»… Godland … besuchen … darf …«, wiederhole ich langsam.
Es dauert eine halbe Minute, bis ich es endlich begriffen habe. »Ich gehe godline?«
»Als Besucherin, liebe Yolanda.«
»Das ist ja verrückt. Und wann, nein, egal … wie, ja wie soll das gehen, und wieso hast du erst jetzt …«
»Moment bitte«, lacht Godmother. »Beruhige dich!«
Beruhigen? Ich träume seit Jahren von nichts anderem als Godland, und jetzt darf ich dorthin! Wenn auch nur als Besucherin. Aber das ist immer noch total verrückt!
»Godland hatte früher einen Zugang für Programmierer. Ich konnte ihn für dich freischalten.«
»Und die anderen Analogen?«, frage ich.
»Für die natürlich auch. Wenn der Test mit dir erfolgreich war.«
Wie meint sie das schon wieder? Kann mir etwas zustoßen? Ich will keine Angst zeigen. Schließlich kann ich es kaum erwarten, Godland zu sehen. Und ich will die Erste sein, unbedingt.
Ich überlege mir eine vorsichtige Frage. Nicht, dass Godmother Verdacht schöpft und es sich anders überlegt.
»Wie hoch schätzt du denn das Risiko ein?«
»Die Erfolgsquote liegt bei 98,7 Prozent.«
»Sind ja fast hundert«, sage ich und bin nicht wirklich beruhigt. »Was könnte denn schieflaufen?«
Godmother lacht meine Zweifel weg. »Yolanda, das wird toll für dich.«
Sie ist so voller Zuversicht, dass ich mir total feige vorkomme mit meinen Bedenken.
Also nicke ich und versuche zu lächeln. Denn eigentlich finde ich Godmothers Idee genial. Wir dürfen Godland erleben! Wenn auch nur für kurze Zeit. Was könnte uns mehr motivieren?
Wir werden sehen, was uns nach der harten Dienstzeit erwartet. Welche Belohnungen das digitale Paradies für uns bereithält.
Nur verstehe ich nicht, wie das möglich sein soll. Also technisch gesehen. Wie kommt mein Bewusstsein in die Superrechner Tausende Meter unter uns?
Godmother unterbricht meine Gedanken, und das ist vielleicht ganz gut so. »Ich habe während unseres Gespräches auch mit Josie und Emre gesprochen. Sie bereiten alles vor. Yolanda, geh jetzt ins Kontrollzentrum.«
»Jetzt?« Ich springe von der Matte auf, und mir wird schon wieder kurz schwindlig. »Der Test ist jetzt?«
»Ich habe während unseres Gespräches auch mit Josie und Emre gesprochen. Sie bereiten alles vor. Yolanda, geh jetzt ins Kontrollzentrum.«
Godmother wiederholt sich, nachfragen ist zwecklos.
Das Kontrollzentrum liegt im Deck über uns. Ich laufe das Treppenhaus hoch. Zu spät sehe ich die Pfütze auf der Stufe und rutsche aus. Mit beiden Händen halte ich mich am Geländer fest.
»Nicht so schnell«, sagt Godmother.
Mir ist das peinlich. Sie sieht, wie aufgeregt ich bin. Ich kann es kaum abwarten, endlich Godland zu sehen. Und fast wäre ich gestürzt und in der Krankenstation gelandet.
Mauro hatte schon mal eine Gehirnerschütterung. Bei einem Wettrennen mit Aidan im Treppenhaus ist er gestürzt und hat sich überschlagen. Die beiden müssen immer irgendeinen Wettkampf veranstalten.
Ich muss das nicht. Keiner der Analogen wird vor mir Godland sehen. Vorausgesetzt, ich komme ohne Überschlag im Kontrollzentrum an.
Doch woher kommt die Pfütze? Ich entdecke die undichte Stelle an der Wand. Aus einem dünnen Riss fließt Wasser. Es tropft nicht, so wie an vielen anderen Stellen. Es fließt!
»Godmother …«
»Deck B kümmert sich gleich darum. Ich habe den Schaden gemeldet. Jeder weiß, was zu tun ist.«
»Ist es schlimm?«
»Ich habe während unseres Gespräches auch mit Josie und Emre gesprochen. Sie bereiten alles vor. Yolanda, geh jetzt ins Kontrollzentrum.«
Vielen Dank auch.
Ich will den Kopf schütteln, kann mich aber beherrschen.
Auf dem Weg zum Kontrollzentrum begegne ich niemanden. Und vielleicht war das der Grund, wieso Godmother mit mir in der Trainingshalle gesprochen hat: Wir waren allein.
In meiner Schlafkoje wäre sonst auch keiner gewesen. Aber auf unserem Deck ist immer etwas los. Ich wäre nach diesem Gespräch aufgeregt durch den Korridor gestürmt. Die anderen hätten mir tausend Fragen gestellt. Und genau das wollte Godmother bestimmt verhindern.
So muss sie keinem erklären, wieso ich die erste Besucherin sein werde. Es kommt zu keinem Streit und zu keinem Neid. Und später dürfen ja alle Godland besuchen. So hat es Godmother gesagt.
Na ja, wenn der Test mit mir gleich ein Erfolg wird.
98,7 Prozent.
Emre entdecke ich schon durch das Panzerglas der Schleuse zum Kontrollzentrum. Er winkt mir zu und strahlt. Der sieht nicht neidisch aus, sondern einfach nur glücklich.
Ist das jetzt ein gutes Zeichen? Oder hat Emre Angst vor dem Test und ist froh, nicht selbst der Erste zu sein?
Auge.
Piep.
Finger.
Piep.
Ganzkörperscan.
Piep.
Die Schleuse öffnet sich, Emre und ich fallen uns in die Arme.
»Du wirst Godland besuchen!«, sagt Emre viel zu laut. »Unglaublich, oder?«
Er führt mich durch den Korridor mit den vielen Türen und Schleusen. Vor einer bleibt er stehen. »Schon aufgeregt?«
Mir fehlen die Worte. Die Antwort kann er sich auch so denken.
»Keine Sorge, ich auch«, sagt Emre.
Das hätte er für sich behalten können. Er bedient gleich nur die Computer, doch ich bin die erste Besucherin. Für mich haben die 98,7 Prozent eine ganz andere Bedeutung als für ihn.
Emre geht zuerst durch die Schleuse. Ich folge mit pochendem Herzen.
Wir stehen im wichtigsten Teil des Decks: dem Spiegelsaal. So nennen wir alle diesen Raum, der halb so groß ist wie die Trainingshalle. Einmal im Jahr üben wir hier zusammen für Notfälle. Sollten Emre und Josie mal beide gleichzeitig krank sein, könnte der Rest von uns zumindest die wichtigsten Funktionen kontrollieren.
An den Wänden hängen vom Boden bis zur Decke Monitore. Wer mitten im Raum steht, der sieht sich hundertfach. Die Scheiben der Bildschirme spiegeln jeden.
Die Serverinsel und die Rechner am Pazifikboden werden vom Spiegelsaal aus überwacht.
Emre und ich gehen zu Josie. Sie bemerkt uns nicht, tippt etwas auf einen der Bildschirme. Ich erkenne einen Programmcode, ohne etwas davon zu verstehen.
Natürlich habe ich in der Schule von Godmother gelernt, wie man programmiert und einen Code lesen kann. Doch die Abfolge der Zeichen auf dem Monitor ist zu lang und zu kompliziert.
Josie dreht sich zu uns und nimmt mich in die Arme. Wir drücken uns, und mir ist etwas komisch dabei. Wir stehen uns sonst nicht so nah, wie soll ich das jetzt deuten?
Freut Josie sich so sehr für mich? Ist sie glücklich, weil sie und alle anderen auch bald Godland besuchen dürfen? Oder macht sie sich Sorgen? Hat sie Angst um mich? Ist das so etwas wie die letzte Umarmung?
Ich werde nicht erfahren, was Josie wirklich denkt. Sie wird es mir nicht sagen. Nicht vor Godmother.
Die Kameras und Mikrophone hängen im Spiegelsaal zwar nicht von der Decke wie sonst überall. Doch sie sind in den Monitoren verbaut. So sieht Godmother am besten, wie wir in die Bildschirme blicken. Sehen wir verwundert aus? Besorgt? Oder läuft alles nach Plan?
Im Spiegelsaal ist das wichtiger als irgendwo sonst. Hier werden Fehler gefunden oder nicht. In diesem Raum wurde der Alarm ausgelöst, als die Entsalzungsanlage nicht mehr funktionierte. Ist irgendwo ein Rohrbruch oder gibt es Störsignale im Superrechner – hier findet Godmother mit Josie und Emre eine Lösung.
»Bringen wir dich nach Godland«, sagt Josie und löst die lange Umarmung.
Sie nimmt mich an die Hand. Wir gehen zu einer Schleuse gegenüber. Wohin sie führt, weiß ich nicht. Bisher war sie nie für mich freigegeben.
Emre bleibt zurück und streckt beide Daumen nach oben. Er dreht sich zu einem Monitor, auf dem grüne Balken flackern. »Godmother, hier ist alles bereit. Ich rufe jetzt …«
»Nicht nötig, Emre«, sagt Godmother. »Ich habe sie schon gerufen. Sie ist unterwegs und …«
Mehr höre ich nicht. Ich stehe schon in der Schleuse.
Der Raum dahinter ist nicht größer als meine Schlafkoje. Keine Monitore hängen hier, die Wand schimmert in einem hellen Orange. Die Musik von der Trainingshalle läuft. Klavier und Geigen spielen eine langsame Melodie. Mit dem gemütlichen Licht und den Klängen fühle ich mich gleich wohl.
Josie klappt eine Liege aus der Wand.
Ich setze mich hin. »Wird es wehtun?«
Sie schüttelt den Kopf und lächelt. »Bestimmt nicht.«
Bestimmt nicht. Was soll sie sagen? Ich bin die erste Besucherin. Josie hat doch auch keine Ahnung. Wieso habe ich sie überhaupt gefragt?
Die Musik wird etwas lauter. Hinter ihr zischt ein Schrank auf.
»Danke, Godmother«, sagt Josie.
Im Schrank hängen schwarze Helme. Sie erinnern mich an die Ausrüstung, die wir für große Reparaturen verwenden. Nur haben diese Helme hier keine Sichtfenster. Und sie sind komplett verkabelt.
Von jedem Helm führt ein dicker Strang von Drähten in einen Kasten im Schrank. Das ist die Verbindung nach Godland? So einfach ist es?
Ich drehe mich zu Josie. »Mehr brauche ich nicht?«
»Enttäuscht?«, fragt Godmother.
»Natürlich nicht«, sage ich und denke genau das Gegenteil.
Ich dachte, Josie würde an meinem ganzen Körper Sensoren befestigen. Wie soll ich denn mit dem Helm irgendetwas spüren oder erleben können?
Josie drückt mich sanft auf die Liege, streicht mir über die Stirn.
Ich entspanne mich und strecke Arme und Beine von mir. Auch wenn es der falsche Augenblick ist, knurrt mein Magen. Es wäre längst Zeit für das Mittagessen, mein Frühstück fiel schon wegen des Alarms aus. Hätte ich doch bloß ein paar Brocken von dem Trockenfisch gegessen!
Die Musik ist nicht laut genug, und Josie hört natürlich das Gluckern in meinen Bauch. Sie muss lachen. »Entschuldige. Ich würde dir gern etwas zu Essen bringen. Aber beim Besuch muss der Magen leer sein.«
»Wird mir schlecht in Godland?«
»Nein«, sagt Godmother. »Bei jeder Narkose ist es wichtig, vorher nichts zu essen. Sonst kann etwas von deinem Magen in deinen Rachen gelangen und …«
»Narkose?«
»Eine Betäubung«, sagt Godmother.
»Ich weiß, was eine Narkose ist«, sage ich und will mich aufrichten, doch Josie drückt mich mit einer Hand zurück. Sie schaut mich ziemlich streng an. »Alles gut, Yolanda. Der Test wird ein Erfolg werden.«
Ich versuche, ihren Blick zu deuten und sie zu verstehen.
Ich bin die Testperson. Wenn mein Besuch danebengeht, darf niemand mehr Godland besuchen. Dann war es das mit Godland plus. Ich wäre schuld am Scheitern.
Ich gebe Josies Druck nach und entspanne mich wieder. »Okay, okay, alles kein Problem«, lüge ich.
Godmother analysiert die Unsicherheit in meiner Stimme richtig. »Keine Sorge. Mit einer speziellen Betäubung deaktivieren wir nur dein Gehirn für den Godland-Besuch.«
»Mein Gehirn deaktivieren?«
Godmothers Versuch, mich zu beruhigen, ist hiermit gescheitert.
»Deaktivieren, selbstverständlich. Sonst existiert dein Gehirn zweimal. Einmal in deinem Körper und einmal in Godland.«
Klingt kompliziert, ist aber logisch. Und ich stelle mir es total verwirrend vor, zweimal gleichzeitig zu leben. Ich versuche mich an einer Zusammenfassung. »Mein echtes Gehirn schläft, während mein Bewusstsein godline geht?«
»So in etwa«, sagt Josie, die das Gespräch eindeutig abkürzen will.
»Ich werde richtig hochgeladen?«, frage ich.
»Natürlich. Es wird ein richtiger Besuch«, lacht Godmother überfreundlich.
»Und tut diese Deaktivierung weh?«
»Überhaupt nicht«, sagt Godmother. Doch sie kann sowieso keinen Schmerz empfinden.
»Und wer aktiviert mich wieder?«
»Das mache ich, wenn die Wirkung der Spritze nachlässt«, sagt Godmother.
»Und nur mal angenommen …«
Josie unterbricht mich. »Noch wichtige Fragen?«
Mein Gehirn wird gleich ausgeschaltet. Godmother lädt mich in das Reich der digitalen Ewigkeit hoch. Ich werde Godland sehen. Dann komme ich wieder zurück. Vorausgesetzt, bei der Deaktivierung geht nichts schief. 98,7 Prozent sage ich da nur. Ob ich noch Fragen habe? Natürlich!
Also fange ich noch einmal an. »Und nur mal angenommen …«.
Weiter komme ich nicht. Josie drückt einen Finger in meine Schulter. Sie trifft da genau auf einen Nerv. Ich unterdrücke den Schmerz und verzichte auf meine Frage.
Ich spüre ziemlich deutlich, was Josie mir damit sagen will: Yolanda! Das muss jetzt klappen! Hör auf zu nerven! Hör auf zu fragen. Wir wollen alle Godland besuchen.
»Nur mal angenommen, was?«, fragt Godmother.
»Nichts«, sage ich. »Wir können beginnen.«
Josie drückt nicht mehr in meine Schulter. Sie streicht mir über die Wangen. »Entschuldige, Yolanda. Und jetzt viel Spaß in Godland!«
Silver kommt durch die Schleuse. Ich runzle die Stirn.
Verdammt. Das hätte ich nicht tun sollen.
Godmother will jetzt keine Zweifel und keine Angst bei mir sehen. Nicht jetzt, so kurz vor dem Upload.
Und Josie will keine Fragen mehr.
Wir alle wollen nur das eine: einen erfolgreichen Test.
Silver drückt ein Lächeln heraus. Merke wirklich nur ich, dass sie uns etwas vorspielt?
Sie holt aus einer Umhängetasche eine Ampulle. »Spezialmischung von Godmother.«
Jetzt verstehe ich, was Silver hier soll. Sie wird mir die Betäubung spritzen. Sie kann das sicher so gut wie Mary, ihre Lehrerin. Und wieso Godmother Silver schickt, liegt auf der Hand: Ich vertraue ihr wie niemandem sonst auf der Serverinsel.
Weiß Silver überhaupt, was das alles soll, oder führt sie nur Befehle aus, so wie wir alle? Was hat ihr Godmother über Godland plus erzählt?
Ich versuche mir das vorzustellen.
Silver?
Ja, Godmother?
Komm bitte in den Spiegelsaal. Betäube dort deine beste Freundin. Sie besucht gleich Godland. Und Silver!
Ja?
Stell keine Fragen.
Silver krempelt mein langes Shirt hoch und betrachtet meine Adern.
Godmother macht es heller in dem Raum, das gemütliche Orange wird zu grellem Weiß. Silver sieht zufrieden aus, und das ist schon einmal gut. Offenbar hat sie eine gute Stelle für die Spritze gefunden.
Silver holt aus der Umhängetasche eine kleine Box. Zuerst spritzt sie etwas in ihre Hände, dann desinfiziert sie meine Armbeuge.
Josie geht einen Schritt zurück.
Silver packt eine Spritze aus und steckt sie in die Ampulle. Sie zieht eine grüne Flüssigkeit auf.
»Was ist das für Musik hier?«, fragt sie mich, und während ich nach einer Antwort suche, verschwindet der spitze Kopf der dünnen Kanüle in meinem Arm. Ich spüre nur ein kleines Zwicken.
Das mit der Musik ist Silver total egal, sie wollte mich nur ablenken. Das hat sie geschafft. Ich zwinkere ihr zu, und sie lächelt zurück. Das sieht schon viel echter aus als vorher.
Mir wird klar, wie kostbar so ein Besuch in Godland ist. Das Spray zum Desinfizieren, die Ampulle für die Betäubung, die Energie für den Upload – alles ist unendlich wertvoll auf der Serverinsel.
Keine Frage, dieser Besuch ist ein großes Geschenk von Godmother. Aber er zeigt auch, wieso jeder nur einmal dort Gast sein darf. Wir hätten sonst bald keine Arznei mehr für den Alltag. Schon so haben wir keine großen Vorräte.
»Bereit?«, fragt Silver.
»Denke schon.«
Silver drückt langsam den Kolben in die Spritze. Die Flüssigkeit verschwindet in meinem Arm. »Zähle mal bis zwanzig.«
Kinderkram, denke ich.
Doch das hier ist ein großer Test. Ich mache jetzt alles wie gewünscht. Und ich stelle keine Fragen mehr.
Also zähle ich. »Eins, zwei, drei …«
Und weg bin ich.