Die Tage vergehen. Dad sehe ich nicht. Silver bringt ihm das Essen in die Koje.
Ich hatte keine Zeit, mir um Dad Sorgen zu machen – dem Gerätedienst sei Dank.
Das ist der schlimmste Dienst von allen!
Ich musste mich mit Aidan und Mauro um die Geräte in der Trainingshalle kümmern. Eine stumpfsinnige und langweilige Arbeit. Doch Godmother hatte das festgelegt, Protest war sinnlos.
Jedes Einzelteil musste gereinigt und eingeölt werden. Es gab Tausende davon! Und weil das Öl so knapp ist, achtete Godmother auf jede Bewegung von uns. Kein Tropfen durfte falsch eingesetzt werden.
Doch auch der schlimmste Dienst findet ein Ende, und heute ist wieder der zehnte Tag.
Ich sitze als Erste in der Kantine und warte auf das Frühstück. Ich bin so gespannt, wie Dads Film aus seinem Godland aussehen wird!
Noch schwirren mir Godmothers Kommentare aus der Trainingshalle im Kopf herum. Jeden klugen Ratschlag von ihr haben wir bestimmt ein Dutzend Mal gehört – pro Stunde, Tag für Tag.
»Yolanda, das Öl nicht so dick auftragen.«
»Mauro, die Schrauben sind zu locker! Noch eineinhalb Drehungen.«
»Aidan, das Display ist noch nicht sauber genug.«
Wenn ich hier in der Kantine daran denke, bin ich einfach nur froh, dass es vorbei ist. Den nächsten Gerätedienst macht das untere Deck.
Ich studiere den Arbeitsplan für den nächsten Tag auf dem Monitor. Da steht Putzdienst in den Waschräumen für mich an. Nicht schlimm. Alles ist besser, als zwanzig Trainingsgeräte zu zerlegen, einzuölen und wieder zusammenzubauen.
Ich gehe die Liste weiter durch. Mauro und Aidan müssen die Schlafkojen ausbessern. Zu dritt hätten wir nicht reingepasst in die kleinen Zellen, und die Teams wechseln sowieso immer.
Godmother hat ausgerechnet, dass wir so effektiver sind, also besser und schneller arbeiten. Nur bei den Brüdern haben die Zahlen etwas anderes gesagt: Zusammen sind Mauro und Aidan unschlagbar. Obwohl sie dauernd streiten. Wenn es darauf ankommt, reißen sie sich zusammen. Ihre Statistik bei der Teamarbeit ist konkurrenzlos gut.
Jeden Abend sehen wir die Tabellen von Godmother auf dem Kantinenmonitor. Welches Team ist besonders effizient, macht nicht zu viele Pausen und kaum Fehler? Dann folgt Godmothers Vortrag: Wer kann sich verbessern und vor allem: wie?
Aber wer hilft mir morgen beim Putzdienst? Ich gehe die Liste weiter durch und atme auf. Tian!
Darauf freue ich mich. Er wirkt in letzter Zeit so, als wäre er mit dem Kopf immer woanders. Liegt es an Silver? Ist er in Gedanken nur bei ihr? Spiele ich für ihn etwa keine Rolle mehr? Und für Silver? Ich meine, die beiden können ja zusammen sein, aber ich bin auch noch da!
Oder hat es etwas mit der geheimen Botschaft vom Wartungsdeck zu tun? Die hatte ich selbst fast vergessen. Aber vielleicht geht sie Tian noch nach? Hat er damals auf dem Freideck nur so getan, als ob ihn diese Wörter überhaupt nicht interessieren?
Godland ist ein Fake. Seid bereit.
Silver wird sicher mehr wissen als ich. Sie hat seither zig Stunden mit ihm dort oben verbracht, während ich zwei Tage im Godland-Schlaf unter Narkose vor mich hindämmerte und danach Tag für Tag Schrauben sortierte.
Godmother ließ mich mit Mauro und Aidan so viele Überstunden machen, dass ich Tian und Silver kaum sehen konnte. Und beim Essen war ich viel zu müde, um große Reden zu schwingen.
Ich sitze immer noch allein am langen Kantinentisch. Mary und Conrad stellen Tassen und Teller vor mich hin. Ich will helfen, doch Mary drückt mich wieder auf den Sitz und lächelt. »Das ist nicht dein Dienst. Und heute ist der zehnte Tag! Du hast frei.«
Godmother hat mich ein paar Minuten früher eintreten lassen. Das war sehr nett. Sie weiß, wie aufgeregt ich wegen Dads Godland-Besuch bin.
Er ist der zweite von uns, der dort sein durfte. Bei mir war es ein riesiger Aufwand. Doch die Tests waren erfolgreich, Godmother konnte »den Prozess optimieren«.
So hat sie es ausgedrückt.
Sie konnte nicht wissen, wie Godland auf uns wirkt, deswegen fand mein Upload quasi in Zeitlupe statt. Und die Rückreise in meinen Körper ebenso.
»Da durften keine Fehler geschehen«, hatte Godmother hinzugefügt. Und wer würde ihr da widersprechen? Ich garantiert nicht.
Ich wollte fehlerfrei zurückkehren auf die Serverinsel.
Wer jetzt godline geht, der steht früh auf und läuft mit leerem Magen ins Kontrollzentrum zu Emre oder Josie. Es reicht nun, wenn einer von beiden dabei ist.
Nach dem Upload wartet das Frühstück in der Kantine und der Film für alle! Keiner muss mehr tagelang so wie ich im Bett liegen.
Egal wie Dads Besuch ablief – Hauptsache, er fühlt sich jetzt wieder besser. Deprimiert in der Schlafkoje zu liegen ist auf Dauer keine Lösung. Da wird er nur noch trauriger.
Josie kommt durch die Schleuse und setzt sich neben mich. »Deinem Dad geht es prächtig!«
Godmother legt die Sitzordnung fest. Sie mag es nicht, wenn immer die gleichen Leute zusammen sitzen. Wir bekommen jedes Mal einen anderen Platz zugewiesen. So bleiben wir alle im Gespräch miteinander, und keiner fühlt sich ausgeschlossen.
»Was geträumt?«, fragt Josie.
Ich schüttele den Kopf.
Conrad stellt sich mit dem Kaffee zu uns. Er hält die Kanne in eine der Kameras. »Darf ich schon?«
»Du darfst«, sagt Godmother.
Es ist fünf vor sechs. Eigentlich müsste Conrad warten, bis es Punkt sechs Uhr ist. Ausschlafen dürfen wir auch am zehnten Tag nicht.
Mein Becher ist noch nicht voll, da umschließe ich ihn schon mit meinen Händen. Sie werden sofort warm.
Josie nippt wortlos an ihrem Kaffee.
Conrad küsst Mary auf die Stirn, und beide verschwinden wieder in der Küche. In fünf Minuten muss alles fertig sein für das Frühstück. Ich blicke ihnen nach.
Die beiden werden Godland als Nächstes besuchen.
Die anderen Analogen kommen Punkt sechs Uhr durch die Schleuse. Silver setzt sich neben mich und drückt meine vom Kaffeebecher aufgewärmten Hände.
»Silver, bitte nimm einen anderen Platz«, sagt Godmother.
Stimmt, Silver saß gestern beim Abendessen schon neben mir.
Alle bis auf meinen Vater sitzen am Tisch und essen ihr Frühstück. Vielleicht ruht er sich noch von seinem Besuch in Godland aus? Wer weiß, was er dort erlebt hat.
Lange muss ich darüber nicht nachdenken, Godmother zeigt es uns. Die Liste der Aufgaben verschwindet vom Wandmonitor, und Dads Film beginnt.
Ich finde es schade, dass er nicht hier ist. Es ist seltsam, das ohne ihn zu sehen.
Ich erkenne in Dads Godland unsere alte Wohnung. Von ihr hat mir mein Vater später auf der Serverinsel berichtet, ich selbst erinnere mich an so gut wie nichts mehr aus dieser Zeit. Es muss einige Jahre vor der Flucht gewesen sein. Die Bücher stehen noch in den Regalen, die Fenster sind heil. Bei den Unruhen gingen sie zu Bruch, Steine zerschlugen die Scheiben.
Meine Eltern haben alles in Kisten gepackt. Wir schliefen im Keller. Doch als die Sirenen Tag und Nacht heulten, mussten wir fliehen.
Fast alles blieb zurück. Bis auf das wenige, das in die Rucksäcke passte. Die Straßen waren verstopft, da ging nichts mehr. Alle wollten mit ihren vollgepackten Autos raus aus der Stadt. Es gab kilometerlange Staus.
Also liefen wir zu Fuß. Jeder trug einen Rucksack, in meinen passten nur zwei Kuscheltiere. Mehr konnte ich nicht mitnehmen.
Als wir abends auf einem Hügel ankamen, blickten wir auf die Stadt. Doch wir sahen nur Flammen und Rauch. Ein Feuer hatte sich ausgebreitet, die Feuerwehr kam nicht mehr durch die Straßen. Die Fluchtautos verstopften alles.
Dads Godland in unserer Wohnung spielt etwa zwei Jahre vor dieser Katastrophe. Vielleicht war ich drei Jahre alt?
Ich bin ein kleines Mädchen in Dads Film und springe auf das Sofa.
»Wie süß!«, ruft Josie.
Mein Vater ist so jung und schlank. Er spielt mit mir ein Kartenspiel, das ich nicht kenne.
»Mau-Mau!«, ruft Emre und schaut zu seinen Söhnen. »Kennt ihr das noch?«
Aidan und Mauro antworten nicht. Sie konzentrieren sich auf den Film.
»Stimmt«, sagt Josie. »Das haben wir oft mit euch gespielt.«
Unser Kartenspiel blieb wie fast alles zurück. Meine Eltern packten nur das ein, was wir zum Überleben brauchten. Für mich zählten offenbar die zwei Kuscheltiere dazu.
Meine Eltern schleppten auf ihren Rücken Wasser, Essen, Kleidung und Medikamente.
In Dads Godland sitze ich mit ihm auf dem Sofa. Kissen liegen überall. Wie gern wäre ich jetzt dort! Es sieht so bequem und gemütlich aus.
Wir in der Kantine können das Sofa nur sehen, doch Dad hat das weiche Polster bei seinem Besuch gefühlt. Er konnte Dinge spüren und schmecken und riechen.
»Ätsch! Mau-Mau«, rufe ich im Film.
Dad küsst mich und streicht mir über die Haare. »Glückwunsch! Du hast schon wieder gewonnen, mein Schatz.«
»Gewonnen, gewonnen«, wiederhole ich glucksend mit meiner Kinderstimme.
Dad dreht sich zum Flur, die Tür des Wohnzimmers steht offen. »Wir sind fertig!«, ruft er. »Bist du auch so weit? Kann’s losgehen?«
Mit wem spricht er?
Aus einem anderen Raum antwortet jemand. »Ja, gleich. Machst du die Kerzen an?«
Ich spüre einen Stich in meiner Brust und hole tief Luft. Die Frauenstimme kann nur von einer Person sein.
Tian rutscht mit dem Stuhl näher zu mir. »Deine Mutter?«
»Ich glaube schon«, flüstere ich.
Wer könnte es sonst sein?
Silver steht von ihrem Platz am anderen Ende auf und kommt zu uns. Godmother lässt das zu.
Silver bleibt hinter Tian und mir stehen, legt einen Arm um meine Schultern, den anderen auf Tians Rücken. Tian drückt die Hand mit den vier Fingern auf meine. Wir drei sind quasi miteinander verbunden. Das fühlt sich gut an. Die zwei haben mich doch nicht vergessen. Ich gehöre dazu.
Dad blickt in seinem Godland auf den roten Teppich im Wohnzimmer. Darauf liegt ein Backblech mit einem riesigen Kuchen.
»Schokolade«, sagt Mauro.
»Mit Nuss offenbar«, ergänzt Conrad und zeigt auf ein paar Stellen am Monitor. »Dort, seht ihr? Das sind Walnüsse!«
Vor ein paar Jahren konnten wir auf der Serverinsel noch backen. Manche Schiffe brachten Mehl und Hefe, sogar Zucker. Aber Walnüsse hatten wir hier noch nie.
Im Film sind kleine Teller, Löffel und Gläser um das Blech herum verteilt. Dad steht vom Sofa auf. Er zündet einen fingerdicken Stab an, und der fängt an zu leuchten und zu flackern.
»Was ist das?«, fragt Silver.
»Eine Kerze«, sagt Mary.
»Stimmt«, sagt Silver, und es klingt, als hätte sie ein längst vergessenes Wort wiederentdeckt.
Auch Dad hat mir von Kerzen erzählt. Auf der Serverinsel sind sie streng verboten. Die Brandgefahr ist zu groß. Es gibt auch keine Feuerzeuge, Streichhölzer, Gasflammen, nichts. In der Küche steht ein Elektroherd. Nur auf dem Wartungsdeck gibt es echtes Feuer – bei der Metallschmelze und der Müllverbrennung.
Dad steckt die Kerze auf den Kuchen und zündet noch zwei weitere an.
Conrad lächelt mir zu. »Yolanda, du hast da Geburtstag!«
»Kommt ihr?«, ruft meine Mutter von nebenan.
Dad hebt mich vom Boden hoch, wirbelt mich einmal herum und trägt mich kopfüber aus dem Wohnzimmer.
Ich lache und versuche, mit den Händen den Boden zu berühren. Mein Vater trägt mich zu der Stimme vom Raum nebenan.
Silvers Hand drückt etwas stärker auf meinen Rücken. »Schaffst du das ?«
»Denke schon«, sage ich.
Wissen kann ich es nicht.
Mein Herz schlägt schneller.
Gleich werde ich wieder meine Mutter sehen.
Ob sie so aussieht wie in meiner Erinnerung? So, wie sie in meinem Godland ausgesehen hat? Oder sieht sie für Dad anders aus? Es ist sein Godland, und er entscheidet.
Dad trägt mich durch einen mit Büchern vollgestellten Gang ins Schlafzimmer. Meine Mutter sitzt auf dem Bett und lehnt sich an die Wand.
Sie ist so hübsch wie in meiner Erinnerung. Nur sieht sie etwas müde aus. Wieso liegt sie im Bett? Ist sie krank? Das kann nicht sein. Sie wirkt doch so glücklich!
»Da seid ihr beide ja«, sagt meine Mutter. »Holt ihr uns zum Kuchenessen ab?«
Uns?
Da entdecke ich das Baby in ihren Armen. Das winzige Ding hat einen Milchbart. Meine Mutter knöpft ihre Bluse zu. Sie hat das Baby gestillt.
»Schau mal, Yolanda«, sagt meine Mutter. »Dein Bruder ist beim Trinken eingeschlafen.«
Mein Vater schmunzelt. »Der verschläft deinen Geburtstag! So ein unhöflicher Bruder.«
»Ja«, gluckse ich, noch immer kopfüber baumelnd, »unhöflicher Bruder.«