Alle sprechen in der Kantine durcheinander. Niemand wusste etwas von meinem Bruder. Doch für keinen von ihnen hat das so eine Bedeutung wie für mich.

Wo ist mein Bruder jetzt?

Bei der Flucht auf dem Schiff war er nicht. Da erinnere ich mich an einige Kinder, aber an keinen Bruder!

Meine Familie bestand an Bord nur aus meinen Eltern und mir. Da bin ich sicher. Was ist mit dem kleinen Jungen passiert?

Und wieso kann ich mich nicht an ihn erinnern? Hat er nur so kurz bei uns gelebt?

Silver umarmt mich. Ich suche nach Worten, und als ich endlich etwas gefunden habe, bekomme ich es nicht heraus. Mir steckt ein Kloß im Hals.

»Dein Dad ist ja immer ziemlich verschlossen«, sagt Silver.

Ich schluchze, und die ersten Tränen kullern über meine Backen.

Silver drückt mich fester an sich. »Er wird dir sicher bald alles erklären.«

Ich wische mir die Tränen mit dem Handgelenk weg. Erst muss ich mal tief Luft holen. Sprechen kann ich noch nicht.

Aber dann hätte mein Bruder doch auch in meinem Godland sein können! Dort tauchen auch Erinnerungen auf, die im Verborgenen liegen. Der Wald mit dem märchenhaften Dorf, Muriel, die geheimnisvolle Heilerin, solche Dinge eben.

Wenn ich das nächste Mal in Godland bin, dann habe ich mehr Zeit. Viel mehr Zeit. Genauer gesagt: ewig. Und dann werden auch mein Bruder da sein, meine Mutter, mein Vater. Wir werden wieder zusammen sein.

Dann fällt mir ein, dass mein Bruder auch viel früher gestorben sein kann, zum Beispiel bei der Geburt. Es muss diesen Geburtstag im Wohnzimmer mit Kuchen und Kerzen ja nie wirklich gegeben haben. Mein Vater hat sich vielleicht nur vorgestellt, wie schön so eine kleine Party gewesen wäre.

Oder es gibt diesen Bruder überhaupt nicht. Hat sich Dad womöglich immer ein zweites Kind und einen Sohn gewünscht, und deswegen taucht das Baby für ihn in seinem Godland auf?

Dieser Gedanke verwirrt mich total. Natürlich kann es so gewesen sein. Wieso kommen die anderen in der Kantine nicht darauf? Es ist doch so naheliegend: Diese Familie im Wohnzimmer ist nur ein Wunsch meines Vaters.

Dad sehnt sich nach einem Alltag mit Familie, danach, dass wir alle zusammen glücklich sind. Und diese Sehnsucht hat Godmother genutzt und noch fix einen Sohn in sein Godland eingebaut.

Das alles macht mich total ratlos. Was war früher so wie in

Mir wird schlecht und etwas schwindlig.

Dads Film endet.

»Yolanda!«, sagt Godmother mit scharfer Stimme. Ich schrecke hoch. »Trink etwas. Iss etwas.«

Sie hat recht, ich bin die Einzige, die noch nichts gegessen oder getrunken hat. Selbst den Becher mit Kaffee habe ich nicht angerührt. Ich habe ihn nur als Wärmequelle für meine Hände genutzt.

Ich trinke den Becher in wenigen Zügen aus.

»Und jetzt iss etwas!«

Der Trockenfisch schmeckt wieder viel zu salzig.

»Silver!«, sagt Godmother noch immer sehr streng.

»Ja, Godmother.«

»Bring Yolanda nach dem Essen zu ihrem Vater. Sie müssen miteinander reden.«

Allerdings, das müssen wir. Nur wird er mich nicht reinlassen.

Silver hält auf dem Weg zu Dads Schlafkoje meine Hand. »Vergleiche mal dein Godland mit dem Godland deines Vaters. Ist dir was aufgefallen?«

Ich denke über ihre Frage nach, doch ich kann nicht sprechen. Meine Kehle fühlt sich immer noch an wie zugeschnürt. Also drücke ich Silvers Hand und nicke ihr zu. Sie soll weiterreden.

»Dein Dad will in Godland zurück ins alte Leben. Der macht eine Zeitreise in die Vergangenheit.«

Silver überlegt, entdeckt etwas in meinem Gesicht und reibt mit ihrem Ärmel die schon fast getrockneten Tränen weg. »Du

Sie ist mit meinem Gesicht fertig, lässt meine Hand los und schaut auf den Boden. »So wird es auch bei meinem Besuch sein. Wahrscheinlich ist das normal. Die Alten blicken zurück, wir Jungen nach vorn.«

Ich bekomme nichts raus, so gern ich auch etwas sagen möchte.

»Ein interessanter Gedanke«, sagt Godmother. »Bringe jetzt Yolanda zu ihrem Vater. Sie müssen miteinander reden.«

Godmother will keine langen Diskussionen. Das will sie nie. Für das Denken ist sie zuständig. Wir Analogen sollen Aufgaben erledigen, Befehle befolgen.

Trotzdem denke ich natürlich dauernd nach. Das kann ich nicht abschalten.

Was Silver gesagt hat, stimmt zwar, aber es gibt dennoch eine Gemeinsamkeit bei den Godlands von meinem Vater und mir: Wir haben uns eine Welt vorgestellt, die von den Klimakriegen nicht verwüstet wurde.

Und: Keiner von uns beiden hat sich etwas total Verrücktes gewünscht. Wir hatten in unseren Godlands keine Superkräfte, konnten keine Laserblitze schießen oder fremde Planeten erforschen. Wir wollten einfach nur eine heile Welt.

Okay, das wird sich vermutlich ändern, wenn Mauro und Aidan dran sind. Dann werden wir andere Godlands sehen. Die beiden werden sich irgendwas Verrücktes ausdenken. Und Silver hat eine große Phantasie. Da bin ich auch gespannt.

Silver schweigt, bis wir die Stahltür von Dads Koje erreichen. Sie lässt meine Hand los. »Bereit?«

Hoffentlich kann ich bei meinem Vater wieder sprechen.

»Aber mich!«, sagt Silver.

Sie will den Finger auf die Sprechanlage drücken, da zischt die Tür auf.

Dad schreckt von seinem Bett hoch. Er hat die Tür nicht aufgemacht. Es war Godmother.

Silver schiebt mich in die Koje, und drei Sekunden später sind Dad und ich allein in dem winzigen Raum.

Dad schaut auf den Boden, als würde er die Rostflecken zählen.

Ich setze mich zu ihm auf das Bett. Ich muss ihm nur diese eine Frage stellen und hole Luft. »Dad, hatte … also … hatte ich wirklich einen Bruder?«

Mein Vater spricht leise, blickt dabei immer noch auf den Metallboden. »Ich wollte nicht, dass du …«

»Dad«, unterbreche ich ihn. »Mein Bruder! Gab es den in echt? Oder nur in deinen Gedanken, in Godland?«

Dad reibt sich die Stirn. Kopfschmerzen vermutlich. Auch wenn der Besuch in Godland jetzt nicht mehr tagelang braucht, die Nebenwirkungen scheint es immer noch zu geben.

»Dad! Ist mein Bruder echt?«

Mein Vater nickt langsam, unfähig, mit mir darüber zu sprechen.

»Und was ist passiert?«

Dad starrt an die Decke, als könnte er dort oben die Antwort ablesen. Das wäre leichter, ich weiß. Aber an der Decke steht für ihn kein Text, dort sind nur Godmothers Augen.

»Godmother.«

Mein Vater richtet sich auf. »Der Kopf tut höllisch weh. Frische Luft wird mir helfen. Können Yolanda und ich auf das Freideck?«

»Das halte ich jetzt für keine gute Idee. Dir geht es zu schlecht.«

Dad presst die Lippen zusammen und nickt. Was immer er mir jetzt erzählen wird, es ist vermutlich nicht die ganze Wahrheit. Die hätte es nur draußen gegeben – wo Godmother schlecht hört und sieht.

Aus den Ritzen an der Wand strömt plötzlich kühle Luft. Sie riecht abgestanden. Ich bekomme Gänsehaut.

»Besser so?«, fragt Godmother.

»Danke«, sagt mein Vater.

Endlich schaut er mich an.

Seine Augen sind so rot und geschwollen, als hätte er seit seinem Besuch in Godland nur geweint. Vielleicht war es auch so.

Ich lege meine Hände auf seine, er öffnet sie, und unsere Finger schließen sich zu einem festen Griff zusammen.

»Kurz nach deinem dritten Geburtstag … da ist dein Bruder schwer erkrankt …«

»Woran?«

Dads Lippen zittern, und ich muss ihn jetzt einfach umarmen. Er lässt die Tränen laufen, Godmother spricht weiter: »Umweltgifte. Schon vor den Klimakriegen verursachten sie oft schwere Krankheiten bei Neugeborenen. Das Trinkwasser war verschmutzt, die Luft ebenso.«

Verschmutzt.

Ich sehe meinen kleinen Bruder, wie er an der Brust meiner

Dad bringt immer noch nichts heraus, und Godmother spricht weiter. »Die Umweltgifte waren überall. Das analoge Leben wurde immer gefährlicher. Viele ließen sich deswegen mit der ganzen Familie hochladen. Nur in Godland ist ein gesundes Leben möglich.«

Dad löst seine Hände von meinen. »Für die Reichen, ja. Godland ist sehr teuer, Godmother.«

Seine vorwurfsvolle Stimme nimmt sie natürlich wahr. »Ach, Jesper. Wir haben schon oft darüber gesprochen.«

Schon oft? Mein Vater hat mit mir noch nie über all das geredet. Ich bin ziemlich enttäuscht, dass er so große Geheimnisse vor mir hat.

Anderseits geht es uns doch allen wie ihm. Jeder führt seine eigenen Gespräche mit Godmother, und das Wenigste davon bekommen die anderen mit. Manches will man nur mit Godmother regeln und nicht mit den Analogen. So komisch das sein mag.

Dad betrachtet schon wieder die Rostflecken am Boden. »Ich weiß, Godmother«, sagt er. »Fortschritt hat seinen Preis.«

Es klingt wie auswendig gelernt und aufgesagt. Wieso gibt er sich nicht mehr Mühe? Will er Streit?

Fortschritt hat seinen Preis.

Ich muss über diesen Satz nachdenken.

Meine Eltern konnten sich diesen Fortschritt nicht leisten. Sie hatten kein Geld, meinen Bruder vor seinem Tod hochzuladen. Aber was hätte er auch allein in Godland gemacht? Er war doch noch so klein.

Vielleicht wäre mein Bruder in Godland kein Baby mehr

Fortschritt hat seinen Preis.

Oder würde mein Bruder uns in seinem Godland als Schwester, Vater und Mutter sehen – also nicht in echt, sondern als identisch aussehende Kopien? Dann hätte er quasi gar nicht gemerkt, dass er in einem Superrechner weiterlebt.

Ich muss an Finn denken. Seine Eltern hatten das Geld für seinen Upload. Doch sind sie ihm später nach Godland gefolgt? Lebt er mit ihnen zusammen in einer der Waldhütten? Ich habe ihn ja gar nicht richtig kennengelernt.

Je mehr ich mir darüber Gedanken mache, desto weniger kann ich mir alles vorstellen. Godland ist so schwer zu verstehen. Daran hat mein Besuch nichts geändert.

»Ja, Jesper«, sagt Godmother nach einer langen Pause. »Fortschritt hat seinen Preis.«

»Einen zu hohen Preis«, sagt Dad. Er will also doch diskutieren.

»Jesper! Die Entwicklung von Godland hat viele Menschen Milliarden gekostet. Dich kostet Godland nichts!«

»Nur zwanzig Dienstjahre«, ergänzt mein Vater spöttisch.

Was ist los mit ihm? Er hat doch Godland gesehen, wie schön und realistisch es sich anfühlt. Ist das nicht die ganze Arbeit wert?

»Zwanzig Jahre sind nichts im Vergleich zur Ewigkeit, die dir Godland schenkt.«

»Trotzdem ist es falsch«, sagt Dad.

Ich komme nicht mehr mit. Was ist jetzt falsch? Hochgeladen zu werden, obwohl man kein Geld hat? Deswegen dafür arbeiten zu müssen? Das ist doch unsere einzige Chance!

»Godland ist nicht falsch«, sagt Godmother. »Godland ist realer als das echte Leben.«

»Stimmt«, sagt Dad zornig. »Godland war bei meinem Besuch realer als das echte Leben. So ist das für die Hochgeladenen.« Er kratzt sich an der Stirn. »Aber davon hat mein Sohn auch nichts mehr. Er ist und bleibt tot.«

Ich drücke mich etwas näher an ihn. Unsere Arme berühren sich. Aber er versteht diese Geheimsprache nicht. Sie funktioniert nur zwischen Silver und mir.

Dads Wut kann ich mitfühlen. Meine Mutter und mein Bruder bleiben tot, sie werden nicht in Godland zum Leben erweckt. Dort leben nur die Kopien von ihnen. Und die formt unsere Erinnerung. Sie sind dort so, wie wir es wollen, nicht wie sie wirklich wären.

»Jesper, jetzt hör einmal gut zu«, sagt Godmother. Sie klingt nicht zornig, sondern sehr sachlich. Es ist ihre Lehrerinnenstimme, an die erinnere ich mich noch sehr gut.

»Vor langer Zeit sind Menschen an einfachen Krankheiten gestorben.«

»Und?«, fragt Dad.

»Wirksame Medizin oder Impfungen gab es noch nicht. Sie mussten erst erfunden werden. So ist der Verlauf der Geschichte.«

»Der Verlauf der Geschichte?«, fragt Dad. Er klingt verwirrt.

»Ja, deswegen darfst du nicht wütend sein«, sagt sie.

Ich ahne, worauf sie hinauswill. So wie mit dieser Medizin, ist es ihrer Meinung nach mit Godland.

Dad rebelliert. »Aber auch damals haben zuerst die Reichen Medizin bekommen! Die Armen mussten weiter sterben.«

»Die Reichen haben den Upload entwickelt, ihn erst möglich gemacht mit ihrem Einsatz.« Sie hat weiterhin ihre Lehrerinnenstimme. »Sie haben Milliarden für die Forschung ausgegeben. Sie haben ein Recht darauf, zuerst von Godland zu profitieren.«

Dad schüttelt den Kopf. »Das ist ungerecht.«

Ich verstehe meinen Vater immer mehr und möchte mich einmischen. Wer arm ist oder auf der Flucht, so wie wir es waren, der hatte doch keine Chance.

»Yolanda!«

»Ja, Godmother.«

»Dein Vater braucht Ruhe.«

»Aber was er sagt, das ist …«

»Dein Vater braucht Ruhe.«

»Ich will doch nur …«

»Dein Vater braucht Ruhe.«

Dad nickt und steht auf, er küsst mich auf die Stirn, dann reicht er mir beide Hände. Ich greife zu, und er zieht mich hoch.

Bevor ich gehe, will ich ihm noch etwas sagen. Und dagegen wird Godmother sicher nichts haben. »Egal, wie ungerecht Godland ist, immerhin dürfen wir irgendwann dorthin.«

»Ich weiß«, sagt Dad. »Mach dir keine Sorgen um mich.« Die Sätze spricht er langsam in eine der Kameras. Er sagt es zu Godmother, nicht zu mir.

Das hoffe ich zumindest.

Den Rest meines freien Tages verbringe ich heulend in meiner Koje.

Unfassbar.

Ich hatte einen Bruder.