Statue vereinigt. Die Augen der hellen Macht waren nicht länger blind!
Aus eintausend steinernen Stelen schoss gleißende Helligkeit in den Nachthimmel empor, vereinigte sich in einem triumphalen Tanz zu einer Säule aus Licht und riss die Zerstörerin von der Erde fort. Ehrfürchtig beobachteten die Wirker den uralten Kampf zwischen Gut und Böse, Hell und Dunkel, Leben und Tod.
Er endete am Zenit des Firmaments, wo das Licht die Finsternis zwischen die Sterne bannte und dann blitzförmig nach allen Seiten zurück auf die Erde schoss. Ein Funkenregen ergoss sich über die Wachsmonster und schmolz ihre Körper. Schwarze Soldaten fassten sich an die schmerzende Brust, ehe sie tot zur Seite kippten. Weit entfernt im Osten erhob sich die strahlende Scheibe der Sonne aus dem Ozean und erfüllte die Luft mit ihrer Wärme. Es war der erste Tag einer neuen Zeitrechnung.
Avantlan war frei!
Ein Zittern durchlief Airas Körper, sobald sie dessen gewahr wurde. Unsägliche Erleichterung stürmte durch sie hindurch. Waris, deren Haut nun wieder das natürliche Olivgrün ihres Volkes angenommen hatte, gab den Eingang der Kuppel frei und öffnete ihn. Nun würde Klecks hervorspringen, jubelnd und singend, um ihre Freunde in die Arme zu schließen und ein Lied auf ihren Sieg zu trällern. Doch stattdessen kam Kayden allein durch das Portal geschritten, einen schlaffen Körper auf seinen Armen. Sein Kinn bebte und an seinen Füßen schienen zentnerschwere Gewichte zu hängen.
»Du dunkle Zauberin getötet?«, rief Waris ihm entgegen.
»Sie hat es selbst getan. Dunkelheit vergeht im Licht, doch sie war zu zornig, um das zu verstehen.«
Da Klecks weiterhin nicht herauskam, lugte Waris in die Kuppel und schüttelte verständnislos den Kopf. »Wo Fuchs?«
Der Nordmann brachte keine Antwort heraus. Vorsichtig legte er Shizaris Leichnam auf die Erde. Dann traf sein Blick den von Aira.
Der Prinzessin entfuhr ein entsetzter Laut. Ohne zu wissen, was geschehen war, konnte sie jedes einzelne Detail in Kaydens Augen sehen: Das hellste aller Lichter war verglommen, die schönste aller Blumen verblüht. Sie rannte ihm entgegen und er fiel in ihre Arme, barg sein Gesicht in ihrer Halsbeuge, damit niemand die Tränen sah, die dabei von seinen Wangen liefen und in ihrer Haut versickerten.
Lange standen sie so da, dann machte er sich los und stellte sich den entsetzten Blicken der anderen. »Sie trug den letzten Splitter in ihrem Herzen. Meridiem gab mir die Flammenklinge nur zu diesem Zweck.«
Bei diesen Worten schlug Nephele sich eine Hand vor den Mund und stürmte davon. Aira konnte sie gut verstehen. Jeder einzelne Tod der letzten Stunden war einer zu viel gewesen. Doch keiner war so abgrundtief grausam wie der von Klecks. Er war wie ein Fleck auf dem weißen Kleid dieser neuen Zeit.
Selbst Waris konnte ihre Tränen nicht zurückhalten. »Ich gewusst, Fuchs hat Geheimnisse. Aber niemals gedacht – so schlimme!«
***
Sie schafften es nicht, dem Ort, an dem Klecks gestorben war, einfach den Rücken zu kehren. Unfähig, ihre Gefühle in Worte zu kleiden, verharrten sie noch lange bei den tausend Säulen.
»Sie wird Bildnis erhalten – auf Barshan Anur«, beschloss Waris irgendwann.
»Du willst auf die Insel zurückkehren?«, fragte Kiesel, dessen steinernes Gesicht tiefe Falten trug.
Die Numar nickte. »Kloster braucht oberste Wirkerin. Ich werde lehren viele Schüler.«
»Dann bringe ich dich dorthin. Auch meine Seele sehnt sich nach Ruhe. Lass uns Grummlers Überreste mitnehmen, obwohl kein Leben mehr darin wohnt. Und … auch Mooleys. Er war ein Verräter, aber er starb im Kampf für die Wirker.«
Das Leben würde tatsächlich weitergehen, wie Aira in diesem Moment begriff. Seit sie Noskiris verlassen hatte, hatte sie keine Sekunde lang über die Lichtsplitter-Suche hinausgedacht. Nie hatte sie sich gefragt, wie eine Welt ohne Shizari aussehen würde oder ob vielleicht doch eine Frau auf dem Thron von Jandor sitzen konnte.
Sie stieg über die Leiber der toten Monster hinweg und richtete ihren Blick auf das Meer hinaus, dessen Wellen so friedlich schwappten, obgleich ihre Gischt von Blut getränkt war. Zahlreiche tapfere Krieger waren dort gefallen. Drachen und Fjeld lagen tot am Strand – Seite an Seite wie in den alten Geschichten.
»Ich bin der König eines ausgelöschten Volkes«, sagte Timucin, der hinter ihr hergekommen war. »Weil ich auf die Worte meiner Mutter gehört und die Wirker unterstützt habe. Nun seht, Nirahel, was das Ergebnis meiner Herrschaft ist.«
Es war kein Vorwurf, der aus seiner Stimme sprach, aber erdrückende Schwermut, über die er keine weiteren Worte verlieren würde. Auch seine Art zu trauern war die gleiche wie Kaydens.
»Das freie Volk kann nicht ausgelöscht werden«, antwortete Aira. »Ihr seid der Anführer vieler mutiger Frauen, Kinder und junger Männer, die Euch brauchen, um die Grasebenen mit neuem Leben zu füllen. Es beginnt schon jetzt, seht, dort!« Sie deutete auf ein Pferd, das sich soeben unter den Flügeln eines toten Drachen erhob und ziellos ein Stück den Strand entlang galoppierte. Die Verluste, die sie alle erlitten hatten, waren immens, doch es war immer noch etwas übrig, wofür es sich zu kämpfen lohnte.
»Ich kann dir helfen, Häuptling«, ertönte mit einem Mal Nepheles Stimme neben ihnen. »Von Pferden habe ich nicht viel Ahnung, aber ich weiß immer, wo die nächste Wasserstelle zu finden ist. Und eine Nomadin bin ich ohnehin seit langer Zeit.«
Timucin betrachtete Nephele, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen. Und Nephele hielt seinen Blick, als würde er nicht stechen.
»Woraus ist dein Herz gemacht?«, fragte der König schließlich.
»Aus Wasser, nehme ich an. Und deins?«
»Aus Eisen.«
»Ich werde es nicht zum Rosten bringen«, versprach die junge Frau.
Timucin fasste nach einer ihrer Haarsträhnen und rieb sie zwischen seinen Fingern. »Du hast Rabenhaar.«
Sie nickte.
Eine leichte Unruhe überkam den Fjeld, als Kayden zu ihnen trat und Nephele auf eine Art ansah, die Aira nicht ganz behagte. Es war unmöglich, in seinem Gesicht zu lesen, was er gerade dachte, aber Aira glaubte, dass so etwas wie Abschied in seiner Miene lag, gemischt mit einem Hauch von Eifersucht. Timucin ließ Nepheles Haarsträhne aus seinen Fingern gleiten. Es war wohl an der Zeit, die Brüder miteinander bekannt zu machen.
»Kayden … Dorka hat mehrere Söhne geboren …«
»Und alle außer einem haben ihr Leben ausgehaucht«, antwortete Kayden, ehe er begriff, was sie ihm sagen wollte. Dann presste er die Lippen aufeinander und starrte den Fjeld-Krieger an, der ihm auf so viele Arten ähnlich war. Eine kleine Ewigkeit lang sagte keiner der beiden ein Wort.
»Ich habe einen Bruder«, stellte er schließlich fest.
Timucin nickte, Dorkas ungebrochenen Willen im Blick. »Erzähl mir, wie sie starb!«
Kayden griff nach Airas Hand und wandte sich zum Gehen. Doch nach einigen Schritten drehte er sich noch einmal um. »Wenn etwas Zeit vergangen ist, werde ich nach deinen Zelten suchen. Dann erzähle ich dir, wie sie gelebt hat.«