»Mum!«

Ich umarme sie und drücke mein Gesicht an ihres. Das Schiff wackelt, doch wir kentern nicht.

Ich spüre ihre Tränen auf meiner Wange. Ihre Wärme. Das fühlt sich so echt an.

»Hör zu«, flüstert Mum. »Wir haben nicht viel Zeit. Du bist nur Besucherin.«

»Ich weiß«, schluchze ich. Und ich weiß auch, das ist nicht Mum.

Mum ist tot!

Sie ist im Ozean ertrunken. Und doch tut es so gut, sie endlich wiederzusehen. Und sogar zu fühlen! Und das zählt jetzt für mich.

»Du bist groß geworden«, sagt Mum.

Ich wische mir die Tränen aus den Augen und schaue sie an. Sie sieht aus wie damals, obwohl zehn Jahre vergangen sind.

Etwas in mir will mich wachrütteln.

Yolanda!

Natürlich sieht Mum so aus! Wie sonst? Sie ist ein Code, der

Ich verdränge den Gedanken. Ich will mich nicht wachrütteln lassen. Ich will Zeit mit meiner Mutter verbringen, mit ihr reden. Auch über Dad müssen wir reden. Unbedingt. Oder vielleicht müssen wir das auch nicht. Er wird bald selbst Besucher sein.

Jeder von uns Analogen darf doch einmal Godland besuchen. Dann wird Dad das alles sehen und fühlen. Und er wird dann nicht mehr an Godland zweifeln, er wird sich auf den Upload freuen. Garantiert.

»Wie lange haben wir Zeit, ich will dich so viel fragen und …?«

Sie legt einen Finger auf meine Lippen. »Bald haben wir alle Zeit der Welt!«

Bald? Mein Bauch verkrampft sich, so sehr tut mir dieser Satz weh. »Mum! Ich muss noch neunzehn Jahre arbeiten!«

Sie wischt mit ihren Fingern meine Tränen weg.

Das Licht explodiert.

»Mum!«, rufe ich. »Warte!«

Doch da ist nichts mehr. Nur ein weißes Licht.

Dieses Mal wird es nicht blau, es bleibt weiß.

Keine Ahnung, ob das jetzt ein Problem ist.

Der absolute Absturz?

Das endgültige Ende?

98,7 Prozent klang recht sicher.

Doch es sind eben keine 100 Prozent.

»Sie ist wach!«, sagt jemand.

Und das klingt nicht nach einem endgültigen Ende. Da würde ja keiner mehr mit mir sprechen.

»Yolanda, hörst du mich?«

Das ist Silvers Stimme.

»Alle Körperdaten sind im Normbereich.«

Und das war Godmother. Klar, sie rechnet wieder irgendwas aus.

Ich erkenne Silver, die mir mit einer grellen Lampe in die Augen leuchtet. Dann macht sie das Ding endlich aus.

Ich liege in dem winzigen Raum neben dem Spiegelsaal. Mein Bewusstsein ist wieder dort, wo mein Körper die ganze Zeit war: auf der Serverinsel.

»Hab mir Sorgen gemacht«, sagt Silver und küsst mich auf die Stirn.

Sie zieht eine Kanüle aus meinem Arm, ein Schlauch führt zu einem Behälter mit einer durchsichtigen Flüssigkeit.

»Wieso musste das Zeug da …«

»Sonst wärst du ausgetrocknet.«

Na ja, denke ich, in einer halben Stunde trocknet keiner aus.

Silver verstaut alles in einem Schrank.

Josie lehnt an der Wand und hält den verkabelten Helm unter dem Arm. Ihr Daumen zeigt nach oben, sie grinst überglücklich. »Und? Jetzt erzähl doch mal …«

Silver unterbricht Josie sofort. »Nicht jetzt! Yolanda braucht Ruhe. Hilf mir mal lieber!«

»Schon gut, Frau Doktor.« Josie zieht mich mit Silver von der Liege hoch.

Im Sitzen wird mir kurz schwarz vor Augen, dann geht es wieder. Ich stehe auf und bin total wacklig auf den Beinen. Es ist fast so wie im Ruderboot.

Im Spiegelsaal wartet Emre auf mich. »Und? Wie war es?«

»Sie braucht erst mal Ruhe«, antwortet Silver.

Gute Idee. Mir ist auch ein wenig schlecht. Und ich habe immer noch Hunger. Das mit Muriels Suppe in der Holzhütte war ja nichts. So wie mit Finn und dem Kuss übrigens. Aber ich will nicht nachtragend sein. Ich habe Mum gesehen.

Silver begleitet mich zu meiner Schlafkoje. Keiner kommt uns im Treppenhaus und unserem Deck entgegen. Wo sind die alle?

Auch Silver muss Tausende Fragen an mich haben. Sie stellt mir aber keine einzige.

Natürlich ahne ich, wieso sie schweigt. Ich kann nur das antworten, was Godmother hören darf. Und das interessiert Silver nicht. Sie will die Wahrheit wissen. Wie war Godland wirklich?

Aber wieso führt mich Silver dann nicht auf das Freideck?

»Frische Luft?«, frage ich Silver.

Auch wenn das jetzt etwas spät kommt, wir stehen ja schon vor meiner Koje. Silver hätte früher dran denken können. Ich bin von dem Betäubungszeug fix und fertig.

»Das Freideck ist leider gesperrt«, antwortet Godmother.

»Ein Unwetter?«, frage ich.

»Nein«, sagt Silver. »Wegen der Sache mit Mary.«

»Dem Unfall«, korrigiert Godmother sie.

Silver begleitet mich in meine Koje und hilft mir ins Bett. »In sieben Stunden hole ich dich zum Frühstück ab.«

Frühstück? Das kann nicht sein. Beim Frühstück gab es doch den Alarm. Danach hat mir Godmother das mit Godland plus,

Silver sieht meine Verwirrung und macht das Licht aus. »Es ist mitten in der Nacht. Du warst zwei Tage in Godland.«

Zwei Tage!

Ich versuche auszurechnen, wie viel Mahlzeiten ich verschlafen habe. Kein Wunder, dass ich fast verhungere. Deswegen auch das mit der Kanüle und der Flüssigkeit – von wegen austrocknen und so.

»Zwei Tage«, wiederhole ich. »Hat sich nicht so angefühlt.«

Silver lächelt nur müde. Vermutlich hat sie kaum geschlafen seither.

Und das meinetwegen. Sie hat sich garantiert Sorgen gemacht. Vielleicht musste Silver mit Godmother meine Körperdaten überwachen, und das zwei Tage lang.

Silver deckt mich zu und will gehen. »Schlaf jetzt.«

»Silver!«

»Was denn noch, du Nervensäge?«

»Danke für alles.«

Silver winkt ab und lächelt. »Ich durfte die zwei Tage auch Pausen machen.«

Godmother räuspert sich. »Und die Pausen hat Silver nicht allein verbracht.«

Silver verdreht die Augen.

»Ach so, Tian?«, sage ich und wundere mich selbst über den seltsamen Ton in meiner Stimme. Dabei bin ich nicht eifersüchtig, falls etwas zwischen den beiden läuft. Es ist nur einfach so: Je mehr Zeit sie miteinander verbringen, desto weniger Zeit haben sie für mich!

Silver nickt. »Godmother hat bei uns eine Ausnahme gemacht.« Sie schaut in die Kamera über meinem Bett. »Danke!«

»Gern geschehen, Silver. Ihr seid ein tolles Paar.«

Das hat Muriel auch über Finn und mich gesagt. Nur hat sie sich da geirrt. Finn ist wirklich nett, mehr aber nicht.

Ein tolles Paar.

Kaum ist Silver fort, drehe ich mich im Minutentakt von links nach rechts. Ich kann jetzt unmöglich einschlafen.

»Godmother.«

»Yolanda, du musst ein wenig schlafen.«

»Und ich muss dich etwas fragen.«

»Schlafen wäre wichtiger«, sagt sie.

»Kann ich erst, wenn ich Antworten habe.«

Godmother hat jetzt ein Problem. Gesundheit geht vor, deswegen müsste ich wirklich schlafen. Und sie weiß: Sorgen und offene Fragen hindern uns Analoge daran. Das Gedankenkarussell dreht sich. Wir finden nicht zur Ruhe.

Gedankenkarussell.

Das Wort haben mir die Alten beigebracht. Früher gab es Jahrmärkte mit lustigen und verrückten Geräten. Bei einem setzte man sich auf ein Pferd oder einen Elefanten, drehte sich im Kreis, bis einem schwindlig wurde. Ich war nie auf so einem Jahrmarkt gewesen. Ich habe auch noch nie ein echtes Pferd gesehen und erst recht keinen Elefanten.

»Also gut, Yolanda«, sagt Godmother. Offenbar habe ich mich lang genug im Bett herumgewälzt. »Stelle deine wichtigste Frage.«

»Drei Fragen!«

»Okay«, sage ich. »Dann eben zwei. Erstens, welche Rolle spielt Muriel?«

»Sie ist die klassische Helferin in Godland.«

»Aha. Helferin.«

»Du brauchst doch in Godland eine Person, die dir alles erklärt. Die dir zur Seite steht bei allen Fragen.«

»Gibt es so eine Helferin später auch im echten Godland?«

»Ist das die zweite Frage?«

»Nein, eine Nachfrage zur ersten.«

Godmother lacht. »Nein, keine Nachfragen.«

»Okay, dann ist es eben die zweite Frage.«

»Das war dein eigenes, echtes Godland. Finns Godland ist wie dein Godland, daher habt ihr dieselbe Heilerin. So eine Simulation ist manchmal auch verwirrend. Da hilft die Meta-Ebene.«

»Meta-Ebene«, wiederhole ich. Natürlich kapiere ich kein Wort. Aber Fragen darf ich keine mehr stellen. Godmother ist gnädig und erklärt es trotzdem.

»Zwischendurch muss man Dinge besprechen, braucht man jemanden, der einem die Simulation erklärt. Natürlich können nicht alle in deiner Simulation alles wissen. Sonst …«

»… fühlt es sich nicht real an. Ich hab’s kapiert.«

Und mir wird noch etwas klar. »Deswegen hast du nicht reagiert, als ich nach dir gerufen habe.«

»So ist es. Ich tauche in Godland nur als deine Heilerin auf.«

Ich decke mich zu und versuche wieder einzuschlafen.

»Yolanda«, sagt Godmother. Was will sie? »Deine Schlafposition!«

Ach so, richtig. Ich drehe mein Gesicht wieder zur Decke. Bis

Godmother kann beruhigt sein. Aber ich bin es nicht, denn etwas geht mir weiterhin durch den Kopf.

»Godmother.«

»Was denn noch?«, fragt sie leicht genervt.

»Ich hätte wirklich gern länger mit meiner Mum gesprochen.«

»Mit deiner Mutter?«

»Ja, am Ende der Simulation. Ich hätte gern mehr Zeit mit meiner Mutter gehabt. Es war schön mit ihr.«

Godmother schweigt. Abstürzen kann sie nicht. Zumindest ist mir das nicht bekannt. Was ist los? Ich bin schon fast eingeschlafen, da meldet sie sich plötzlich.

»Ich habe alle Daten überprüft. Deine Mutter war nicht in deiner Simulation.«